5. Kapitel

Sofort wurde mir klar, warum ich mich festhalten sollte. Das Teil zeigte in schneller Abfolge einen Haufen 3D-Bilder, die für mich keinen Sinn ergaben. Bald wusste ich nicht mehr, wo oben und unten war. Meine Hand verkrampfte sich um den Griff.

»Keine Sorge, das System synchronisiert noch. Gleich wird es besser.«

Er behielt recht. Schon nach ein paar Sekunden ertönte ein langgezogenes Piepen und ich sah – nichts. Absolut nichts. Der virtuelle Raum, in den ich blickte, zeigte mir nur Schwärze.

»Alles ok?«

Ich zuckte mit den Schultern, aber sehr vorsichtig. Das Ding vor meinen Augen raubte mir jede Orientierung. »Keine Ahnung, es ist nichts zu sehen.«

»Sehr gut! Pass gut auf, ich stelle mich jetzt genau vor dich.«

Kurz, nachdem er das gesagt hatte, erschien eine leuchtende Gestalt in meinem Sichtbereich. Ich sah eine dreidimensionale Darstellung des Russen von Kopf bis zu den Zehen, das meiste davon schimmerte grau in Grau. Der Teil, der von der Hose verdeckt wurde, verschmolz nahezu mit dem schwarzen Hintergrund.

Sergej breitete die Arme aus und drehte sich langsam ein Mal um sich selbst. Unter der Haut bauten sich langsam weitere Einzelheiten auf. Die ganze Figur wirkte, als wäre sie eine dieser Lasergravierungen in einem Glaswürfel, wie man sie oft auf Weihnachtsmärkten sah. In dem Grau wucherten haarfeine, blutrote Linien, die meisten davon auf dem Rücken.

Dieses Muster erkannte ich wieder. Dort hatte ich ihm kurz nach seiner Ankunft mit der Peitsche zugesetzt. Nachdem der Doc die Wunden behandelt hatte, waren sie allerdings nicht mehr zu sehen gewesen. Dieses seltsame System schien anderer Meinung zu sein und zeigte mir jede einzelne Strieme.

Ich war sicher, dass sich Sergej schon etliche Blessuren eingefangen hatte, bevor er hier her gekommen war. Die eine oder andere Narbe hatte ich mit eigenen Augen gesehen. Aber diese alten Verletzungen wurden von den wuchernden roten Linien nicht erfasst. Dort, wo sich auf Sergejs Körper Unebenheiten zeigten, gab es in der virtuellen Realität lediglich grau in grau gehaltene Erhebungen, die das Narbengewebe exakt nachbildeten.

Zusätzlich zu den roten Striemen auf der Haut erschien allerdings ein leuchtendroter Punkt in Sergejs Schädel. Er war winzig, strahlte aber kugelförmig nach allen Seiten und erreichte so die Größe einer Walnuss. Im Gegensatz zu den Linien auf seinem Rücken pulsierten die Strahlen, dehnten sich mal mehr aus, mal weniger.

Der Rechner piepte erneut. Sergej ließ die Arme sinken. »Und? Verstehst du es jetzt?«

Ratlos starrte ich auf das Abbild. »Hast du einen Hirntumor oder so was?«

»Nein.«

Das Nein stammte nicht von Sergej.

Als ich die Stimme hinter mir hörte, blieb mir fast das Herz stehen. Vielleicht setzte es wirklich ein paar Schläge aus. »Victor, verdammt, musst du mich dermaßen erschrecken?«

Nachdem die Worte bereits in der Luft hingen, realisierte ich erst, wie ich ihn eben genannt hatte. Das hatte ich nun davon, mich mit Sergej einzulassen.

Todds Schritte rauschten über den Teppich. Neben mir blieb er stehen. Ich widerstand der Versuchung, den Kopf einzuziehen und abwehrend die Hand zu heben.

»Keinen Tumor. Sergej möchte dich auf die Bombe in seinem Schädel aufmerksam machen.«

Mein Griff um die Metallstange wurde fester. Ohne nachzudenken, fetzte ich mir die VR-Brille vom Kopf. »Du verarschst mich doch, oder?«

Sofort wurde mir schwindlig und ich musste die Augen schließen. Ein tiefer Atemzug vertrieb die aufsteigende Übelkeit. Als ich die Augen wieder öffnete, waberte der Raum noch immer, aber es ließ sich aushalten. Ich konnte Sergej erkennen, wie er sich an die Stirn tippte.

