15
Berlin-Kreuzberg
Sonntag, 7:20 Uhr
Nina schreckte hoch. Sie hatte Franziska gesehen. Wie sie durch die Luft flog. Nein, sie hatte durch Franziskas Augen gesehen. Nina war in ihrem Traum Franziska gewesen. Es hatte sich echt angefühlt. Das Auto. Der Schlag gegen den Rumpf. Der Flug. Der Aufprall auf dem Asphalt. Er hatte sie geweckt. Nina musste sich orientieren. Sie saß auf dem bequemen Sofa in Tims Dachgeschoss, wo sie eingeschlafen sein musste. Da in den Streams nichts mehr passiert war, hatte sie sich nur einen Moment lang ausruhen wollen. Ein Blick auf die Uhr in der Küche verriet ihr, dass es schon nach sieben war. Sie hatte mehrere Stunden geschlafen. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Was hatte sie verpasst?
Ein Blick durch den Raum beruhigte sie. Mel lag am anderen Ende des Sofas und schlief. Kemal saß mit einer Dose Red Bull vor den Monitoren. Er arbeitete an einem der kleineren, während er den großen mit den Streams im Auge behielt. Nina sah schon aus der Ferne, dass die Probanden nach wie vor die Augen geschlossen hatten.
Wo war Tim? War er immer noch nicht von seiner Erkundung zurückgekommen?
Nina richtete sich auf, streckte sich. Sie spürte einen Muskelkater. Vom Joggen konnte der nicht stammen, denn das tat sie regelmäßig. Wahrscheinlich war sie am Abend wieder viel zu angespannt gewesen. Kemal schaute zu ihr herüber. Er nickte ihr lächelnd zu.
»Wo ist Tim?«, flüsterte Nina.
»Ich glaube, er schläft«, antwortete Kemal und zeigte in Richtung der Räume, die Nina noch nicht kannte.
Also stand sie auf und ging noch etwas benommen zum Bad. Irgendwo hörte sie Wasser rauschen, dachte sich aber nichts dabei. Als sie die Tür öffnete, stand sie zwei Meter entfernt von dem nackten Tim. Er stand mit dem Rücken zu ihr unter der offenen Dusche und präsentierte seinen knackigen Po, über den Wasser und Schaum liefen. Die noch halb schlafende Nina war so perplex, dass sie für einen Moment nicht die Augen davon abwenden konnte.
»Willst du dazukommen?«, hörte sie Tims Stimme.
Er hatte sie entdeckt und grinste sie unverschämt an.
»Was? Nein! Sorry.«
»Du wirktest so interessiert.«
Er lachte, während sie schnell die Tür schloss. Kemal hatte Tim gehört.
»Ist er im Bad?«, fragte er peinlich berührt.
»Ja, er ist im Bad«, antwortete Nina genervt.
»Das hab ich nicht mitbekommen.«
Er schaute Nina schuldbewusst an, die abwinkte. Hinter der Tür stoppte das Geräusch des Wassers. Nina
wusste nicht, wohin mit sich. Da öffnete sich schon die Tür. Tim hatte sich ein Handtuch um die Hüfte gebunden und trocknete sich mit einem weiteren ab. Er tropfte den Boden voll, aber hatte beste Laune.
»Du kannst rein«, sagte er.
»Nein, hat Zeit. Mach erst mal!«
Sie mochte ihn nicht anschauen. Warum brachte er sie so aus dem Konzept? Ein nackter Mann war ja nun wirklich kein Weltwunder. Auch wenn sie schon lange keinen mehr gesehen hatte. Noch dazu mit solch einem wunderbaren Po. Sein freier Oberkörper mit den definierten Armmuskeln war auch nicht so schlecht. Trotz des kleinen Bäuchleins, das Nina eigentlich ebenfalls sexy fand. Oh Gott, was machte sie? Wieso starrte sie ihn schon wieder an? Das musste am Schlafmangel liegen.
»Hast du den Maulwurf gesehen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
Tim musterte sie noch ein bisschen länger. Hatte er mitbekommen, wie sie ihn mit ihren Blicken taxiert hatte? Er sagte nichts dazu, sondern wurde professionell ruhig.
»Ich denke schon. Kemal, zeig mal.«
Er ging zu Kemal, der auf einem der kleinen Monitore eine Personalakte aufrief. Ein junger Mann, schwarze Haare, mit buschigen Augenbrauen und markantem Kinn. Muskulös, konzentrierter Blick aus eisgrauen Augen.
