36
Berlin-Wilmersdorf
Sonntag, 17:15 Uhr
In dem Augenblick, in dem die Aktivitäten wegen der Morde innerhalb der Polizei bekannt geworden waren, hatte auch die Bürokratie zugeschlagen. Plötzlich waren viel zu viele Leute zuständig, alle wollten informiert werden, jeder hatte einen Plan, was zu tun war. Irgendein Spaßvogel hatte sogar eine »SOKO Auge« bilden wollen, aber wahrscheinlich diskutierte man immer noch, wer dazugehören sollte. Tim dankte dem Adler auf Knien, dass er diesen ganzen Schwachsinn so weit wie möglich von ihm fernhielt. Als sie zu zweit von der Tiefgarage ins Gebäude an der Keithstraße kamen und Tim sah, wie der Adler vom Leiter des LKA, Friedrich Pfeiffer, angegangen wurde, ahnte er, was sein direkter Vorgesetzter auf sich nehmen musste. Er schirmte Tim dann sogar mit dem Körper gegen die auf dem Flur auftauchenden Kollegen ab und sprach ein Machtwort: »Leute, wir haben keine Zeit. Tim hat die Leitung. Alle hören auf ihn. Niemand geht in diesen Raum, wenn er nicht dazu aufgefordert wurde. Niemand! «
Er zeigte auf die Tür zum großen Besprechungsraum, den er für Tim und seine Leute geblockt hatte. Bei dieser Aufforderung schaute der Adler auch seinen Vorgesetzten an. Da er noch um einige Jahre diensterfahrener als Pfeiffer war und Legendenstatus in diesem Gebäude genoss, konnte er sich das leisten. Tim wusste allerdings auch, dass man ihn zerfleischen würde, wenn sein junger Schützling einen Fehler machte. Wie der Adler gesagt hatte: Sie hatten keine Zeit. Auch nicht für solche Gedanken.
Tim ging in den Raum, in dem Kemal mit drei Kollegen saß, die er selbst aus den technischen Experten des LKA hatte aussuchen dürfen. Die Männer hatten diverse Computer auf dem Besprechungstisch aufgebaut. Sogar noch mehr als in Tims Wohnung. Für Tim wirkte das schon fast hilflos. Schließlich spielten nur noch zwei Streams überhaupt eine Rolle. Leider. Sie hatten gehofft, das Signal des Chips irgendwie ausfindig machen zu können. Zwei Kollegen beschäftigten sich alleine damit. Bisher ohne Erfolg. Dafür hatten sie neue Bilder von Charlottes Stream in einem Kellerraum irgendwo in der Stadt. Kemal hatte sie auf zwei Monitoren isoliert und schaute mit vor Aufregung glänzenden Augen durch seine Brille, als Tim hereinkam.
»Ich hab was«, verkündete er.
Tim hatte im Auto Charlottes Stream gesehen, aber aus dem kargen Raum nicht ansatzweise Informationen ziehen können. Er war froh, dass er Kemal hatte, und stellte sich zu ihm an einen Monitor, auf dem er Charlottes Blick zu den Kellerfenstern als Standbild vergrößert hatte. Tim sah in groben Pixeln diverse Lichter, aber konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Was siehst du?«, fragte Kemal.
»Ich weiß nicht. Ein Gebäude.«
»Das ist der Fernsehturm. Guck: die unteren Leuchtfeuer, die oberen. Hier die Scheinwerfer von unten.«
»Oh, okay.«
Tim erkannte es nun auch. Wenn man genau hinschaute, sah man sogar die charakteristische Silhouette des Turms. Noch stellte sich keine Begeisterung bei Tim ein.
»Den Fernsehturm kann man praktisch von überall in Berlin sehen.«
»Ja«, sagte Kemal. »Aber nicht von einem Kellerfenster aus. Das ist sehr ungewöhnlich. Meistens sind Gebäude im Weg.«
Begeisterung war es noch nicht, aber Tim verstand allmählich, warum Kemal aufgeregt war.
»Das heißt, das Haus mit dem Keller muss vor einem freien Platz stehen oder einer Straßenflucht. Wahrscheinlich erhöht.«
Tim nickte. Kemal zog ihn um den halben Tisch.
»So. Thorsten hier rechnet anhand des Blickwinkels aus, wie weit wir ungefähr vom Fernsehturm entfernt sind. Er ist von Haus aus Physiker.«
Thorsten sah mit seinen verwaschenen Jeans und den langen Haaren eher wie ein später Grunge-Musiker aus. Tim nickte ihm zu, doch Thorsten hob nur die Hand, ohne aufzuschauen. Dann kritzelte er weiter auf einem der zahllosen Papiere herum, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Soweit Tim es erkennen konnte, hatten sie mit den diversen Bildern aus dem Keller – anhand der Höhe der Tür, sogar der Größe von Charlottes Aufpasser – ungefähre Maße und Entfernungen für den Raum errechnet. Außerdem hatten sie das düstere Bild des Fernsehturms vermessen und mit den richtigen Maßen des Wahrzeichens in Verbindung gesetzt.
»Ich würde sagen, etwas mehr als zwei Kilometer«, sagte Thorsten nach wenigen Sekunden.
