29. April 1986

Gruppeninspektor Paul Zedlnitzky erwachte mit einem unguten Gefühl. Er war um Mitternacht zu Bett gegangen, doch er hatte lange keinen Schlaf gefunden. „Hätt’ ich bloß nicht mehr die Nachrichten ang’hört“, sagte er sich, denn eine Meldung hatte ihn eine schiere Ewigkeit wach gehalten. Irgendwo in der UdSSR gab es offenbar ein ernst zu nehmendes Problem mit einem Kernkraftwerk. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, irgendetwas mit „Tscherno“ am Anfang. Automatisch blickte er auf seinen Wecker. Punkt 7 Uhr. Ohne zu zögern machte er das Radio an.

Fünf Minuten später saß er immer noch im Bett. Doch sein Befinden hatte sich keineswegs gebessert. Ob Aufstehen überhaupt noch lohnte? Wenn es wahr war, was er da eben gehört hatte, dann ging man besser nicht mehr vor die Tür. Zumindest nicht ohne Geigerzähler.

Zedlnitzky drehte sich zu seiner Frau um, die noch tief und fest zu schlafen schien. Das war ungewöhnlich. Normalerweise stand sie noch vor ihm auf, allein schon, um den beiden Rangen Frühstück zu machen. Peter, der Stammhalter, ging in die zweite Klasse des Gymnasiums in der Ettenreichgasse, während die kleine Jacqueline noch die Volksschule unsicher machte. Zedlnitzky seufzte. Dann war eben er mit Frühstück machen dran. Er schwang die Beine aus dem Bett und suchte tapsend nach seinen Hausschuhen. Als er diese endlich gefunden und über die Füße gestreift hatte, erhob er sich und schlurfte in auffallender Langsamkeit Richtung Küche.

Dort angekommen stellte er erst einmal Kaffee zu. Dann holte er den gestaubten Wecken aus der Brotdose und begann lustlos, einige Scheiben davon mit dem Brotmesser herunterzusäbeln. War dies erfolgreich bewerkstelligt, hatte zwangsläufig das Öffnen des Kühlschranks zu erfolgen, den er aus unerfindlichen Gründen immer noch Eiskasten zu nennen pflegte. Er entnahm selbigem die Margarine und schmierte diese fingerdick auf jede Brotscheibe. Dezentes Gurgeln der Kaffeemaschine signalisierte, dass es bald etwas zu trinken geben würde. Doch damit war nur ihm und seiner Frau gedient. Für die Kinder hatte es Kakao zu sein. Tonlos fluchte Zedlnitzky. Er hatte vergessen, die Milch heiß zu machen. Das war ja direkt ein logistisches Großunterfangen, so ein Frühstück, stöhnte er.

Während er darauf wartete, dass die Milch warm genug war, trug er noch eine Schicht Nutella auf die Brote von Jackie und Peter auf. Die „Mama“ bekam wie gewohnt ihren geliebten Edamer, dafür durfte er sich zwei, drei Räder Braunschweiger genehmigen. Endlich dampfte auch die Milch. Er schnappte das Gefäß mit der „Ovomaltine“ und fügte, nachdem er die Milch in zwei Gläser geschüttet hatte, jeweils drei Esslöffel von den brauen Körnern hinzu. Dann rührte er kräftig um, bis die Flüssigkeit durchgehend schokoladenfarben geworden war. Nun fehlte noch ein Tablett, und schon konnte er seine Leistung unter den Seinen verteilen.

„Aber das wär’ doch nicht notwendig gewesen, Pauli. Ich hätt’s doch selber eh g’macht.“ Leicht verschlafen stand seine Frau hinter ihm und gähnte ihm ein „Guten Morgen“ entgegen.

Er lächelte und zuckte dabei entschuldigend mit den Schultern. „Nutzt’s nix, schad’t’s nix“, schmunzelte er. Seine Frau nahm ihm das Tablett ab. „Ich geh’ mal die Kinder wecken“, sagte sie. Er nickte nur und setzte sich, Luft ausblasend, an den Küchentisch.

Drei Minuten später saß ihm seine Frau gegenüber. Wie er nippte sie zaghaft am Kaffee, ehe sie herzhaft in das Käsebrot biss. Zedlnitzky kaute versonnen an seiner Wurst. „Hast das mitg’kriegt? Das mit dem Atomkraftwerk in Russland?“

Seine Frau sah ihn mit großen Augen an. „Nein! Was denn?“

„Schaut so aus, als wär’ dem Iwan irgendwo eines hochgegangen. Genaueres weiß man aber anscheinend noch nicht.“

„Jesusmarandana“, entfuhr es Frau Zedlnitzky, „und was heißt das?“

Zedlnitzky zuckte abermals mit den Schultern. Diesmal aber ohne jegliches Lächeln. „Was weiß ich“, murrte er. Und nach einer kleinen Pause. „Zum Dienst muss ich wohl trotzdem.“

Als wäre das ein Stichwort gewesen, blickte er auf die Wand oberhalb der Küchentür. Die große Uhr zeigte 7 Uhr 25. Eine schnelle Zigarette, so folgerte er aus dieser Uhrzeit, ging sich noch aus. Er griff nach der Packung „Smart Export“ und holte einen Glimmstängel hervor, was seine Frau zum Anlass nahm, ihrerseits nach ihren „Dames“ zu fingern. „Es ist so ruhig“, konstatierte Zedlnitzky, „ob die zwei Rabenbraten wieder eingeschlafen sind?“

Es war seiner Frau deutlich anzusehen, dass zwei Seelen in ihrer Brust kämpften. Die Lust auf Nikotin und das Pflichtbewusstsein, nach dem Nachwuchs zu sehen.

„Geben wir ihnen noch fünf Minuten. Aber dann kommt die Kavallerie“, erlöste Zedlnitzky seine Frau aus ihrem Konflikt.

Am Weg zurück ins Schlafzimmer, trommelte er mit aller Wucht gegen die Kinderzimmertüren. „Ich geh’ in drei Minuten aus dem Haus. Bis dahin steht ihr zwei fix und fertig in der Tür. Haben wir uns verstanden?“ So militärisch-zackig sein Befehl auch erfolgt war, er erntete kaum mehr als ein leises Gemaule. Eigentlich war er ja schon ein paar Schritte weiter, doch dieser Mangel an Respekt war nicht tolerabel. Er legte den Retourgang ein und riss Peters Tür auf. „Ich red’ da nicht zum Spaß, junger Mann. Zack, zack, gemma, gemma!“ Der Jüngling wusste, dass der Papa es ernst meinte und verfügte sich mit angewiderter Miene ins Badezimmer. Zedlnitzky strebte nun seiner Garderobe zu, wo er eilig die erforderlichen Kleidungsstücke aus dem Kasten fischte. Kaum waren diese angelegt, schnappte er, neben dem Sohnemann im Badezimmer zu stehen kommend, seine Zahnbürste und schrubbte noch eine kleine Weile lustlos herum, ehe er den Mund ausspülte. Er gab seiner Frau noch einen schnellen Kuss, verbunden mit einem Hinweis, er sei spät dran, und verließ sodann eilends die Wohnung.

Direkt vor der Haustür parkte sein Dienstfahrzeug. Er sperrte die Fahrertür des VW Käfer auf und ließ sich in den Sitz plumpsen. Einmal atmete er noch tief durch, dann startete er den Motor. Die Uhr zeigte dreiviertel acht. „Na, da müss’ ma heute wieder auf Niki Lauda machen“, sagte er zu sich selbst, ehe er aus der Parklücke ausscherte und sich auf der Triesterstraße in den Verkehr, der Richtung Matzleinsdorfer Platz unterwegs war, einreihte. Und obwohl er jede Lücke ausnützte, kam er nur recht langsam voran. In der Wiedner Hauptstraße bremste ihn auch noch eine Garnitur der Linie 65 ein, sodass sich Zedlnitzky mit der Tatsache anzufreunden hatte, dass er zu spät ins Büro kommen würde.

Allerdings war es auffallend, dass niemand von der Nuklearkatastrophe Notiz zu nehmen schien. Alles war wie gewohnt, selbst das Gefluche der Autofahrer, die sich in einer konkreten Situation benachteiligt fühlen, unterschied sich in nichts von jenem an jedem anderen Tag. Na ja, Russland war ja auch weit weg. Vielleicht ging sie das ja wirklich nichts an. Und hatte nicht der Benya Toni gemeint, die Atomkraft sei ebenso sicher, wie sie sauber sei? Und der musste es ja schließlich wissen. Immerhin war der Elektriker.

Endlich hatte Zedlnitzky den Karlsplatz erreicht. Von dort bog er in den Ring ein, und nach einem guten Kilometer kam allmählich das Sicherheitsbüro in Sicht. An einer roten Ampel sah er auf seine Armbanduhr. Fünf nach acht. Gut, das mochte angehen. Vor allem, weil sein Vorgesetzter ohnehin selten vor halb neun im Büro erschien. Und die Sekretärin würde ihn schon nicht verpetzen.

Wie jeden Morgen absolvierte er eine Tour vorbei an Wiens Sehenswürdigkeiten. Sein Käfer passierte die Museen, die Hofburg, das Parlament, das Burgtheater und die Universität. Dann erst bog er ein und steuerte den Parkplatz der Polizeidirektion an. Als der Motor nach einem letzten Gurgeln endgültig ruhig geworden war, seufzte Zedlnitzky noch einmal, dann gab er sich einen Ruck und stieg aus dem Wagen aus. Drei Minuten später hatte er den Paternoster erreicht, der ihn in sein Stockwerk brachte.