»Wenn ich dir erzählen würde, ich hätte was im Köpfchen, dann wäre das ab jetzt keine hohle Phrase mehr.«

Meine Beine trugen mich in Richtung Monitor, ohne dass ich sie darum gebeten hatte. Ich stand zwischen den beiden rätselhaftesten Menschen der Welt und zeigte mit dem Finger auf das blinkende Licht, das jetzt auch auf dem Bildschirm zu sehen war. »Und wenn die hoch geht, was dann?«

Sergej seufzte und schlug mir kameradschaftlich auf den Rücken. »Da mach dir mal keine Gedanken. Erstens wird sie nur aktiviert, wenn ich den Kernbereich der Anlage verlasse, und zweitens hat sie eine äußerst begrenzte Reichweite.«

Zum ersten Mal, seit ich mich der Anlage befand, vermisste ich ein Fenster, aus dem ich nachdenklich starren konnte. So blieb mir zum Anstarren nur der blinkende rote Punkt auf dem Monitor. Noch bevor die Fragen, die Sergejs Erklärung mit sich brachten, in meinen Gedanken Gestalt angenommen hatten, übernahm Todd das Denken für mich.

»Weißt du noch, dass ich dir von meiner Vermutung berichtet habe, Sergej sei auf Geheiß meines Vaters hier?«

Ich nickte. Es war mir bisher nicht gelungen, auch nur eine unserer Unterhaltungen zu vergessen, so sehr ich es auch versuchte.

»Ich lag falsch.«

»Nicht völlig«, tröstete ihn Sergej. »Ich bin tatsächlich hergekommen, um dich ausfindig zu machen. Allerdings hatten wir von Anfang an die Absicht, herauszufinden, was du in der Zwischenzeit so getrieben hast.«

Todd ignorierte die Unterbrechung und fuhr an mich gerichtet fort. »Als du dazwischen gegangen bist, hatte er gerade versucht, mich als Geisel zu nehmen, um den Doktor zu erpressen.«

Die Vorstellung, jemand könnte versuchen, Todd als Geisel zu nehmen, war so absurd, dass ich laut auflachte. Andererseits sprachen wir hier von Sergej, deshalb lachte ich nicht lange. »Was könnten die Russen vom Doc wollen, das es wert wäre, dich zu ärgern?«

Sergej verschränkte die Arme und platzierte seinen Hintern auf dem Schreibtisch, direkt zwischen mir und dem blinkenden Punkt. »Nicht etwas. Ich hätte gleich den ganzen Kerl genommen. Ich wollte Victor vergiften und Bluescreen erpressen. Den Doktor im Tausch gegen das Gegenmittel, verstehst du? Schließlich ist er ihr Boss und unterschreibt die Schecks.«

Das musste ich erstmal sortieren. »Du wolltest Todd entführen, um über ihn an den Doc ranzukommen?«

»Wen hätte ich denn sonst nehmen sollen? Er ist der Einzige, für den Commander Levine den Doc rausrücken würde. Wir hätten uns auch mit seinen Forschungsergebnissen zufriedengegeben, aber der Kerl ist total paranoid. Wenn er etwas aufschreibt, dann nur verschlüsselt. Und er ist der Einzige, der alle Schlüssel kennt.«

»Dann habe ich es geschafft, dir die Tour zu vermasseln?«

Er nickte. »Leider ja. Dank dir habe ich jetzt nur eine Kostprobe und kann sie ärgerlicherweise nicht daheim abliefern, ohne dass das kleine Souvenir in meinem Schädel aus meinem Hirn einen Eintopf macht.«

Todd schaltete sich ein. »Doktor Christ hat mir versichert, dass der Mechanismus dich nicht umbringen würde. Die Aktivierung hätte lediglich zur Folge, dass gewisse Teile deines Gehirns nicht wie gewohnt funktionieren. Du bleibst am Leben, aber wenn dich jemand nach deinem Namen fragt, wird es schon schwierig. Unwahrscheinlich, dass du dich daran erinnern könntest, wie man eine Toilette benutzt oder auch nur wozu.«

»Das läuft auf dasselbe hinaus. Eine Aussicht, die mich nicht sonderlich froh stimmt.« Jetzt wandte sich Sergej direkt an mich. »Ich nehme an, du verstehst, dass ich zur Zeit sehr großes Interesse daran habe, die Anlage zu schützen. Angenommen, jemand würde den Laden dicht machen, hätte das für mich außerordentlich ungemütliche Konsequenzen. Und damit hast du jetzt eine Antwort auf die Frage …«