»Matthias Fischer, einunddreißig, seit drei Jahren im SEK«, erklärte Tim, während er sich die Haare trocken rubbelte. »Er saß im Dunkeln an einem Computer,
obwohl er nicht Dienst hatte. Das kann natürlich alles Mögliche heißen, aber …«
Er verstummte. Er war sicher, dass er seinen Mann gefunden hatte.
»Kennst du ihn?«
»Nein«, sagte Tim. »Vielleicht ein- oder zweimal gesehen. Wir sind die Personalakten durchgegangen, bis ich ihn wiedererkannt habe. Und Kemal sucht seit Stunden nach irgendeiner Verbindung zu GEM.«
Er deutete auf den anderen Bildschirm, wo diverse Internetbrowser mit Berichten über GEM oder das SEK zu sehen waren. Nina schaute Kemal fragend an, der mit den Schultern zuckte.
»Man findet sehr wenig über ihn. Auffallend wenig. Natürlich sind die Leute vom SEK nicht scharf drauf, dass man sie im Internet findet, aber er hat nicht mal eine Facebook-Seite oder so was. Zu ihm und GEM finde ich erst recht nichts.«
»Vielleicht doch der Falsche«, spekulierte Nina.
Tim schüttelte den Kopf. Er war nun einigermaßen trocken und legte sich das zweite Handtuch um den Hals.
»Kaffee?«, fragte er Nina und machte sich auf den Weg in die Küche.
Sie schaute auf seinen muskulösen Rücken und wünschte sich insgeheim, dass er etwas anzog. Ein Kaffee würde ihr helfen, endlich in die Gänge zu kommen.
»Gerne«, sagte sie, während sie gedankenverloren auf die Streams schaute.
Als plötzlich ein Bild zu sehen war, erschrak sie. Der Taxifahrer hatte ruckartig die Augen geöffnet. Er blickte
zur Seite, wo ein Wecker ins Bild kam. Punkt 7 Uhr 30. Eine Hand schaltete ihn aus.
»Der ist wach!«, rief Nina aufgeregt.
Binnen Sekunden war Tim zurück bei Nina. Sogar Mel wachte auf, schüttelte sich und eilte zu ihnen. Man konnte das Schlafzimmer des Taxifahrers besser erkennen, weil es draußen bereits dämmerte. Der Mann blickte zu seiner Frau. Sie lag mittlerweile zu ihm gedreht und öffnete müde die Augen. Als ihr Blick den ihres Mannes traf, lächelte sie. Er sagte etwas zu ihr, sie nickte und schloss wieder die Augen. Sie durfte weiterschlafen.
»Hast du das?«, fragte Tim. »Man konnte sie super erkennen.«
»Ja«, antwortete Kemal fast genervt, weil er sowieso die ganze Zeit alles aufzeichnete.
Aber natürlich: Es war das erste Mal, dass sie jemanden mehr oder weniger erkennen würden. Auch wenn es durch die Lichtverhältnisse kein besonders gutes Bild sein würde. Doch das war wenige Augenblicke später egal. Denn der Mann ging ins Bad, wo er diesmal das Licht einschaltete und sich sogar vor den Spiegel stellte, um sich kurz zu mustern und zu sammeln. Man sah ihn direkt von vorne und mehr oder weniger in Farbe. Die Gruppe vor dem Monitor jubelte. Tim zwinkerte Nina zu. Endlich hatten sie ein Gesicht. Kemal machte sofort ein Standbild auf dem anderen Monitor daraus, sodass er fast den Gang zur Toilette verpasste.
»Guck mal, Kemal«, sagte Mel schnell.
Der arme Kemal musste sich schon wieder einen Penis ansehen, der nun auch noch zu pinkeln begann. Er
stöhnte. Mel lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Sie war schon sehr viel wacher als Nina. Der kleine Erfolg ermunterte alle.
»Mal gucken, ob wir ihn aufgrund seines Gesichts finden«, sagte Kemal. »Dafür muss er bei uns im System sein.«
»Und wer ist im ›System‹?«, fragte Nina.
»Taxifahrer leider nicht«, erklärte Tim. »Kriminelle, Verdächtige, Kollegen. Wenn er nie etwas mit der Polizei zu tun hatte, wird er nicht zu finden sein.«
Er klang so, als ob er das bedauern würde.