„Morgen“, sagte er nur, als er an der Sekretärin vorbei seinen Schreibtisch anvisierte.

„Herr Kollege. Die warten schon auf sie.“

Zedlnitzky erstarrte. „Wer?“

„Die anderen Kollegen.“ Sie beugte sich verschwörerisch nach vorn. „Ich glaub’“, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, „es geht um einen Mord.“

Zedlnitzky pfiff durch die Zähne und deutete wortlos auf die Tür seines Chefs. Die Sekretärin nickte nur. Er hängte seinen Staubmantel auf den Garderobenständer, klopfte an die besagte Tür und trat nach einem deutlich vernehmlichen „Herein“ ein. Tatsächlich waren dort schon alle versammelt. Pospischil, ihm altersmäßig am nächsten, nickte ihm aufmunternd zu, während Oberstleutnant Schuchter, sein direkter Vorgesetzter, der sich in seinem Vortrag unterbrochen sah, Zedlnitzky einen strengen Blick zuwarf.

„Da wir jetzt endlich alle vollzählig sind“, fuhr Schuchter schließlich fort, während sich Zedlnitzky eine „Smart“ anzündete, „können wir uns ja wieder dem Fall widmen. Und weil der Kollege Sedelnitzky heute schon so ein Engagement an den Tag gelegt hat, schlage ich vor, er schnappt sich den Kollegen Pospischil und macht sich hurtig auf den Weg.“

Zedlnitzky verkutzte sich beinahe am inhalierten Rauch und unterdrückte den reflexartig auftretenden Hustenreiz. Man brauchte kein Psychologiestudium, um zu erkennen, dass ihm die Situation alles andere als behagte.

Schuchter lächelte spöttisch, lenkte dann aber ein. „Pospischil, sei so gut und weise den verspäteten Kollegen unterwegs ein. Und jetzt: husch, husch.“ Die letzten Worte unterstrich der Oberstleutnant mit einer wegscheuchenden Geste seiner rechten Hand.

„Wo müssen wir hin?“, fragte Zedlnitzky daher, als sie in seinem Wagen Platz genommen hatten.

„Krongasse 4. Fünfter Bezirk. Das Opfer heißt Dinotti.“

„Ein Eisverkäufer oder ein Pizzabäcker?“ Zedlnitzky grinste breit.

„Hörst, deine Schmäh waren auch schon einmal besser. Ned jeder, der so heißt, ist gleich ein Katzelmacher.“

„Ich weiß …“

„… Und nicht jeder Katzelmacher produziert Eis oder serviert Pizzas.“

„Pizze.“

„Danke!“

Zedlnitzky sah seinen Kollegen an. „Wie beim ‚Kottan‘.“

„Ja, nur dass wir noch alle Türen haben.“

„Das kann sich aber ändern …“ Wieder ließ Zedlnitzky seine Zähne blicken.

„Das wär’ keine so gute Idee. Immerhin ist es dein Auto – und kein Streifenwagen.“

„Ah ja. Na gut, dann besser nicht.“ Und nach einer kleinen Pause. „Also, gemma’s an.“

Der Wagen beschrieb eine Kurve und reihte sich schließlich auf der Abbiegespur Richtung Zweierlinie ein, ehe sie selbige bis zur Sezession entlangfuhren, deren charakteristisches goldenes Weinblattdach in der Sonne funkelte. Sie ließen den Naschmarkt rechts liegen und bogen erst nach links Richtung Karlsplatz, gleich danach aber nach rechts in die Operngasse ein.

Sie tuckerten eine gute Weile hinter einem Bus der Linie 59A her, was in Zedlnitzky die Frage aufkommen ließ, seit wann diese nicht mehr „61A“ hieß. Pospischil zuckte nur mit den Schultern und meinte, das sei doch letztlich „wurscht“. Eine Argumentation, gegen die sich schwerlich etwas einwenden ließ. Bei der Station „Große Neugasse“ konnten sie das schwere Gefährt endlich überholen, und zwei Gassen weiter bogen sie beim Antiquitätenhändler Engels ein weiteres Mal nach links ab. Dem folgte eine Tierhandlung und das Gasthaus Grammanitsch, neben dem sich seit einigen Jahren ein neuer Gemeindebau befand, der auf eine merkwürdige Art mit den Biedermeierhäusern kontrastierte, welche die andere Straßenseite zierten. 50 Meter weiter befand sich eine stillgelegte Fabrik, gleich daneben residierte eine Jugendpostille, soweit sich Zedlnitzky erinnerte.

„Nummer 4. Da samma“, statuierte Pospischil und riss seinen Kollegen damit aus dessen Gedanken. Zedlnitzky parkte den Wagen vor dem gegenüberliegenden Haus, ein wenig irritiert über die Abbildung der Stephanskrone, die sich formatfüllend über die Hauswand erstreckte.

Sie stiegen aus und hielten auf die beiden Streifenwagen zu, welche gleichsam den Tatort abschirmten. Zwei Uniformierte salutierten vor ihnen und meinten nur, der Tote liege im ersten Stock. Pospischil und Zedlnitzky nickten synchron und betraten dann das Gebäude. Sie brauchten nicht lange nach dem Fundort der Leiche zu suchen, denn das ganze Haus schien zusammengelaufen zu sein.

„Na, servas. Das ist ja ärger als am Kirtag“, ließ sich Pospischil vernehmen. Sie verschafften sich Zutritt zur entsprechenden Wohnung, die sich als Ordination entpuppte.

„Der Itaker war ein Doktor?“, fragte Zedlnitzky ohne eine Antwort zu erwarten.

Im Behandlungsraum wurden sie fündig. Ein Mann von knapp 70 Jahren, klein, weißhaarig und drahtig, lag mit dem Gesicht nach unten auf einem Perserteppich. Auf den ersten Blick schien er zu schlafen, und erst bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass sein Hinterkopf eine blutende Wunde aufwies.

„Den hat jemand erschlagen“, entfuhr es Pospischil.

„Ja, und zwar mit einem stumpfen Gegenstand, wie es so schön heißt“, erläuterte ein Mann in weißem Ärztekittel, in dem Zedlnitzky den Pathologen Weber erkannte. Der fuhr in der Zwischenzeit ungerührt fort. „Es könnte eine Büste gewesen sein, eine Steinvase oder sonst irgendein Staubfänger. Jedenfalls aber keines der hier noch vorhandenen Objekte.“

„Das heißt, der Mörder hat die Tatwaffe verschwinden lassen?“

„Blitzgneißer!“ Weber lächelte schmal.

„Wer war der Tote?“, erlöste Zedlnitzky seinen Kollegen von dessen Existenz auf der Schaufel.

„Ein hierorts praktizierender Dentist. Walter Dinotti“, meldete sich eines der Streifenhörnchen, „wir haben schon im Zentralen Melderegister angerufen. Er hat hier seit 1956 seine Praxis. Geboren 1914 in Wien. Wohnhaft in der Anton-Krieger-Gasse im …“

„23. Hieb“, ergänzte Zedlnitzky. „Ein Zahnarzt also.“

„Na servas“, bemühte Pospischil wieder seine Lieblingsphrase, „das weitet den Kreis der Verdächtigen ins Unendliche aus.“

Zedlnitzky legte die Stirn kraus. „Wie kommst jetzt auf diese Idee?“

„Na geh bitte, ich mein, ein Mundklempner! Kennst du irgendjemanden, der die nicht hasst?“

„Na ja, aber deswegen bringt man sie ja nicht gleich um. Außerdem – der war ja mindestens 71! Wieso ordiniert der dann noch?“ Er erntete nur ratlose Mienen auf seine Frage. „Gut. Das stellen wir später fest. Wer hat den Mord überhaupt gemeldet?“

Das Streifenhörnchen konsultierte seinen Notizblock. „Die Frau Gudrun Walter. Sie hätte um 7 Uhr 30 einen Termin für eine Wurzelbehandlung g’habt …“

„Ist die noch da?“

„Ja. Sie sitzt nebenan im Wartezimmer.“

Zedlnitzky trat durch die Tür in den Nebenraum. Dort saß eine überaus attraktive Brünette Mitte 30, die ein wenig aufgewühlt wirkte, was ihn aber nicht im Mindesten verwunderte. Schließlich fand man nicht jeden Tag einen Toten.

„Geht’s, gnä’ Frau?“, fragte er höflich. Die Frau nickte. Zedlnitzky machte eine schnelle Geste in Richtung des Uniformierten. Indem er zweimal ganz flott eine Trinkbewegung imitierte, gab er dem Mann zu verstehen, er solle der Walter ein Glas Wasser bringen. Dann setzte er sich langsam auf einen freien Stuhl.

„Können Sie mir sagen, was Sie wahrgenommen haben, Frau Walter?“

Diese räusperte sich. Genau in diesem Augenblick brachte der Polizist das Wasser, welches sie dankbar entgegennahm. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, fing sie langsam zu sprechen an.

