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Berlin-Westend
Sonntag, 18:03 Uh
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»Wir gehen jetzt zur Säule«, sagte Tim in sein Handy zum Adler.
Denn der Adler musste nun genau das, was Tim mit Mel machte, zeitgleich mit Sylvia im Hinterhof des Hotels tun. Tim hatte noch gewartet, bis zwei Männer vom MEK den Neuankömmling durchsucht hatten. Ein sportlicher Typ in einem schwarzen Kampfanzug und mit Baseballkappe. Sie hatten keine Waffen bei ihm gefunden. Nur ein elektronisches Gerät, nicht größer als ein elektronischer Autoschlüssel. Der Mann hatte nichts gesagt, war dann zielstrebig weiter zur Säule gegangen. Da das SEK noch damit beschäftigt war, in den Keller des Gebäudes mit Charlotte zu gelangen, wollte Tim eine weitere Minute rausholen. Er musste verhindern, dass Charlottes Aufpasser kontaktiert wurde, eventuell sogar mit tödlichen Anweisungen. Es ging nicht anders: Er musste mit Mel zu der Säule.
Zwei Minuten nach 18 Uhr war er mit ihr aus dem Kleinbus gestiegen. Er hatte ihr seinen Wäschesack über
den Kopf gezogen und sein privates Handy an das Revers seines Mantels gehängt, um mit dem Adler reden zu können. Damit dieser jede Aktion zeitgleich simulierte. Auch Kemal war informiert und aufgefordert, sofort Bescheid zu geben, wenn das SEK bei Charlotte war. Aber Kemal hatte nur unverständliches Zeug mit jemand anderem geredet, während Tim Mel am Arm gefasst hatte, um sie in Richtung der Säule zu leiten. Er musste kurz an Nina denken, die sicher besser darin war, einen Menschen zu führen, der nichts sah.
»Wir gehen jetzt zur Säule«, hatte Tim dann ins Handy zum Adler gesagt.
Doch sein Satz wurde lautstark unterbrochen. Tim brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass es Kemal war, der »Abbruch! Abbruch!« schrie.
Diese eine Sekunde fehlte danach. Sie fehlte, als Tim in der Ferne den Schuss hörte und er Mel einen Meter vom Kleinbus entfernt nach unten riss. Tim hörte die Kugel. Das Zischen. Den Aufprall. Er warf sich auf Mel, schützte sie mit seinem Körper. Weitere Schüsse fielen, diesmal aber von Tims Leuten. Schreie, Schritte. Binnen Sekunden lag der Mann an der Säule auf dem Boden, und vier Leute mit Schutzpanzerung schirmten Tim und Mel gegen die Schussrichtung ab. Tim sah das Blut auf seinem verdammten Wäschesack. Er riss ihn Mel vom Kopf. Die Kugel hatte sie über dem rechten Auge in den Kopf getroffen. Knochen waren zersplittert, Blut spritzte heraus, die Kugel war an der Seite wieder ausgetreten. Mel lebte. Noch. Blitzschnell drückte Tim den Sack auf die Wunde und schrie nach einem Notarzt
.
Mel stöhnte.
»Das kriegen wir hin, Mel«, rief er. »Bleib bei mir, ja? Bitte bleib bei mir.«
Der Stoff des Sacks sog sich schnell mit Blut voll. In der Ferne hörte Tim weitere Schüsse. Aus der Richtung, aus der der Schuss auf Mel abgefeuert worden war. Oben vom Olympiastadion, wo die Scharfschützen saßen. Die Männer, die eigentlich zu Mels Schutz dort postiert waren. Tim hörte überall Schreie und Stimmen der unterschiedlichsten Art. Er konnte sie nicht auseinanderhalten. Dabei war eine darunter, die wichtig war. Das wusste er, während er Mel im Arm hielt und immer wieder auf sie einredete. Erst als zwei Notärzte im Spurt bei ihm ankamen und ihm Mel abnahmen, begriff er, wessen Stimme es war.
»Tim, was ist? Was ist mit Melanie? Tim?«, kam es immer wieder aus seinem Handy an der Brusttasche.
Der Adler fragte nach seiner Tochter.