»Monroe? Sind Sie wach?«
»Nein«, krächzte ich leise und ärgerte mich über die Störung.
»Bestens. Diesmal hätten Sie es beinahe geschafft, mich bloßzustellen.«
Ich erkannte die Stimme wieder. Sie gehörte dem Doc. Demnach befand ich mich auf der Krankenstation. Ich hätte die Augen öffnen müssen, um ganz sicher zu sein, hatte aber keine Lust dazu.
»Bitte einfach stillhalten«, wies er mich an.
Da er mir nicht sagte, warum ich stillhalten sollte, gab ich mir nun doch Mühe, die Augen zu öffnen. Es gelang mir nur bei einem und auch nicht ohne Mühe.
Ich erkannte erst den weißen Kittel vom Doc, dann ihn selbst. Er warf einen Blick auf den Tropf, der über einen Schlauch mit meinem Handrücken verbunden war und mich über eine Braunüle mit klarer Flüssigkeit versorgte. Zuerst löste er die Verbindung, um gleich darauf wenig einfühlsam die Braunüle zu ziehen.
Ich wollte murren, aber mit dem Sprechen haperte es genauso wie mit dem Sehen. Meine Hände wanderten zu meinem Hals, um herauszufinden, was da los war.
»Ihr linkes Auge mussten wir leider abschreiben, da war nichts zu machen. Den Kehlkopf hat es auch erwischt, aber den bekommen wir im Laufe der Zeit vielleicht wieder hin. Sie hatten verdammtes Glück. Einen Millimeter tiefer und er hätte die Halsschlagader erwischt. So ist Ihnen nur die Sprache abhandengekommen, nicht das Leben.«
Ich starrte ihn entgeistert an.
»Sehen Sie es positiv«, riet er mir. »In Zukunft kommen Sie viel seltener in Schwierigkeiten.«
»Gut möglich«, knurrte Dante im Hintergrund. »Jetzt kann er sich wenigstens nicht mehr um Kopf und Kragen reden.«
Ich hätte gerne mit ihm rumgealbert, aber bei seinen Worten fiel mir siedendheiß wieder ein, wie ich überhaupt in diese Lage gekommen war. »Carter!«, krächzte ich und verfiel übergangslos in einen krampfartigen Hustenanfall.
Sofort verschwand die gute Stimmung des Docs. »Dante, wären Sie so freundlich, uns für ein paar Minuten allein zu lassen?«
Er grunzte unwillig, schlurfte aber hinaus.
Ich fokussierte meinen Blick auf den Doc und verbannte alle voreiligen Horrorszenarien aus meinem Hirn.
Dr. Christ fackelte nicht lange. »Um Mr. Carter stand es weit schlechter als um sie.«
Ich atmete auf. Das war vielleicht nicht die beste Nachricht, aber sie bedeutete, dass er am Leben war.
»Der Flug hierher hat ihm nicht gutgetan. Der Punkt ist: Ich konnte ihn retten. Vorerst. Ob das so bleibt, hängt von Ihnen ab.«
Ich hätte sicher verwirrt geblinzelt, wenn das nicht so schmerzhaft gewesen wäre.
Der Doc drückte sein Klemmbrett an die Brust und verschränkte die Arme. »Sehen Sie, Monroe, es ist doch so: Ich habe ein Vermögen in Sie investiert. Die Insel, die Victor für Sie gekauft hat, gar nicht mitgerechnet. In ihrem Körper befindet sich mehr Wissenschaft als in den meisten Hightechlaboren. Sie könnten als Forschungsobjekt für die Doktorarbeiten einer ganzen Universität herhalten. Aber ich habe Sie nicht aufgebaut und pausenlos repariert, damit Sie hier Händchen halten und Däumchen drehen. Victor ist im Großen und Ganzen ein sehr gehorsamer Junge. Nur in Bezug auf Sie trübt ihn sein Urteilsvermögen. Ich sage Ihnen jetzt ganz klipp und klar: Mr. Carter nach Japan zu schicken wäre so, als würde man einen Schneeball in die Hölle werfen. Sollten Sie sich also entscheiden, nicht zu gehen, dann werde ich mir nicht die Mühe machen, den Mann weiter zusammenzuflicken. Das wird er nicht überleben. Sie dürfen das als Gnade betrachten.«
Er drängte mich nicht, aber eigentlich gab es auch gar nichts zu entscheiden.
Ich sah wieder die Szene aus dem Video vor mir, in dem Tiger erfuhr, was mich erwartete. Sie war sich absolut sicher gewesen, dass es das Beste wäre. Nicht für sie oder irgendjemanden sonst, sondern für mich. Wenn ich je jemandem auf dieser Welt voll und ganz vertraut hatte, dann ihr. Obwohl sie mittlerweile ernsthafte Konkurrenz bekam. Ich nickte, um den Doc wissen zu lassen, dass er sich endlich um Carter kümmern sollte.