„Ich hätt’ eine Wurzelbehandlung gebraucht. Und weil ich seit 20 Jahren beim Doktor Dinotti bin, wollt’ ich halt, dass er das macht. Eigentlich hat er ja um diese Uhrzeit keine Ordination, aber weil ich es war, hat er g’meint, ich soll um halb acht da sein, dann richtet er mir das.“

Zedlnitzky gab zu verstehen, dass er verstanden hatte. „Also hab’ ich zur vereinbarten Zeit an die Tür geklopft, und die ist auf einmal aufgegangen. Ich hab’ einen Moment gezögert, doch dann bin ich reingegangen. Ich hab den Herrn Doktor gerufen, aber keine Antwort bekommen. Also bin ich weiter. Ich weiß ja, wo das Wartezimmer ist. Ich wollt’ mich eben hinsetzen, als ich ihn durch die offene Tür im Behandlungszimmer liegen gesehen hab’.“

„Und was haben Sie dann gemacht?“

„Ich bin natürlich sofort hin. In seinem Alter denkt man natürlich zuerst an einen Schwächeanfall. Oder an einen Infarkt oder so etwas. Aber dann hab’ ich das Blut gesehen.“

Zedlnitzky nickte mitfühlend, als sich die Frau die Hand vor den Mund hielt.

„Mir ist richtig schlecht geworden. Ich bin zum Fenster gegangen. Das war offen. Dort hab’ ich Frischluft geschnappt und versucht, mich zu beruhigen. Und dann, ja, dann bin ich zurück ins Vorzimmer und hab’ vom dortigen Telefon aus die 133 gewählt.“

„Haben Sie sonst irgendetwas angefasst?“

Die Walter sah ihn direkt an. „Ich weiß nicht. Kann sein. Ich war so außer mir, dass ich darauf nicht geachtet hab’.“

„Ja, das ist verständlich, Frau Walter. Es ist nur möglich …“, er zögerte ein wenig, da er nicht taktlos erscheinen wollte, „dass wir dann vielleicht Ihre Fingerabdrücke bräuchten. Wissen S’, damit wir die gegebenenfalls zuordnen können.“ Nun war es wieder an der Walter, zu nicken.

„Und, Sie waren schon lange Patientin bei Doktor Dinotti?“

„Nun ja, das hat sich so ergeben. Ich habe Anfang der Siebzigerjahre hier in der Krongasse gewohnt, und da war er im wahrsten Sinn des Wortes naheliegend.“

Zedlnitzky nickte.

„War die Praxis auch damals schon so …“, er suchte nach dem passenden Wort, „verwaist?“

Die Walter sah ihn verständnislos an. Offenkundig hatte sie den Sinn seiner Frage nicht erfasst.

„Na, hier sieht es nicht danach aus, als gäbe es besonders viel Betrieb. … Keine anderen Patienten“, meinte er und umschrieb das Gesagte mit einer raumgreifenden Geste. „Immerhin haben wir es nach neun Uhr, und niemand ist gekommen, um sich behandeln zu lassen.“

„Nun ja, der Herr Doktor war ja schon siebzig. Ich weiß nicht, ob er noch viele Patienten behandelt hat. Ich selbst komme ja auch nur noch aus alter Anhänglichkeit zu ihm.“

Das schien einleuchtend zu sein. Zedlnitzky machte sich geistig eine Notiz. Gleich nach dem Gespräch würde er die Ordination nach den Unterlagen mit den Behandlungen durchsehen.

„Aber er wird doch eine Ordinationshilfe beschäftigt haben. Und eine Sekretärin, eine … Empfangsdame.“

„Tut mir leid. Darüber weiß ich nichts“, sagte die Walter. „Ich meine, ja, früher schon. Jetzt, glaube ich, macht seine Frau für gewöhnlich den Empfang. Und wenn es nötig ist, dann hilft sie auch im Behandlungszimmer aus.“

„Gut, Frau Walter. Ich denke, das war vorläufig alles. Wenn Sie noch die Güte hätten, uns Ihre Fingerabdrücke zu überlassen, dann war’s das auch schon.“ Er rang sich ein Lächeln ab. Dann wendete er den Kopf und rief in den Nebenraum: „Hackl, kannst du einmal übernehmen?“ Zedlnitzky stand auf und gab der Frau die Hand. Er nickte noch einmal und ging wieder in jenen Raum, in dem immer noch der Ermordete lag.

Nichts deutete auf eine Auseinandersetzung hin. Alles war in penibelster Ordnung. Daraus folgerte Zedlnitzky, dass Dinotti aus irgendeinem Grund seinem Mörder den Rücken zugekehrt und dieser erbarmungslos zugeschlagen hatte. Und weiters war daraus zu schließen, dass es nicht um materielle Motive gegangen war. Der Mörder hatte nichts gesucht und wohl auch nichts an sich genommen, denn allein die goldene Uhr des Toten war sicherlich ein Vermögen wert. Zedlnitzky ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. Direkt neben dem schwarzen Schreibtisch befand sich ein metallischer Aktenschrank. Er trat näher, griff an die erste Lade, zog sie heraus. Der Schrank war nicht verschlossen. „Na bitte“, sagte er sich mit einem Lächeln, „die Patientenakten.“

Dinotti war offenbar schon auf dem Weg in den Ruhestand gewesen, denn die Kartei erwies sich als erstaunlich schütter. Pro Buchstaben gab es kaum mehr als zehn Namenskärtchen, von denen viele jedoch seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Überschlagsmäßig hatte der Zahnarzt zuletzt nur noch rund 40 bis 50 Personen regelmäßiger betreut. Nun, das machte die Sache überschaubarer.

Mittlerweile war Hackl wieder zu ihm zurückgekehrt. „Die Frau Walter hab’ ich mit der Funkstreife nach Hause fahren lassen. Was jetzt?“

Zedlnitzky deutete auf den Aktenschrank. „Schau dir diese Karteikarten durch, ob dir darunter irgendein Name auffällt. Du weißt schon, etwas, das wir wissen sollten. Ich geh’ einmal nach unten und frag die Hausmeisterin, was sie uns zu dem Dinotti sagen kann.“

Im Erdgeschoss wurde er fündig. Über der Tür befand sich ein Metallschild mit der Aufschrift „Hausbesorger“. Auf der Tür ein wesentlich kleineres, auf dem der Namenszug „Matic“ eingraviert war. Er läutete an. Nichts tat sich. Zur Sicherheit klopfte er, doch abermals war keine Reaktion zu erkennen. Unwillkürlich musste er an die alte Polizeiweisheit denken, dass niemand mehr über ein Haus wusste als die jeweilige Hausmeisterin. Doch dieser ehrenwerte Berufsstand war auch nicht mehr, was er einmal gewesen ist. Früher war ein Hauswart rund um die Uhr auf den Posten!

Zedlnitzky kramte gerade in seinen Taschen, um eine Visitenkarte zu hinterlassen, als das Haustor aufging. „Was du wollen?“, hörte er eine rauchige Stimme in seinem Rücken. Er drehte sich um. Eine etwa 50-jährige, leicht füllige Frau mit bemerkenswert auftoupierten pechschwarzen Haaren und je einem Plastiksackerl in jeder Hand kam auf ihn zu. „Bin ich Matic Suza. Bin ich Hauswart“, stellte sie sich vor. Zedlnitzky wollte zu einer Erklärung ansetzen, als sie eine Tasche abstellte und eine begütigende Geste machte. „Weiß ich schon. Polizei. Weil Doktor ist tot oben.“ Dabei deutete sie mit dem Zeigefinger vage in Richtung erster Stock.

„Genau. Und darum bräuchte ich jetzt von Ihnen einige Auskünfte, Frau Matic.“

Die Hausmeisterin gab ihm zu verstehen, er möge ihr folgen. Einen Moment später stand er in einem engen, lichtlosen Vorzimmer mit drei Türen an der linken Seite, wohingegen sich auf der rechten Seite eine längere Garderobe und ein Ganzkörperspiegel befanden, während es am Ende des Raumes eine weitere Tür gab. Aus Erfahrung schloss Zedlnitzky, dass die ersten drei Türen zum WC, zum Bad und zur Küche führten, sodass der Eingangstür gegenüber wohl das Wohnzimmer angesiedelt war. Und genau dorthin führte ihn die Matic nun.

„Willst du trinken etwas? Wasser, Bier, Slibowitz?“

Zedlnitzky hätte gerne Ja zum mittleren Angebot gesagt, doch er fand, es mache sich nicht gut, wenn man als Polizist ein alkoholisches Getränkt annahm. „Ein Glas Wasser, wenn Sie hätten“, statuierte er daher.

Er setzte sich in einen der beiden Lederfauteuils und wartete auf die Frau, die in die Küche gegangen war, um sein Wasser zu bringen. Das Wohnzimmer, so befand er, unterschied sich in nichts von so vielen anderen in dieser Stadt. In der Mitte der Rückwand thronte eine große Couch, die links und rechts von zwei Sesseln flankiert war, während in der Mitte des Ensembles ein dunkelbrauner Tisch stand, der mit einer weißen Häkeldecke drapiert war. Am linken Tischbein erkannte er die charakteristische Kurbel, die es ermöglichte, die Höhe des Tisches zu verstellen. Und ein schneller Blick und das weiße Stoffteil überzeugten ihn davon, dass sich darunter zwei Tischplatten befanden, sodass er sich auf seine doppelte Größe erweitern ließ. Mit ein paar leichten Verrichtungen konnte man so aus einem Beistelltisch ganz leicht einen Esstisch machen, weshalb dieses Möbel vor einigen Jahren überaus populär gewesen war, vor allem bei jenen Familien, deren Platz eher beengt genannt werden musste.