Er warf einen Seitenblick auf Todd. »… warum unser über alles geliebter Herr und Meister keinen Sinn darin sieht, mich irgendwo anzuketten. Es macht sicher viel mehr Spaß, mir dabei zuzusehen, wie ich in meinem Käfig auf- und abtigere so wie du für gewöhnlich.«

Er wehrte sich nicht, als meine Hand nach vorn schnellte. Anstatt ihm die verdiente Abreibung zu verpassen, griff ich mir seinen Haarschopf am Hinterkopf und krallte meine Finger hinein. »Ich habe nicht übel Lust, dich höchstpersönlich vor die verdammte Tür zu schleifen und dabei zuzusehen, wie du versuchst, deine Finger zu zählen!«

Es war Todds Stimme, die mich wieder auf den Boden brachte. Sie klang weicher als sonst. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du vorerst darauf verzichten könntest. Es wäre schwierig, ihn zu ersetzen.«

»Gib dir Mühe«, knurrte ich, verpasste dem Russen einen ordentlichen Stoß gegen die Rippen und ließ ihn los.

Sergej fing den Schubs ab, revanchierte sich aber nicht. Er warf noch einen letzten Blick auf den Monitor und wandte sich zur Tür. Kurz davor blieb er stehen und sah mich an. »Weißt du, was dein Problem ist?«

»Im Moment schon, aber keine Sorge, es ist gerade dabei, zu gehen.«

»Um mich mache ich mir keine Sorgen. Ich weiß ganz genau, wohin ich gehöre. Dieses Wissen ist mein Fokus. Dadurch habe ich mein Ziel immer klar vor Augen. Wie steht es um deinen Fokus?« Mit dieser rätselhaften Frage ließ er uns stehen und marschierte durch die Tür. Während sie sich hinter ihm langsam schloss, suchte er Blickkontakt zu Todd. »Hast du ihm das mit Carter eigentlich schon erzählt?«

Dass er auf diese Frage keine Antwort erwartete, war offensichtlich, denn er war weg, noch bevor der Schnapper einrastete.

»Nein, hat er nicht«, antwortete ich mir selbst an Todds Stelle und nahm diesen ins Visier.

Er ging nicht darauf ein, sondern machte ebenfalls Anstalten, den Raum zu verlassen. »Wenn wir keinen Ärger wollen, sollten wir ihm folgen und zusehen, dass wir hier wegkommen.«

Ich trat ihm in den Weg. »Der Ärger ist schon da. Was hat Sergej gemeint?«

Todd seufzte auf seine gekünstelte Art, die mich wünschen ließ, Sergej hätte ihn statt meiner erwischt und dann sein Ding durchgezogen. »Wenn du reden willst, dann sollten wir das woanders tun. Im Forschungsbereich haben weder du noch ich etwas verloren und Doktor Christ wird äußerst ungehalten sein, wenn er uns beide hier vorfindet. Lass uns von hier verschwinden.«

Diese Aussage stürzte mich noch mehr in Verwirrung. Um die Situation nicht noch komplizierter zu machen, öffnete ich die Tür und ließ ihn passieren. »Ich dachte, du hättest hier das Sagen!«

Todd schritt den Flur entlang, den ich mit Sergej gekommen war, und hielt auf den Ausgang zu. »In der Anlage ja, aber dies hier ist der Forschungsbereich. Er ist gewissermaßen das Herz des Unternehmens und Dr. Christ achtet sehr gründlich darauf, dass seine Hoheitsrechte nicht verletzt werden.«

»Und was macht ihr dann alle hier?«, wunderte ich mich.

»Sergej hat sich auf meinen Wunsch hin bei seinem letzten Besuch eingehackt und mir den Zugang ermöglicht.«

Wir hatten den Ausgang beinahe erreicht.

Todd wurde langsamer und legte die Stirn in Falten. »Ich frage mich, warum er mich auf diese Weise wissen ließ, dass er sich noch immer Zugang verschaffen kann.«

Die Mühlen im Hirn eines Cops arbeiten stetig, aber in diesem Fall einen Hauch zu langsam. Todds Bewegungen erschienen mir wie in Zeitlupe, als er den Code in das Tastenfeld eingab. Plötzlich dämmerte es mir. Ich rief »Nicht!«, doch es war bereits zu spät.