»Ich geh auch noch über eine Fotosuche im Internet.«
Kemal hatte alle Hände voll zu tun. Doch er war nicht der Einzige. Die anderen beobachteten die weiteren Bilder des Taxifahrers genau. Sie alle waren nach den Stunden des Wartens erleichtert, dass endlich etwas geschah. Nach der Toilette und einer kurzen Gesichtswäsche ging der Mann in das Kinderzimmer, um sich seine Kinder anzuschauen. Die beiden Jungs im Alter von ungefähr sieben und neun schliefen noch tief und fest. Aber die Polizisten hatten zwei weitere Standbilder und ungefähre Altersangaben. Mel setzte sich an den dritten Monitor, um nach kurzen Anweisungen von Kemal im Internet nach der Frau und den Kindern zu suchen. Der Mann ging derweil in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Das erinnerte Tim daran, dass er dasselbe vorgehabt hatte. Ohne den Blick vom Stream zu nehmen, eilte er in die Küche und wollte endlich die Kaffeemaschine anwerfen. Doch genau in dem Moment tat sich etwas in einem anderen Stream
.
»Noch jemand«, rief Mel.
Nummer sechs öffnete die Augen. Es war der Stream, von dem Nina bisher am wenigsten mitbekommen hatte. Sie wusste nur, dass es eine Frau war. Als Franziska ihr den Stream zum ersten Mal gezeigt hatte, hatte die Probandin auf einem Sofa gesessen und ein Buch gelesen. Nina hatte nicht erkannt, welches es gewesen war. Nun sah man, dass die Frau Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Von draußen fielen in einem Spalt neben den hellen Vorhängen erste Sonnenstrahlen in das Schlafzimmer. Dieser Stream hatte ebenfalls Farbe und eine bessere Qualität als der des Taxifahrers. Der Blick der Frau ging zur Seite, wo ein Mann schlief. Er lag auf dem Bauch. Man sah nur seine lockigen, schwarzen Haare und die freie Schulter. Nina schaute neben sich, wo längst wieder Tim stand und mit der leeren Kaffeekanne in der Hand fasziniert auf den Bildschirm starrte. Auch Kemal und Mel hatten ihre Suche unterbrochen, um den Stream der Probandin zu beobachten, während sich der Taxifahrer in seiner Küche Brote schmierte. Die Frau war auf jeden Fall interessanter. Man sah nun, wie sie die Decke ihres Bettnachbars weiter herunterzog. Der Oberkörper wurde sichtbar. Schließlich der Po. Der Mann schlief nackt. Kemal stöhnte.
»Hier wird einem ja echt was geboten«, sagte Mel mit einem Grinsen.
Dabei war der Körper des schlafenden Mannes nicht halb so ansehnlich wie der von Tim. Doch darüber wollte Nina gar nicht weiter nachdenken. Die Frau in dem Stream dachte sowieso anders. Sie streichelte zärtlich
den Hintern ihres Bettgenossen. Im nächsten Moment bewegte sie sich näher heran und küsste ihn direkt auf eine Pobacke.
»Was wird ‘n das?«, fragte Kemal mit dem Ausdruck eines unguten Gefühls in der Stimme.
Tatsächlich wachte der Mann durch die Liebkosungen auf und drehte sich um.
»Und noch ein Penis!«, rief Mel erfreut.
Nachdem die Probandin diesen kurz gemustert hatte, schaute sie ihrem Partner ins Gesicht. Dort fand sie ein verschlafenes, aber auch listiges Lächeln. Ein netter Mann um die vierzig. Südländischer Typ mit funkelnden, dunklen Augen.
»Hast du ein Bild?«, fragte Tim schon wieder.
»Von dem Penis?«, fragte Kemal genervt zurück.
Natürlich hatte er ein Bild gemacht – vom Gesicht des Mannes. Keine Sekunde zu früh, denn bald sah man gar nichts mehr. Die beiden knutschten, und die Probandin zählte offensichtlich zu der Kategorie Menschen, die beim Küssen die Augen schlossen. Der Bann war kurz gebrochen. Tim entdeckte die Kaffeekanne in seiner Hand und reichte sie an Mel weiter.
»Kannst du mal Kaffee machen?«
»Och, Mensch, jetzt wird’s doch gerade interessant.«
»Ich mache«, sagte Kemal, stand auf und nahm sich die Kanne.