Der Sitzgruppe gegenüber befand sich der Wandverbau, auch dies ein Klassiker. Wie gewohnt sehr massiv und in dunklem Holz gehalten. Rechts und links wies eine solche Konstruktion in der Regel Bücherregale auf, während zentral eine große, freie Fläche Platz für den Fernseher bot, über den sich dann, wie auch in diesem Fall, eine kleine, verglaste Fläche dazu eignete, eine Art Zimmerbar darin zu beherbergen. Ergänzt wurde dieser wuchtige Schrank durch eine im Vergleich grazile Anrichte, auf der eine Emailschale stand, die man für Obst ebenso wie für diverse Knabbereien verwenden konnte. Gleich daneben, auch dies nachgerade charakteristisch für das Wiener Wohnen, das Telefon. Und, wie sollte es anders sein, darunter ein weiteres Häkeldeckchen.

Zedlnitzkys Blick wanderte zurück auf seine Seite des Raumes und schweifte dabei über die Fensterfront. Na bitte, dachte er, Jalousien und weiße Vorhänge. Wie in wohl einer Million anderer Wohnungen in dieser Stadt auch. Die Matics hielten sich an das hierorts Gängige.

Ebenso war es üblich, über der Couch einen Ölschinken zu platzieren, der vielleicht als einziger in solchen Zimmern Raum für etwas Individualität bot. In eher konservativ eingestellten Häusern fand man an dieser Stelle ein Alpenmotiv, mitunter auch noch den berühmten röhrenden Hirschen, während in den Wohnungen der jugoslawischen Gastarbeiter meist südliche Landschaften vorherrschend waren. Dieses Gemälde zeigte das blaue Meer mit ein paar Schiffen und auf der rechten Bildseite eine Art Hafen sowie, daran anschließend, ein mittelalterlich anmutendes Häuserensemble. Zedlnitzky kam die Szenerie ziemlich italienisch vor.

„Zadar. In Kroatien“, klärte ihn die Matic, die mit dem Glas Wasser zurückgekehrt war, auf. „Ist Stadt der Geburt von meine Mann. Bild erinnert ihn an Heimat.“ Dabei lächelte sie.

Zedlnitzky gestand sich ein, sie hätte auch Tsingtao sagen können. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich dieses Zadar befand. Aber deswegen war er auch nicht hier. Er blickte auf den schweren gläsernen Aschenbecher, der sich auf dem Tisch befand.

„Ist es gestattet?“

„Bitte“, sagte sie nur.

Er holte seine „Smart Export“ hervor und zündete sich eine an. Dabei fiel ihm auf, dass die Matic ebenfalls eine Packung hervorgeholt hatte. Mit einer leicht gehobenen Augenbraue registrierte er, dass er die Schrift nicht zu lesen vermochte.

„Drina“, erriet sie seinen Gedanken. „Sind von zu Hause. Legal! Eine Stange für Person.“ Unweigerlich musste Zedlnitzky lächeln. Selbst wenn die Matic die Zollbestimmungen umgangen hätte, es wäre auch nicht seine Sache gewesen.

„Nun, Frau Matic, wie gut kannten sie das Opfer. Den Herrn Dinotti, meine ich.“

Die Matic blies Rauch aus und sah haarscharf an Zedlnitzky vorbei. „Ich nicht kann sagen, dass bin gekennt gut. Er immer war … wie sagt … distanciran …“

„Sie meinen, er war distanziert?“

„Da … ja. Nicht viele Worte. Immer nur guten Tag, wie geht? Nie mehr.“ Zedlnitzky befand, ein Nicken konnte an dieser Stelle nicht schaden. Gleichzeitig hielt er seinen Blick auch weiterhin erwartungsvoll auf die Frau gerichtet. „Und Doktor war alt. Nicht mehr viele Menschen bei ihm. Hat auch nicht gearbeitet oft. Nur drei Tage in Woche.“ Wieder bewegte Zedlnitzky seinen Kopf auf und ab.

„Früher das war anders. Er viele hat … doraditi … handel… handelt?“

Zedlnitzky fühlte sich dazu berufen, der Frau beizuspringen. „Sie meinen, früher hat er viele behandelt.“

Nun nickte sie. „Aber mein Mann sagt, er gar kein Doktor. Nur Zubotehnicar … Dentist. Viele gehen lieber zu echte Zubar … zu Arzt für Zahn.“

Jetzt nickte Zedlnitzky wieder.

„Früher oft auf Gang haben gewartet Menschen schon ganz früh. Heute niemand kommt. Weiß nicht, warum er hat offen noch.“

Zedlnitzky hatte da so seine Ahnung. Wahrscheinlich gestand sich der alte Dinotti nicht ein, dass es Zeit war, die Segel zu streichen. Und mit der Praxis, auch wenn nur noch wenige Patienten kamen, mochte er sich das Gefühl erhalten haben, noch nicht zum alten Eisen zu gehören.

„Ist ihnen heute irgendetwas aufgefallen in der Früh?“, fragte er schließlich.

„Nein. Alles wie immer. Wie jeden Tag. Aber heute auch nicht Tag für Stiegenwaschen und Geländerputzen. So ich auch nicht war oben in erste Stock. Doktor nicht gesehen. Habe Wäsche gewaschen, dann ich bin gegangen einkaufen. Und jetzt ich bin wieder zurück.“

Zedlnitzky erinnerte sich daran, dass dieses Haus bereits eine Sprechanlage aufwies. Es gab also keinen Grund mehr für eine Hausmeisterin, morgens um 6 das Haustor aufzusperren. Das aber bedeutete, dass sich keinesfalls sagen ließ, wann Dinottis Mörder das Haus betreten hatte. Andererseits war es kaum anzunehmen, dass er sich mitten in der Nacht Zutritt verschafft hatte, um dann stundenlang darauf zu warten, dass der Dentist ebenfalls in der Krongasse ankam. Viel wahrscheinlicher war wohl, dass die beiden entweder direkt einen Termin vereinbart hatten und sich also, wenn auch nur oberflächlich, kannten, oder aber, dass der Täter seinem Opfer hierher gefolgt war.

„Sie wissen also nicht, wann der Herr Dinotti heute hier eingetroffen ist?“

„Tut mir leid, nein. Aber das wird wissen seine Frau.“

Zedlnitzky war, als wäre ihm eben ein Stromstoß verabreicht worden. Natürlich! Die Ehefrau! Die ihm auch als Ordinationshilfe zur Seite stand. An die hatte er bislang gar nicht gedacht.

„Frau Matic. Vielen Dank erst einmal. Auch für das Wasser. Ich darf mich, falls ich noch etwas brauchen sollte, nochmals an Sie wenden, ja?“

Matic blieb das abschließende Nicken.

Als Zedlnitzky wieder in der Ordination eingelangt war, suchte er Hackl.

„Und? Simma da fertig? Gut! Dann fahren wir jetzt einmal in die Kriegergasse und bringen seiner Frau das da schonend nahe.“ Er nickte Pospischil und den anderen von der KTU zu und verließ dann mit Hackl im Schlepptau das Haus.

Sie stiegen in den Wagen, und Zedlnitzky hielt auf die Wiedner Hauptstraße zu, wo er nach rechts einbog, um ihrem Verlauf bis zum Matzleinsdorfer Platz zu folgen. Dort bog er neuerlich rechts ab und fuhr ein Stück dem Gürtel entlang, ehe er den Wagen nach links in die Eichenstraße lenkte. Bei der Philadelphiabrücke angekommen, ließen sie die Meidlinger Kaserne links liegen und bogen in die Edelsinnstraße ein, die sie nach weiteren fünf Minuten in die Fasangartengasse führte. Hackl blies gepresst Luft aus. „Das dauert heute wieder“, schnarrte er. „Na ja“, hielt dem Zedlnitzky entgegen, „ich kann ja kaum die Zwetschgen für eine solche Fahrt aufdrehen.“ Hackl seufzte: „Auch wieder wahr.“

Gemächlich tuckerten sie die Atzgersdorfer Straße entlang. „So, bis daher war alles klar. Aber wie geht’s jetzt weiter?“ Zedlnitzky sah seinen Kollegen fragend an. „Na wie schon“, gab der unwillig zurück, „rein in die Rosenhügelstraße, und dann einfach bis nach Mauer.“ Er folgte den Anweisungen und kam so endlich in die gewünschte Gasse.

Eine halbe Stunde, nachdem sie in Margareten aus der Parklücke gebogen waren, hatten sie schließlich Dinottis Wohnhaus erreicht. Dieses entpuppte sich als eines der eher billigen Einfamilienhäuser, die vor allem in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren in dieser Gegend errichtet worden waren. Zedlnitzky schätzte das Anwesen auf circa 500 Quadratmeter Eigengrund und rund 100 Quadratmeter Wohnfläche. Damals war so etwas relativ billig zu haben gewesen, und ein Dentist verdiente in jener Zeit sicher nicht schlecht.

Doch nicht nur Dinotti selbst war in die Jahre gekommen. Das Haus sah einigermaßen verwittert aus. Der Verputz, ursprünglich sicher einmal weißgrau, wies nun eine eher schwarzgraue Färbung auf. Links von der Eingangstür waren einige Latten angebracht, auf denen sich wohl Efeu hätte emporranken sollen. Doch davon war nichts zu sehen. Der Zaun konnte einen neuen Anstrich vertragen, und das Gras im Vorgarten war wohl lange nicht mehr mit einem Rasenmäher in Berührung gekommen.

