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Berlin-Tiergarten
Sonntag, 15:40 Uhr
Die Sonne stand bereits tief, als Nina auf dem Rücksitz eines Einsatzwagens nach Hause gefahren wurde. Die beiden Polizisten in Uniform kannten das Ziel schon, als sie in den Wagen stieg. Kurz hatte Nina überlegt, ob sie aus reinem Stolz mit der U-Bahn fahren sollte. Aber dafür hatte sie keine Kraft mehr. Außerdem hatte sie auch keine Jacke, und der eisige Wind, der ihr beim Verlassen des Hauses entgegengeweht hatte, ließ sie innerhalb von Sekunden am ganzen Leib zittern. Sie wollte endlich unter die verdammte Dusche.
Hatte sie sich deswegen nicht vehementer gewehrt, als Tim sie davonjagte? Natürlich hatte sie verstanden, warum er sie nicht mehr bei sich haben wollte. Er hatte Angst, dass sie ihm sein Kamikaze-Manöver ausreden würde. Das war der einzige Grund für ihren Rausschmiss. Im Grunde war der coole Cop auch nur ein unsicherer Junge ohne moralischen Kompass. In ihrer Hand hielt Nina längst wieder das Handy mit dem Stream von Charlotte. Dass nach wie vor kleine Flecken und Lichtblitze zu
sehen waren, beruhigte sie. Immer wieder ging sie in Gedanken das durch, was bei dem Anruf bei dem Radiosender schiefgelaufen war. Hätte sie nicht den Vorschlag mit dem Gewinnspiel gemacht, wäre alles vielleicht schneller gegangen. Am Ende waren es Sekunden gewesen. Genau wie bei Jonas, wo sie auch zu lange gezögert hatte. Vielleicht war es am Ende sogar besser, dass sie nicht mehr am Einsatz beteiligt war. Ihr verzweifelter Versuch, irgendetwas gut zu machen, machte alles nur schlimmer.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend«, sagte der Polizist auf dem Beifahrersitz.
Nina hatte nicht mitbekommen, dass sie bereits vor ihrem Haus am Karlsbad angekommen waren. Sie musste innerlich lachen. Wie sollte sie heute einen schönen Abend haben? Die beiden Beamten hatten wahrscheinlich überhaupt keinen Schimmer, was an diesem Tag alles passiert war. Sie dankte ihnen und stieg aus dem Wagen in die Kälte.
Als sie wenig später in ihre Wohnung kam, hörte sie sofort ihren Vater.
»Nina? Bist du das?«
»Ja, Papa.«
Er erschien in der Tür seines Zimmers, stand einfach da, den Kopf in ihre Richtung gewandt, und sagte nichts. Er war noch sauer, weil sie sich nicht um ihn gekümmert hatte. Weil sie in seiner Vorstellung bei einem Mann gewesen war und ihn angelogen hatte. Im Prinzip stimmte das sogar, aber nicht so, wie er dachte. Nina hatte keine Lust, sich nun auch noch mit ihrem Vater auseinanderzusetzen
.
»Ich muss duschen«, sagte sie nur.
Sie wollte ins Bad.
»Du riechst nach Rauch«, stellte er fest.
»Ich erzähl dir alles später.«
Sie huschte ins Bad und schloss schnell die Tür hinter sich. Mit dem Handy in der Hand lehnte sie sich an die Tür. Das taube Gefühl war wieder da. Ihr ständiger Begleiter in der letzten Zeit. Ein Gefühl, das sie irgendwann am Tag zuvor vergessen hatte. Auch wenn sie darüberstehen wollte: Sie sehnte sich nach dem Esstisch in Tims Wohnung. Nach der Anspannung. Dem gemeinsamen Kampf gegen das Böse. Nach Mel und Kemal. Ja, und auch nach Tim. So furchtbar die letzte Nacht in vielerlei Hinsicht gewesen war, sie hatte Ninas Leben endlich wieder einen Sinn gegeben. Eine Hoffnung, es nicht komplett zu verplempern. Aus der Sackgasse herauszukommen, in der sie in den letzten Jahren gelandet war. Nein! Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. So durfte sie nicht denken. Wie egoistisch. Aus dem Verderben der armen Menschen einen Vorteil für sich selbst zu machen – das ging doch nicht. Sie gab sich einen Ruck und zog endlich den blutbefleckten und verschwitzten Trainingsanzug aus.