Kemal sprang zu einem weiteren Monitor, auf dem der Stadtplan von Berlin zu sehen war. Tim dachte nun nicht mehr, dass die vielen Bildschirme übertrieben waren. Allerdings ignorierte Kemal den großen Stadtplan an der Wand des Besprechungsraums, auf dem bunte Nadeln die laufenden Fälle des LKA markierten – Fälle, die Tim unfassbar weit weg erschienen. Eine junge Frau mit dicken Brillengläsern kam bibbernd von draußen in den Raum. Sie trug zu der Jeans nur eine Bluse, hielt ihr Handy in der Hand. Tim glaubte, sie einmal bei den Leuten vom Kriminaltechnischen Institut gesehen zu haben. Da Kemal bei ihrem Erscheinen nicht protestierte, nahm Tim an, dass sie zu seiner Mannschaft gehörte. Tim nickte ihr zu. Dann schaute er wieder über Kemals Schulter. Mit einigen Tastenkombinationen hatte er auf der digitalen Berlinkarte bei gut zwei Kilometern Entfernung einen Ring um den Fernsehturm gelegt. Tim spürte sie jetzt endlich auch, die Aufregung.
»Wir lassen den Ring von den Kollegen abfahren«, sagte er und wollte zum Handy greifen.
»Nein, nein«, stoppte ihn Kemal. »Warte! Guck mal hier. «
Er zog Tim wieder zu dem Monitor mit dem Standbild von Charlottes Stream. Währenddessen stand die junge Frau mit dem Handy zitternd hinter ihnen. Normalerweise hätte Tim ihr eine Jacke besorgt, aber Kemal ließ ihm keine Chance.
»Siehst du den Schatten?«, fragte er.
Tim sah oberhalb der Strahler am Fernsehturm einen leichten Knick in der ansonsten halbrunden Form. Er nickte.
»Das ist die Außenplattform zum Fensterputzen. Sie hängt zu jeder Zeit da draußen.«
Tim erinnerte sich an den großen Klotz, den man immer wieder an einer anderen Stelle des Fernsehturms ausmachen konnte.
»Biggi war gerade oben auf dem Dach und hat ein Foto gemacht, wo die Plattform sich genau jetzt befindet.«
Endlich hatte Biggi ihren Auftritt. Sie reichte Kemal mit zitternder Hand ihr Handy, der ihr dankend zunickte und dann das Foto vom Fernsehturm neben den Monitor hielt. Mittlerweile hatten sich all seine Kollegen hinter ihnen versammelt. Alle sahen auf Biggis Foto, dass die Plattform von ihnen aus gesehen, also aus dem Westen der Stadt, genau auf der entgegengesetzten Seite des Bildes aus Charlottes Untergeschoss hing. Es war fast um 180 Grad gedreht. Kemal sprang zum Bildschirm mit der Berlinkarte, zog eine Linie von der Keithstraße zum Fernsehturm und darüber hinaus bis zum Prenzlauer Berg. Genau dort, wo die Linie auf der anderen Seite den Zweikilometerradius traf, machte er eine rote Markierung .
»Passt«, sagte Kemal strahlend. »Der Prenzlauer Berg liegt höher als der Alex. Tim, das Mädchen ist dort irgendwo. In einem Keller mit freiem Blick Richtung Westen.«
Jetzt war Tim wirklich aufgeregt. Sie hatten noch fünfundvierzig Minuten bis zur Übergabe, aber nun einen Sektor, der nicht viel größer als zwei Häuserblocks war. Tim hatte das Handy bereits am Ohr. Er beorderte Andrea und Marwan mit ihrem Wagen sofort in die Gegend, wo sie schon einmal nach Häusern mit offenliegenden Kellerfenstern Ausschau halten sollten.
»Sehr gute Arbeit«, lobte er Kemal. »Von euch allen. Das rettet dem Kind das Leben.«
Er sah in strahlende Gesichter. Doch Tim hatte noch einen schwierigen Anruf vor sich. Natürlich musste eine Einheit des SEK zu dem Haus geschickt werden. Andrea und Marwan konnten den Aufpasser des Mädchens nicht überwältigen. Die massive Tür, neben der er saß, erforderte zudem Spezialausrüstung. Also blieb Tim nichts anderes übrig, als SEK-Leiter Burmeister zu informieren. In der Hoffnung, dass man dem Mann wirklich trauen konnte.
»Du bist jetzt der große Zampano, hm?«, bellte Burmeister, nachdem Tim sich gemeldet hatte.
»Können wir zusammenarbeiten?«, fragte Tim herausfordernd. »Es geht um das Leben einer Zehnjährigen.«
»Na klar. Und wenn du nur für eine Sekunde denkst, dass ich die Kleine nicht retten will, reiße ich dir den Arsch auf, wenn wir sie befreit haben.«
Tim glaubte dem Leiter des SEK und gab ihm die ungefähre Zieladresse. Als er auflegte, atmete er tief durch und setzte für die anderen ein Lächeln auf.
»Wir finden sie!«
Er legte Kemal dankbar die Hand auf die Schulter.
»Ich muss jetzt mit Frau Wandowski zum Olympiastadion«, erklärte er. »Halt mich jede Sekunde auf dem Laufenden.«
Kemal nickte. Dann machte Tim sich auf den Weg zurück in die Tiefgarage, wo Mel noch im Auto wartete. Viel lieber wäre er zum Prenzlauer Berg gefahren, um das Mädchen in die Arme zu nehmen. Aber solange die Spezialkräfte es nicht befreit hatten, musste alles weiterhin so aussehen, als ob sie sich auf die skurrile Übergabe einließen.