„Für einen Heimwerker gäb’s hier viel zu tun“, merkte denn auch Hackl an, nachdem sie das Gartentor geöffnet hatten und die wenigen Schritte bis zur eigentlichen Haustür zurücklegten. Zedlnitzky atmete kurz durch und läutete dann an.

Nach einer kleinen Weile öffnete ihnen eine verhutzelte Alte, die gleichwohl peinlich auf ihr Äußeres bedacht zu sein schien. Sie trug schwarze Lackschuhe, deren Glanz in der Mittagssonne aufblitzte. Der lange, gleichfalls schwarze, Rock reichte bis weit über die Knie und erweckte den Eindruck, aus feinem Stoff zu sein. Über einer blütenweißen Bluse trug sie eine eher rurale Weste, die Zedlnitzky an die diversen Trachtenjanker erinnerte, die in konservativen Kreisen gern getragen wurden. Auf der rechten Brustseite hing eine schwere Brosche, während um den Hals eine Perlenkette gelegt war. Das Haar, wiewohl schon ziemlich weiß, war hochtoupiert, was der Frau eine gewisse Strenge verlieh.

„Sie wünschen?“

Sie zeigten ihre Legitimationen. „Frau Dinotti?“

„Frau Medizinalrat Dinotti“, korrigierte sie die beiden.

„Wir haben Ihnen etwas mitzuteilen. Dürfen wir eintreten?“

Die alte Dame bewegte sich keinen Millimeter. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, was dem hart geschnittenen Gesicht zusätzliche Schärfe verlieh. Dann klappte ganz plötzlich die Kinnlade nach unten, und die Augen, eben noch kaum sichtbar, weiteten sich vor purem Entsetzen. „Es geht doch nicht etwa um meinen Mann“, flüsterte sie.

„Frau Medizinalrat, wenn wir bitten dürfen“, insistierte Zedlnitzky, ohne auf die Frage der Frau einzugehen. Er bewegte seinen Oberkörper nach vor, sodass er der Frau merklich nahe kam. Diese wich, wie er es erwartet hatte, zurück, wodurch es ihm und Hackl möglich war, ins Innere des Hauses zu gelangen. Er blickte sich kurz um und schlug dann den Weg ins Wohnzimmer ein. Erst dort drehte er sich um.

„Ich denke, Sie sollten sich setzen, Frau Medizinalrat.“

Diese wirkte geschockt und kam der Anregung wie in Trance nach. Ein Roboter, dachte Zedlnitzky, hätte eleganter Platz genommen. Gern hätte er die Aufgabe, die er nun zu erfüllen hatte, Hackl überlassen. Doch er war der Rangältere, also war es an ihm, aus den Ahnungen der Frau schreckliche Gewissheit werden zu lassen. „Also, Frau Medizinalrat“, begann er schließlich, „es ist meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Mann heute früh ermordet worden ist.“

Für einen kurzen Augenblick zeigte die Frau überhaupt keine Reaktion. Sie wirkte wie erstarrt. Dann erst kam ein Satz, der so langsam und monoton vorgetragen wurde, dass er nichts Menschliches an sich zu haben schien. „Ermordet, sagen Sie?“

„Ja, so leid es mir tut. In seiner Ordination. Er wurde dort gegen halb acht Uhr morgens gefunden. Und das führt uns zu der ermittlungstechnisch enorm wichtigen Frage: Wann ist er heute von hier weggefahren?“

Erwartungsgemäß reagierte die Witwe nicht. Zedlnitzky beugte sich leicht in ihre Richtung vor und senkte dabei seine Stimme. „Ich weiß, wie schrecklich das für Sie ist, gnädige Frau. Aber ich bin mir sicher, Sie wollen doch auch, dass der Mörder Ihres Mannes gefasst wird. Und daher müssen wir von Ihnen wissen, wann Ihr Mann heute das Haus verlassen hat.“

„6 Uhr 45“, kam es gespenstisch aus ihrem Mund. Unwillkürlich pfiff Zedlnitzky durch die Zähne. Das war eine brisante Information. War diese Aussage korrekt, dann blieb für die Tat ein Zeitfenster von maximal 30 Minuten, denn selbst zu dieser frühen Stunde hatte der Mann nach Margareten sicherlich eine gute Viertelstunde gebraucht, und die Frau Walter hatte ihn wenige Minuten nach halb acht Uhr gefunden.

„Und wieso wissen Sie das so genau, gnädige Frau?“, ließ sich Hackl vernehmen. Mechanisch drehte die Dinotti ihren Kopf in seine Richtung.

„Der Digitalwecker. Er ist auf dem Küchentisch gestanden. Ich habe draufgeschaut, als er die Tür zugemacht hat.“

Plötzlich und unerwartet ging ein Beben durch ihren Körper. Die Frau wurde durchgeschüttelt, als säße sie auf dem elektrischen Stuhl. Dann brach sie ein Weinkrampf Bahn. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte hemmungslos. Die beiden Beamten sahen einander ratlos an. Zedlnitzky hätte einiges darum gegeben, dass jetzt eine Frau an seiner Seite säße, denn die hätte die Alte vielleicht in den Arm nehmen und trösten können. Doch sie als junge Ermittler hatten ein solches Vorgehen nicht in ihrem Programm.

Krächzend fragte er, ob sie vielleicht ein Glas Wasser wolle.

Doch die Frau heulte nur wie der sprichwörtliche Schlosshund.

„Es gibt“, fing er umständlich noch einmal an, „psychologische Hilfe, die von der Polizeidirektion angeboten wird. Wenn Sie wollen, können wir Ihnen jemanden schicken.“ Er war sich sicher, dass ihn die Frau nicht gehört hatte.

Er stand auf und ging in den Vorraum, wo er beim Hereinkommen das Telefon ausgemacht hatte. Er hob den Hörer aus der Gabel und wählte die Nummer der Auskunft. Als sich dort das Fräulein vom Amt meldete, sagte er nur: „Geben Sie mir die Telefonnummer von einem Arzt in Liesing. Am besten Anton-Krieger-Gasse.“ Nach einer halben Minute wurde ihm der Anschluss eines Allgemeinmediziners durchgegeben, den er sofort anrief.

„Herr Doktor?“, begann er, nachdem er von der Ordinationshilfe durchgestellt worden war, „Gruppeninspektor Zedlnitzky, Sicherheitsbüro Wien. Wir haben da einen Notfall. Eine Frau, deren Mann eben ermordet wurde, hyperventiliert. Können Sie schnell vorbeikommen und ihr helfen?“

Zwei Minuten später befand er sich wieder im Wohnzimmer. Er legte die Hand begütigend auf die Schulter der alten Frau: „Es ist gleich jemand da“, sagte er leise. Mehr fiel ihm nicht ein.

Er konnte kaum glauben, dass seit seinem Telefonat nur fünfzehn Minuten vergangen waren, als der Arzt eintraf. Ihm war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Der Doktor überblickte die Lage in bemerkenswerter Geschwindigkeit und führte die Frau in ihr Schlafzimmer. Dort verabreichte er ihr ein Valium und wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann kam er zurück ins Wohnzimmer.

„Sie schläft jetzt, was gut ist. Aber sie sollte nicht allein sein, wenn sie aufwacht. Hat sie jemanden, der sich um sie kümmern kann?“

Zedlnitzky biss sich auf die Lippe. Danach hätte er sie fragen müssen. Er wusste ja noch nicht einmal, ob die Dinottis Kinder hatten. Und in einer Reihenhaussiedlung ließ sich auch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die Nachbarn gut aufeinander zu sprechen waren. Er sah sich im Wohnzimmer um. Im Eck entdeckte er ein gerahmtes Foto, welches das Ehepaar mit einem Mädchen zeigte. Offenbar gab es eine Tochter. Er nickte dem Arzt zu und nahm noch einmal das Telefon zur Hand.

„Ja, servus, Zedlnitzky hier. Du, ich bräuchte eine Meldeauskunft. Wer wohnt aller auf folgender Adresse? Anton-Krieger-Gasse …“ Er zögerte einen Augenblick, bis ihm Hackl die Hausnummer zuraunte, die er sodann laut wiederholte. „Nur die zwei? War früher hier noch wer gemeldet?“

Inständig dankte er für die Erfindung des Computers, denn noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Information nicht unter einer Stunde zu haben gewesen. Doch seit zwei, drei Jahren waren alle Meldedaten elektronisch erfasst, sodass es nur wenige Minuten dauerte, bis man das gewünschte Ergebnis vorliegen hatte.

„Eine Pia, Jahrgang 1956? Aha. Haben wir da eine aktuelle Adresse? … 7. Bezirk, Zieglergasse. Sehr gut. Vielen Dank auch.“

Er legte wieder auf und öffnete die Schublade, die sich direkt unter dem Telefon befand. Wie erhofft lag darin ein schwarzer Kalender. Er nahm ihn zur Hand und blätterte das am Ende befindliche Telefonverzeichnis durch. Unter dem Buchstaben „P“ wurde er fündig. „Pia“, stand da, ergänzt um eine Nummer, die Zedlnitzky nun als Nächstes wählte. Eine Frauenstimme meldete sich.