Er war noch nicht ganz in der Küche, als sich die Augen der Frau wieder öffneten. Sie küsste sich am Oberkörper ihres Typen entlang und steuerte auf seine Männlichkeit zu, die seit dem letzten Blick darauf deutlich gewachsen
war. Allmählich konnte Nina Kemal verstehen. Das war nun wirklich zu intim. Ihr innerer Widerstand gegen das ganze System MyView meldete sich. Als das Unvermeidliche geschah und die Probandin den Penis in den Mund nahm, wandte sich auch Nina ab.
»Brauchen wir das irgendwie für die Ermittlungen?«, fragte sie genervt.
Nina sah Kemal aus der Küche herüberschauen und gleich wieder erschrocken den Blick auf die Kaffeemaschine richten. Tim lachte.
»Nein, aber ich fürchte, wir können nicht weggucken. Da kann jederzeit ein Hinweis auftauchen.«
»Wenn meine Mutter rauskriegt, was ich hier mache, muss ich meinen Job wechseln«, fluchte Kemal in der Küche.
Alle schmunzelten.
»Melde mich freiwillig, diesen Stream im Auge zu behalten«, sagte Mel.
Sie grinste zwar, aber wirkte auch cool. Es ging ihr nicht um den Voyeurismus. Sie zog den Stream auf einen kleineren Bildschirm und setzte sich davor. Tim schaute zu Nina, die sich lieber auf den Taxifahrer konzentrierte. Der hatte sich nun an den Küchentisch gesetzt und genoss seinen Kaffee und die Brote. Viele Erkenntnisse gewann man bei ihm nicht.
»Ich geh mich kurz anziehen«, sagte Tim.
Er warf einen letzten Blick auf den erotischen Stream, wo Mann und Frau mittlerweile die Rollen tauschten. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt und schaute an ihrem eigenen Körper hinab, während der Mann ihre Brüste
mit Küssen bedeckte. Tim lachte noch einmal und ging davon. Kemal studierte in der Küche eifrig die Verpackung des Kaffees. Mel saß unbekümmert vor dem Stream.
»Ich könnte auch mal wieder Sex haben«, sagte sie aus tiefem Herzen seufzend.
»Können wir das Thema wechseln?«, rief Kemal aus der Küche.
Mel und Nina schmunzelten einander an. Nina verstand Mel zu gut. Außer einer belanglosen Affäre mit einem Kollegen aus der Augenklinik war seit der Zeit mit Christoph bei ihr nichts mehr passiert. Die Affäre lag auch schon ein Jahr zurück. Aber das war nun wirklich nicht das Thema des Tages. Als sich der Mann mit seinem Mund zwischen die Beine der Frau begab, richtete diese immerhin den Blick an die Decke. Dabei hatte sie kurz die Wand gestreift.
»Kann man das noch einmal sehen?«, rief Nina. »Kemal! Bitte! Da war was!«
Er stand widerwillig in der Küche, aber natürlich kam er zu ihnen. Ohne auf den Stream zu schauen, rief er auf dem anderen Monitor ein weiteres Fenster auf, mit dem man sich die Aufzeichnung anschauen konnte. Mittlerweile stapelten sich dort zahllose Fenster. Kemal fuhr zurück, hielt sich dabei halb die Augen zu, bis Nina »Stopp« rief. Man sah es nun genau: An der Wand hing das Plakat einer Theaterpremiere. Richard II.
im Berliner Ensemble.
»Berlin«, stellte Mel fest. »Sie ist auch in Berlin.«
»Das BE ist zwar über Berlin hinaus bekannt, aber die Chancen stehen gut«, bestätigte Nina
.
Da es ein sehr schlichtes Plakat war, hatte die Frau es offenbar nicht aus ästhetischen Gründen aufgehängt. Sie verband etwas mit der Aufführung.
»Dann sind die drei wahrscheinlich in Berlin«, stellte Kemal fest. »Nur beim Taxifahrer haben wir noch keinen Plan. Im System oder im Internet habe ich ihn bisher nicht gefunden.«
Er deutete auf den anderen Stream, wo der Mann nach wie vor alleine frühstückte.
»Der geht bald zur Arbeit«, sagte Tim hinter ihnen.
Er war aus dem Schlafzimmer zurückgekehrt. Mit frischem Hemd und neuer Jeans. Nina beneidete ihn. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Jogginganzug eine unangenehme Dunstwolke ausstrahlte.
»Und wenn er das Haus verlässt«, fuhr Tim fort, »dann haben wir ihn.«