Zum ersten Mal erkannte ich so etwas wie Dankbarkeit in seinem Blick. »Sehr gut. Ich bin sicher, er wird Ihnen schreiben, wenn er wieder auf dem Damm ist.« Ohne jede weitere Erklärung rief er Dante herein und verschwand in Richtung des Forschungstraktes.
Der Gorilla stapfte auf mich zu. Er sah mich an, als erwartete er, dass ich jetzt verwirrt oder verärgert sein müsste. Tatsächlich fühlte ich mich erstaunlich ruhig.
Im Schrank lag eine Uniform für mich bereit. Ich fühlte mich nach dem Aufstehen noch etwas wackelig auf den Beinen.
Aber Dante und ich waren inzwischen ein eingespieltes Team, wenn es darum ging, mich nach einer Reparatur wieder gesellschaftsfähig zu machen. Vor der Tür hielt ich inne und atmete tief durch. Nicht, weil ich erleichtert war, da raus zu kommen, sondern weil ich im ersten Moment nicht wusste, was ich jetzt unternehmen wollte.
Um das herauszufinden, musste Dante mir zuerst eine Frage beantworten. »Wann?«, flüsterte ich. Selbst dieses kleine Wort war schwierig herauszubringen. Ich unterdrückte einen neuerlichen Hustenanfall und hoffte, dass Dante mich verstanden hatte.
»Morgen früh.«
Etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Schockiert war ich trotzdem. Die Uhr vom Doc hatte acht Uhr abends angezeigt. Mir blieb also nur diese eine Nacht, bevor ich das Land verlassen musste.
Mit bedächtigen Schritten wanderte ich in Richtung Alligatorgehege. Dante lief stumm neben mir her, bis wir die Balustrade erreichten und beide gedankenverloren in die Tiefe starrten. Ein Schatten der geistigen Klarheit, die bei Dunkelheit und Regen über mich hereingebrochen war, hielt mich noch immer umfangen und ließ mich die Welt mit anderen Augen betrachten.
Bisher hatte ich die Anlage stets als Gefängnis empfunden. Jetzt sah ich sie zum ersten Mal mit den Augen beziehungsweise dem Auge eines freien Mannes.
Ich hätte tun und lassen können, was immer ich wollte, sogar durch die Tür hinausspazieren und mich als Präsidentschaftskandidat der Demokraten aufstellen lassen. Zugegeben, mit wenig Aussicht auf Erfolg, aber es hätte mich niemand aufgehalten. Selbst Commander Levine würde es nicht mehr wagen, mir in die Quere zu kommen.
Ich verzichtete darauf, Buttons mit meinem Konterfei drucken zu lassen, und griff stattdessen zum Handy.
Dante sah mir beim Tippen zu. Als ich die Nachricht abschickte, brummte er, er hätte noch etwas zu erledigen und ließ mich allein.
Nachdem Dante verschwunden war, dauerte es nicht lange und ich spürte Victors Anwesenheit. Er war lautlos herangekommen und stellte sich neben mich. Ich gab ihm Zeit, um die richtigen Worte zu finden. Gewöhnlich war er ziemlich gut darin.
Schließlich holte er tief Luft. »Du hast einen interessanten Treffpunkt ausgewählt.«
Mein Gesprächspart bestand darin, ihn anzusehen, um ihm zu zeigen, dass ich weiter zuhören würde.
Er wich meinem Blick aus. »Nach dem, was Mr. Quenten zugestoßen ist …«
Ich musste gar nichts tun. Selbst ein verächtliches Schnauben konnte ich mir sparen.
Er unterbrach sich ganz von selbst und fing noch einmal neu an. »Nach dem, was ich Mr. Quenten angetan habe, bin ich froh, dass du mich überhaupt noch sehen willst.«
Zur Antwort wandte ich mich ihm zu. Ich nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn zu mir herum. Dass er heute keinen Pulli trug, sondern Hemd, Krawatte und Jackett, kam mir sehr entgegen. Die Krawatte war schnell gelöst und baumelte um seinen Hals, als ich den Kragenknopf öffnete und mich nach unten arbeitete. Am Ende musste ich nur das Hemd so weit über die Schultern ziehen, bis seine nackte Brust vor mir lag.
Nur mit den Fingerspitzen berührte ich nacheinander die beiden Tattoos, die unterschiedlicher kaum sein konnten und doch eine Einheit bildeten. Zuerst den Bären, der sich brüllend und mordend vor einem Berg grausam zugerichteter Leichen austobte. Meine Finger folgten der Kette, die am Knöchel des Bären befestigt war und ihn mit einer androgynen Figur auf der anderen Seite verband, die offenkundig meditierte und Frieden symbolisierte.
Victor verzog entschuldigend das Gesicht. »Ich gebe mir Mühe.«
Ich gab ihm mit einem Lächeln und einem Nicken zu verstehen, dass ich das inzwischen begriffen hatte. Mein Blick löste sich von seiner Brust und wanderte weiter zu dem träge am Strand dösenden Alligator.