„Frau Pia Dinotti?“, fragte er. „Nein? Aha, nicht da. … Im Tanzstudio. Verstehe. Haben Sie da eine Nummer? … Ja, Augenblick“, er machte eine hektische Bewegung mit der linken Hand, um Hackl zu verstehen zu geben, er brauche Papier und Stift. Dieser begriff und legte beides vor dem Kollegen auf das Tischchen. Eilig notierte Zedlnitzky die angegebene Kombination, ehe er sich bedankte.

Als er die Tochter endlich erreicht hatte, meinte er nur, ihrer Mutter ginge es nicht gut und sie solle, so schnell es ihr möglich sei, in die Anton-Krieger-Gasse kommen.

„So, das ist jetzt alles am Laufen“, erklärte er schließlich.

Der Arzt meinte daraufhin, er werde wohl nicht mehr gebraucht und verließ das Haus.

Zedlnitzky folgte ihm vor die Tür und zündete sich eine Zigarette an. Instinktiv blickte er auf seine Uhr. 12 Uhr mittags. Kein Wunder, dass er Hunger hatte. Aber das Essen musste vorerst warten. Denn auch wenn er nicht davon ausging, dass die Tochter relevante Hinweise geben konnte, so mochte es dennoch nicht schaden, sich mit ihr zu unterhalten. Vielleicht wusste sie ja Dinge, die in den Fall ein wenig mehr Klarheit brachten.

Obwohl die Zigarette aufgeraucht war und er sie lässig über das Gartentor auf die Straße geschnippt hatte, blieb er im Freien stehen, um sich ein wenig von der Sonne anstrahlen zu lassen. Kurz überlegte er, gleich noch eine zweite zu rauchen, doch dann fielen ihm die Nachrichten wieder ein. Vielleicht war diese Atomsache doch etwas Größeres, dann mochte es keine so ratsame Sache sein, sich länger im Freien aufzuhalten. Sicher ist sicher, dachte er sich und sah zu, dass er wieder ins Haus kam.

„Hast du das g’hört heute in der Früh, das mit dem Atomkraftwerk in Russland?“, begann er vorsichtig in Richtung Hackl, der gelangweilt in einem Bildband über die Alpen blätterte.

Einen Augenblick war sein Kollege überrascht über das plötzlich auftauchende Thema, dann zuckte er nur leicht mit den Schultern. „Ja, hab ich. Na und, was geht das uns an? Nix! Also ist es mir wurscht.“

„Na ja, aber wenn das stimmt, was die Grünen sagen, dass da so atomare Wolken entstehen, die weiß Gott wie weit verblasen werden, dann könnte das ja auch zu uns gelangen“, zeigte sich Zedlnitzky besorgt.

„Aber geh’“, winkte Hackl nur ab, „weißt eh, wie die sind. Die übertreiben doch immer maßlos. Sonst sind sie’s ja nicht.“

Zedlnitzky dachte an seine Kinder. Wenn es doch stimmte, was man über diese Strahlung behauptete, dann konnte es für sie gefährlich sein, im Park zu spielen. Und das gerade jetzt, wo es nach so langer Zeit endlich wieder schön wurde. Mit Schaudern erinnerte er sich daran, dass es Anfang April noch einmal geschneit hatte. Es war ein Samstag gewesen, und irgendwelche Studenten hatten auf dem Ring gegen die Kandidatur irgendeines Alt-Nazis für die Präsidentschaftswahlen protestiert, weshalb er einen langen Stau hatte in Kauf nehmen müssen. Damals hatte er sich damit getröstet, dass er nicht wie seine uniformierten Kollegen im Freien ausharren musste, um die Demonstranten im Auge zu behalten. Besser im Stau stehen als frieren, hatte er sich damals gesagt.

Von dem alten Nazi sprach mittlerweile freilich kein Mensch mehr, denn ein Wochenmagazin hatte sich in der Zwischenzeit auf den Kandidaten der Schwarzen eingeschossen, der angeblich auch braunen Dreck am Stecken haben sollte. Zedlnitzky interessierte sich nicht sonderlich für diese politischen Manöver, aber auch ihm war nicht entgangen, dass Waldheim, so hieß der ÖVP-Kandidat, angeblich Mitglied bei einer NS-Organisation und am Balkan irgendwie in die dortigen Kriegsverbrechen involviert gewesen war. Naturgemäß bestritt er das heftig, und seine Partei sprach von einer aus dem Ausland gesteuerten Kampagne gegen ihren Kandidaten, der sich als UN-Generalsekretär in einem bestimmten Lager Feinde gemacht habe. Schützenhilfe hatte Waldheim erst vor wenigen Tagen durch den amtierenden Bundespräsidenten erhalten, der öffentlich erklärt hatte, die Suppe sei zu dünn. Aber, so erinnerte sich Zedlnitzky, der Bundespräsident war ja selbst Wehrmachtsoffizier gewesen, und gleich und gleich geselle sich eben gern. Immerhin stand die Wahl für den kommenden Sonntag an, und dann mochten sich die Gemüter, wie er hoffte, wieder beruhigen.

Als Zedlnitzky das Gespräch über die Atomkatastrophe wieder aufgreifen wollte, hörten die beiden plötzlich das Geklimper von Schlüsseln. Gleich danach ging die Tür auf und eine attraktive Dreißigjährige stand in derselben. Aufmerksam musterte Zedlnitzky die Frau. Über ihren weißen Jogging High waren zuckerlrosa Legwarmers sichtbar, aus denen wiederum schwarze Leggings emporstiegen, welche die wohlgeformten Schenkel unterstrichen. Den Oberkörper jedoch konnte Zedlnitzky nicht taxieren, denn um den waberte ein viel zu großes schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck „Champion“. Zedlnitzky ertappte sich bei dem Gedanken, dass er sich gewünscht hätte, unter diesem T-Shirt befinde sich weiter kein Textil, denn dann wäre eine simple seitliche Drehung genug gewesen, um einen tiefen Blick auf die Brüste der Frau werfen zu können. Doch unter dem T-Shirt lugte ein hochgeschlossenes rosa Trikot hervor, das auch die Arme bis zu den Knöcheln bedeckte. Den Kopf zierte ein üppiger brünetter Haarschopf, der von einem rosa Stirnband gebändigt wurde. Alles in allem wirkte die mutmaßliche Tochter des Mordopfers, als wäre sie eben vom Set von „Flashdance“ gekommen, und Zedlnitzky gestand sich ein, dass er diese Pia Dinotti wesentlich attraktiver fand als Jennifer Beals, die in dem Film ja die Hauptrolle gespielt hatte. Er bemühte sich um ein Lächeln.

„Was ist mit meiner Mutter?“, schallte es ihm entgegen, und sein Lächeln starb einen einsamen Tod zwischen seinen Mundwinkeln.

„Frau Pia Dinotti?“, fragte er heiser.

„Nein, der Papst! Was denken Sie denn! Jetzt sagen Sie schon, was ist los?“

„Frau Dinotti, Ihre Mutter schläft jetzt. Darf ich Sie bitten, sich zu setzen?“

Die Anspannung war der jungen Dinotti in jeder Faser ihres Körpers anzusehen.

„Wie Sie mich im Studio angerufen haben, war ich gerade mit einer Tanz-Choreografie beschäftigt. Wie Sie sehen, habe ich mich nicht einmal mehr umgezogen. Also spannen Sie mich bitte nicht auf die Folter.“

Endlich hatte die Frau sich gesetzt. Doch gleich darauf sprang Pia Dinotti wieder auf. „Und wieso überhaupt Polizei, bitte schön? Wieso nicht Arzt oder Rettung? War es ein Unfall?“

„Fräulein Dinotti, Sie müssen jetzt sehr stark sein. Stärker als Ihre Mutter“, begann Zedlnitzky unbeholfen. Wie nicht anders zu erwarten, steigerte das die Unruhe der jungen Frau nur.

Und während Zedlnitzky noch um Worte rang, raunte Hackl, aus seinem Bildband nur kurz aufblickend: „Ihr Vater ist ermordet worden.“

Für einen Augenblick fürchtete Zedlnitzky, nun würde auch die zweite Frau Dinotti ärztliche Hilfe benötigen. Sie schnappte nach Luft, und ihr Brustkorb hob und senkte sich in beunruhigender Geschwindigkeit.

„Das … ist … ein verspäteter Aprilscherz, oder?“

Mit trauriger Miene schüttelte Zedlnitzky den Kopf.

„Mein Vater ist ein alter Mann und gar nicht reich. Wer sollte denn dem etwas Böses wollen?“, platzte es aus ihr heraus.

„Derzeit haben wir leider noch überhaupt keine Ahnung“, gab Zedlnitzky zu, „wir wissen nur, dass er in seiner Ordination heute zwischen 7 Uhr und 7 Uhr 30 erschlagen wurde. Aber hinsichtlich des Täters und dessen Motiv tappen wir leider noch vollkommen im Dunklen.“

Es war offensichtlich, dass Pia Dinotti gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte.

„Und darum wäre es für uns auch überaus hilfreich, wenn wir so viel als nur irgend möglich über Ihren Vater erfahren könnten.“ Dabei bemühte er sich um eine ruhige Stimmlage.

In schier unendlicher Langsamkeit drehte sie ihren Kopf in seine Richtung. „Wovon sprechen Sie?“, sagte sie beinahe tonlos.

„Na ja, könnten Sie sich vorstellen, dass Ihr Vater, nun, Feinde hatte?“

Ihr Erstaunen wirkte beinahe noch größer als ihre Verzweiflung.