Victor folgte meinem Beispiel. »Dante und Francis sind recht gut darin, mich zu bändigen, aber keiner der beiden hätte es gewagt, an diesem Abend in meine Nähe zu kommen. Ich hätte sie aufgeschlitzt.«
Alligator-Todd hob den Kopf und peitschte mit dem Schwanz das Wasser auf. Ich nahm mir fest vor, morgen früh mit ihm schwimmen zu gehen, aber den Rest des Tages wollte ich dem anderen Todd widmen, der für mich von jetzt an Victor bleiben würde.
Dessen Handy machte sich bemerkbar. Er überflog die Nachricht und steckte es wieder weg. »Doktor Christ«, informierte er mich. »Vivian ist jetzt bei Carter. Sie lässt ausrichten, dass wir uns zur Hölle scheren sollen, bevor sie uns persönlich dort abliefert.«
Carter war demnach über den Berg. Ich atmete erleichtert auf und half Victor, sich wieder anzuziehen. Die Hölle schwebte mir zwar nicht unbedingt vor, aber die Idee, mehr Entfernung zwischen Vivian und uns zu bringen, erschien mir vernünftig.
»Muss es denn wirklich ein Platz am Tresen sein?«, erkundigte sich Victor zweifelnd. Er hatte sich auf den Hocker in der Ecke gequetscht.
Ich lümmelte zwischen ihm und Dante herum. Mein Nicken fiel sehr enthusiastisch aus. Wenn ich mit Tiger im Potters Inn aufkreuzte, kam nur der Tresen infrage.
Tiger nahm ein schäumendes Pint Selbstgebrautes von Susan in Empfang und stieß mit mir auf Carters Genesung an. Es klirrte, als Dante mit seinem Wasser erst gegen mein Glas tippte, dann gegen das von Victor, der sich für ein Bitterlemon entschieden hatte.
Im Regal hinter Susan standen erlesene Schnäpse in edlen Flaschen. Sie lockten mich mit ihrem bernsteinfarbenen Schimmer und dem Versprechen, mir wohltuende Gleichgültigkeit und einen üblen Kater am Morgen zu bescheren. Ich fühlte mich mit meinem Selbstgebrauten allerdings ganz gut bedient.
Ein Blick in Tigers entspanntes Gesicht erinnerte mich an das Video, in dem die Rede von drei Jahren gewesen war. Hätte meine Leber wirklich noch so lange durchgehalten?
In der Küche arbeitete jemand mit Hochdruck an vier saftigen Steak-Sandwiches, die wir bestellt hatten. Von meinem Platz aus sah ich meine früheren Kollegen vom Revier an ihrem Stammtisch sitzen und miteinander herumalbern. Commander Levine und das Team von Bluescreen überwachte sie alle. Hier, auf dem Revier und wahrscheinlich auch daheim. Es waren Dreckskerle, aber sie machten einen verdammt guten Job. Solange Victor Bluescreen im Griff hatte, musste ich mir um sie keine Sorgen machen. »Hi Tommy!«
Susans Ruf riss mich aus meinen Gedanken. Ich beugte mich ein wenig über den Tresen, um sie bei all dem Lärm besser verstehen zu können.
»Was hast du denn wieder angestellt? Hast du in einem Mixer gepennt?«
Ich fühlte mich viel zu beschwingt, um beleidigt zu sein. Breit grinsend beugte mich über den Tresen und gab ihr einen dicken Kuss. Beinahe hätte ich es geschafft, mich rechtzeitig zu ducken, aber der Tresen war im Weg und so steckte ich ihre Ohrfeige voll ein.
Tiger fiel beinahe vom Hocker vor Lachen. Schließlich rutschte sie elegant herunter, schlich katzenhaft an Dante entlang und zog ihn mit sich. »Komm schon, Großer, ich zeig dir, wie man Billard spielt.«
Aus Dantes Grummeln wurde ein tiefes Brummen, als sich ihre schlanken Finger sanft in seine breite Pranke drehten und ihn vom Hocker zogen.
Victor sah zu, wie die beiden in den Menschenmassen untertauchten. »Sie wird ihn bis auf die Unterhosen ausziehen.«
Ich nickte entschieden. Er konnte von Glück sagen, wenn sie da Halt machte.
»Willst du nicht mitgehen und ihm beistehen?«
Ein leichtes Kopfschütteln genügte als Antwort. Ich war schon erstaunt, dass er es bei all den vielen Menschen im Pub am Tresen so lange ausgehalten hatte. Da wollte ich nicht ausprobieren, wie lange es dauerte, bis er zwischen all den Kerlen am Billardtisch ausrastete.
Gewöhnlich gefiel mir eine zünftige Prügelei, aber nach der Action in letzter Zeit wollte ich einfach nur einen ruhigen Abend genießen, gemütlich mein Bier trinken und nicht darüber nachdenken, wann ich das nächste Mal eines zu sehen bekommen würde. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken, wann ich Carter, Tiger und Dante wiedersehen würde. Oder Victor.