„Wissen Sie“, begann Zedlnitzky daher von Neuem, „es sieht so aus, als hätte Ihr Vater seinen Mörder gekannt. Die Tür zur Ordination weist keinerlei Beschädigung auf, und in der ganzen Praxis gibt es nicht den geringsten Hinweis auf eine Auseinandersetzung. Daraus folgern wir, dass Ihr Vater seinen Mörder selbst in die Ordination eingelassen und sich in dessen Gegenwart nicht bedroht gefühlt hat.“

Pia Dinotti sah Zedlnitzky mit großen Augen an.

„Und daher vermuten wir den Täter vorerst im Umfeld Ihres Vaters, verstehen Sie?“

„Und was ist mit den Patienten?“, brachte sie endlich hervor.

„Nun, dieser Spur gehen wir natürlich auch nach. Aber in der Regel gibt es schon eine direktere Verbindung bei einem Mord als ein Arzt-Patienten-Verhältnis“, erklärte Zedlnitzky.

„Außer vielleicht bei Psychiatern“, gluckste Hackl und erntete dafür prompt einen strafenden Blick seines Kollegen.

Auch die junge Dinotti wandte sich dem zweiten Beamten zu, und Zedlnitzky erkannte in ihrem Blick rasch aufsteigenden Zorn. „Ist das lustig für Sie – oder was?“, fauchte sie. Mit einer Energie, die Zedlnitzky der Frau in diesem Augenblick gar nicht zugetraut hätte, sprang sie auf. „Mein Vater ist ermordet worden, und Sie reißen da blöde Witze“, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. „Kein Wunder, dass jeder ehrliche Mensch einen weiten Bogen um die Polizei macht. Sie sind ja nicht normal, Sie … Sie Monster!“

Zedlnitzky machte einen Schritt auf die Frau zu. Seine Hände hatte er vor seinen Körper geführt, um sie sachte nach unten und wieder nach oben zu bewegen. Er vollführte die Geste mehrmals, hoffend, dies möge eine beruhigende Wirkung auf die aufgebrachte Frau haben. „Ich muss meinen etwas taktlosen Kollegen entschuldigen. In unserem Beruf stumpft man leider ein wenig ab. Ein wenig zu sehr, wie es scheint.“

Dabei warf er Hackl einen weiteren tadelnden Blick zu. Dieser zog betroffen den Kopf ein.

„Entschuldigung“, murmelte er, „war nicht so gemeint.“

„Ich meine“, fuhr Zedlnitzky fort, „mir ist natürlich vollkommen klar, dass Sie sich jetzt um eine Menge wichtige Dinge kümmern müssen. Zuallererst natürlich um Ihre liebe Frau Mama, welche die Nachricht, wie Sie wohl verstehen werden, nicht sonderlich gut aufgenommen hat. Wir haben sofort nach einem Arzt geschickt, der ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht hat, sodass sie jetzt, wie bereits erwähnt, oben ein wenig Schlaf findet. Aber es wäre für uns natürlich überaus hilfreich, wenn Sie die Tage einmal eine Aufstellung machen könnten, mit wem Ihre Eltern befreundet sind, wen sie kennen und wer ihnen unter Umständen nicht so wohlgesonnen ist. Wer eventuell Schulden bei Ihrem Vater hatte oder sonst irgendwie ein Problem mit ihm gehabt haben könnte. Im Augenblick haben wir nicht die geringste Vorstellung, warum es zu dieser Tat gekommen ist, und daher sind wir für jeden Hinweis, und wirkt er auch noch so banal und nebensächlich, überaus dankbar. Ich hoffe, Fräulein Dinotti, Sie haben dafür Verständnis.“

Tatsächlich schien sich die Frau nun wieder ein wenig zu beruhigen. Sie fuhr sich mit der rechten Hand über den Kopf und entfernte dabei ihr Stirnband. Eine vorwitzige Locke fiel ihr direkt über das linke Auge, was, wie Zedlnitzky fand, ihrem Gesicht eine neckische Note verlieh. Unter anderen Umständen hätte er ihr an dieser Stelle vielleicht ein Kompliment gemacht, doch ihm war klar, dass jede Äußerung, die sich nicht strikt an das rein Sachliche hielt, fehl am Platz war.

„Kommen Sie soweit klar, Fräulein Dinotti? Oder sollen wir vielleicht jemanden vorbeischicken, mit dem Sie reden können? Wir haben für solche Fälle eigens geschulte Mitarbeiter.“

Sie schüttelte müde den Kopf. „Nein, nein. Es wird schon gehen. Es muss ja. Irgendwie.“

Zedlnitzky kramte in seiner Sakkotasche und förderte seine Visitenkarte zutage. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich mit uns in Verbindung setzen könnten, wenn Ihnen etwas einfällt. Unter einer dieser Nummern erreichen Sie mich auf jeden Fall.“ Er bemühte sich um ein Lächeln.

Die Dinotti lächelte nicht. Sie nahm die Karte resignierend entgegen und starrte dabei auf den Boden. Zedlnitzky wusste, es gab nichts mehr zu sagen, und so räusperte er sich, ehe er ein „Gut. Wir gehen dann einmal. Auf Wiedersehen, Fräulein Dinotti“ in den Raum schickte. Er gab Hackl ein Zeichen, sich gleichfalls in Bewegung zu setzen, und eine gute Minute später saßen die beiden wieder in ihrem Wagen.

Zedlnitzky wollte noch einen Moment seinen Gedanken nachhängen, ehe er den Wagen startete, doch Hackl stellte einmal mehr seinen Sinn für das Prosaische unter Beweis.

„Na, das war ja wieder einmal was“, begann er. Dann blickte er auf die Uhr. „Na servas, halber zwei. Kein Wunder, dass mir der Magen durchhängt auf halbe viere. Schau’n wir, dass wir wo was zu essen kriegen?“

„Du bist ein echter Gemütsmensch, weißt du das, Hackl?“

Der winkte gelassen ab. „Ach was, hin ist hin. Wem nutzt es, wann ich deswegen einen Kohldampf schieb’.“

Zedlnitzky schüttelte nur den Kopf und startete den Wagen.

Eine Viertelstunde später hatten sie wieder die Philadelphiabrücke erreicht. Zedlnitzky bog unter Missachtung der dort geltenden Verkehrsregeln in die Vivenotgasse ein und stellte den Wagen am Beginn des Gässchens ab. Einen Augenblick war Hackl verwirrt, ehe er den Stand zu seiner Linken erblickte.

„Ah, ein Würstelwarmer. Gute Idee!“

Zedlnitzky verließ das Automobil. „Die Käsekrainer sind besonders zu empfehlen“, sagte er nur.

Am Stand angekommen, bestellte er eine ebensolche mit einer Semmel. Dazu orderte er eine Dose Almdudler.

Hackl gesellte sich zu ihm. „A Eitrige mit an Bugel und a 16er Blech“, quetsche er zwischen den Zähnen hervor.

Zedlnitzky musste gegen seinen Willen schmunzeln. Das war so eine typische Halbstarkenansage, die in den letzten Jahren zunehmend an Popularität gewann. Er vermochte nicht zu sagen, was jene, die sie verwendeten, damit bezweckten. Wollten sie ihre enge Verbundenheit mit Wien und dem Wienerischen unter Beweis stellen? Ging es ihnen darum, besonders abgebrüht zu wirken? Oder hatten sie einfach nur zu viele schlechte TV-Serien aus den 70ern gesehen? Derbheit war kein Markenzeichen, mit dem man hausieren gehen sollte, befand er, auch wenn das Wienerische, wie er noch von seinem Vater wusste, an einschlägigen Ausdrücken nicht gerade arm war.

Hackl aber war anscheinend besonders in Form. Eben hatte er noch herzhaft in seine Wurst gebissen, sodass der flüssige Käse in weitem Bogen auf den Tresen spritzte, als er seinen Kollegen anstieß und mit dem Kopf in eine bestimmte Richtung nickte.

„Tuttelbär auf drei Uhr“, nuschelte er mit vollem Mund.

Auch wenn Zedlnitzky von dieser Sprache zutiefst angewidert war, so konnte er doch nicht umhin, in die gewiesene Richtung zu sehen. Tatsächlich ging da eine dralle Frauensperson von etwa 30 Jahren Richtung Bahnhof, deren BH wohl wahrhaftig Körbchengröße Doppel-D aufwies. Zedlnitzky schalt sich augenblicklich einen Hirni und konzentrierte sich wieder auf seine Mahlzeit.

Dem Kollegen entging Zedlnitzkys Schweigen nicht. „Was is’?“, ließ er sich mampfend vernehmen, „bist ja eh schon 13 Jahr’ verheiratet. Da musst du doch auch noch was anderes sehen als immer das eigene Weibi.“

Zedlnitzky richtete sich auf. „Hackl, du weißt, ich mag dich. Aber wennst so daherredest, dann krieg ich den Gizi. Also iss dein Würstel und sei stad, weil sonst bist du’s für heute g’wesen! Hamma uns verstanden?“

„Na, na, na. Mit dem falschen Fuß aufg’standen, was? Schau’n wirst ja wohl noch dürfen. Oder hat dir das die Mama auch verboten?“ Gleich darauf verstummte er, denn die Blitze, die aus Zedlnitzkys Augen schossen, ließen keine Missinterpretation mehr zu. Ein Wort mehr, und er, Hackl, würde zu Fuß ins Sicherheitsbüro zurückkehren müssen. Den Rest seiner Atzung nahm er schweigend zu sich.

Die beiden schlenderten rauchend zurück zu ihrem Wagen, als sie einen uniformierten Kollegen dabei beobachteten, wie er eben ihr Kennzeichen in ein Formular malte. Grinsend traten sie näher und musterten den Streifenbeamten sichtlich belustigt.

„Ist das Ihr Fahrzeug“, fragte dieser.

Zedlnitzky nickte.

„Da dürfen S’ ned einmal im Notfall halten. Das wird teuer, lieber Herr.“

„Für mi ned. I derf des“, entgegnete Zedlnitzky in breitem Wiener Idiom. Sein Tonfall verfehlte nicht die zu erwartende Wirkung auf das Wachorgan.

„Ein ganz ein Lustiger, was? Da, ein Organmandat. Hundert Schilling. Damit kommen S’ eh noch billig weg! Und wenn S’ jetzt auch noch frech werden, dann gibt’s eine Anzeige. Und das wird dann wirklich teuer. Haben wir uns verstanden?“

„Aber sicher, Herr Inspektor“, replizierte Zedlnitzky gelassen. Er nahm die Strafverfügung entgegen, sperrte sein Auto auf, ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen und kurbelte das Fenster hinunter. Ehe er den Motor startete, ließ er das Stück Papier melodramatisch aus dem Fenster auf den Gehsteig flattern.

„Sag einmal, sind Sie vollkommen verblödet!“ Der Uniformierte stützte seine Arme in die Hüften und starrte Zedlnitzky zornerfüllt an.

„Nein, ned vollkommen. Aber ein bisserl schon. Sonst wär ich nicht bei dem Verein da.“ Endlich machte er seinem bösen Scherz ein Ende und hielt die Kokarde in die Höhe. „Einsatz, lieber Herr Kollege! Einsatz. Immer vorher fragen, gell!“ Er wartete keine Reaktion des verdatterten Beamten ab und fuhr die Vivenotgasse abwärts in Richtung Wienzeile.

Im Sicherheitsbüro hatte sich der Kollege Pospischil in der Zwischenzeit durch die Patientenkartei geackert. Als Zedlnitzky wieder an seinem Schreibtisch eintraf, erstattete der Kollege Bericht.

„Also viel war mit dem nicht mehr los. Das kann ich dir sagen. Etliche der Karteikarten sind so vergilbt, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die stammen noch aus der Monarchie. Außerdem herrscht da ein ziemliches Chaos.“

„Chaos? Inwiefern?“

„Na ja, manchmal sind ausführliche Behandlungen aufgeführt, mit Datum, Uhrzeit und verwendeter Vorgangsweise, und in anderen Fällen steht gerade ein Datum da, ohne Hinweis auf irgendetwas anderes.“

„Aha. Und bei wie vielen Karteikarten gibt es einen Eintrag aus, sagen wir, den letzten drei, vier Wochen?“

„Das ist das Interessante. Bei nicht einmal 20.“ Pospischil machte ein ratloses Gesicht.

„Irgendjemand Auffälliger darunter?“

„Nein, gar nicht. 16 davon sind Pensionisten, großteils im Alter des Dentisten. Zwei sind praktisch Kinder, die aber wiederum dieselben Namen tragen wie einige der Pensionisten, sodass ich vermute, es handelt sich um deren Enkel. Eine Karte weist einen Hofrat aus, und die letzte ist die von der Walter.“

„Sonst niemand?“ Zedlnitzky war enttäuscht.

„Das Einzige, was mir aufgefallen ist, ist, dass es da noch eine Karteikarte gibt, die interessanterweise keinen Namen aufweist. Dafür aber das Datum 24. April, verbunden mit dem Kürzel WB, was, wie ich anhand der anderen Karten herausgefunden habe, für Wurzelbehandlung steht. Und ganz oben auf sind drei ganz dicke Rufzeichen.“

Zedlnitzky zog die Augenbrauen hoch. „Mister Unbekannt? Das klingt in der Tat spannend.“

„Na ja“, bremste Pospischil die aufkommende Begeisterung gleich wieder, „vielleicht ist ihm einfach nur der Name entfallen, als er die Karte angelegt hat. Er war ja nicht mehr der Jüngste, der Herr Dentist. Nicht wahr.“

„Aber dann hätte er das ja nicht mit der Krankenkassa abrechnen können“, entfuhr es Zedlnitzky.

Pospischil ließ seine Augen aufblitzen.

„Ah, du meinst, unser Herr Dentist hat schwarz … also gegen Cash, so an der Steuer vorbei …?“

„Du, glaubst du ernsthaft, jemand hat gerade einmal zwei, drei Patienten am Tag? Ich glaub’ das nicht. Dafür fährst du nicht mitten in der Nacht quer durch Wien. Der hat sich elegant sein Einkommen aufgebessert, da wett’ ich drauf. Wir sollten uns noch einmal ganz genau in der Ordination umschauen. Vielleicht gibt es da irgendwo einen Safe, wo er die Tausender bunkert.“

„Du, das klingt nicht unlogisch. Wir sollten uns auch seine Konten anschauen. Welche Bewegungen es da gegeben hat in letzter Zeit. Kümmerst du dich um den entsprechenden Beschluss, damit wir die Banken abklappern können?“

Pospischil nickte. „Und die Praxis?“, fragte er nach.

Zedlnitzky blickte auf seine Uhr. Kurz nach drei. „Du, das zahlt sich heute nicht mehr aus. Das machen wir morgen in der Früh. Für heute mach mir noch eine entsprechende Notiz für unseren Bericht, und dann ab mit dir in den Feierabend.“

Pospischil nahm diese Aufforderung dankbar zur Kenntnis. Nachdem er wieder in sein Büro entschwunden war, holte Zedlnitzky seinen Notizblock aus der Schublade und schrieb stichwortartig die jeweiligen Schritte des beinahe abgelaufenen Tages nieder, um für seinen abschließenden Bericht die richtige Gedächtnisstütze zu haben (Ereignisse des Tages, Kernfragen, erste Schritte, bescheidene Ergebnisse und daraus resultierende mögliche Ansätze zur Lösung des Falls).

Als er damit fertig war, zündete er sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Die Karteikarte mit den Rufzeichen, sagte er sich, konnte eine heiße Spur sein. Allerdings gab es, so gestand er sich ein, auch eine wesentlich banalere Erklärung, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Vor zwei Jahren war er mit mörderischen Zahnschmerzen erwacht und in seiner Not zum nächstbesten Arzt gefahren. Natürlich hatte er keinen Krankenschein bei sich gehabt, da er nicht die Kraft aufgebracht hatte, zuvor noch im Personalbüro vorbeizufahren, um sich einen solchen zu besorgen. Die Ordinationshilfe war zunächst abweisend gewesen. Ohne Krankenschein keine Behandlung, lautete ihr Credo. Doch irgendwie schien sie das schmerzverzerrte Gesicht Zedlnitzkys zu dauern, und so hatten sie sich schließlich darauf geeinigt, dass Zedlnitzky eine Kaution von 500 Schilling hinterlegte, die er wiederbekommen sollte, sobald er den Krankenschein nachbrachte. Natürlich war er gleich am nächsten Morgen vorbeigekommen und hatte sich sein Geld zurückgeholt. Doch bis dahin hatte in der Praxis niemand auch nur seinen Namen gewusst.

Vielleicht also war die Karteikarte nur für einen ähnlich armen Hund wie ihn angelegt worden. Mit dem Unterschied, dass dieser entweder seine Kaution nicht retour gefordert oder aber der Dentist vergessen hatte, den Namen des Patienten nachzutragen. Dennoch, schloss Zedlnitzky seinen Gedankengang, Pospischils These hatte etwas für sich. Genug jedenfalls, um ihr nachzugehen.

Hoffnungsfroh wandte er sich wieder der Uhr zu. Nur noch wenige Minuten bis 16 Uhr. Wenn jetzt kein dienstlicher Anruf mehr kam, konnte er Feierabend machen und es sich zu Hause gut gehen lassen. Zwar war er untertags nicht dazu gekommen, seine Frau zu fragen, was es denn zum Abendessen geben würde, aber was es auch sein mochte, es würde sicher gut sein. Er stand auf und leerte den Inhalt des Aschenbechers in den gusseisernen Behälter neben der Bürotür. Beschwingt bog er auf den Gang, ehe er jäh erstarrte. Oberstleutnant Schuchter kam mit erwartungsvoller Miene auf ihn zu.

„Na, Kollege, haben wir schon Ergebnisse im Fall des Dentisten?“

„Noch nicht, Oberstleutnant, aber es schaut für den Anfang nicht schlecht aus. Wir ermitteln in drei Richtungen, persönliches Umfeld, Patienten und finanzieller Hintergrund. Wir …“

„Mit einem Wort, ihr habt noch gar nichts“, schnalzte Schuchter mit der Zunge. „Na, das könnt ihr ja morgen dem Herrn Staatsanwalt auseinandersetzen. Termin in der Staatsanwaltschaft, morgen 14 Uhr. Viel Spaß bei Mutti.“

Zedlnitzky hätte dem arroganten Grinsen seines Vorgesetzten nur allzu gerne etwas entgegengehalten, doch aus Erfahrung wusste er, dass es klüger war, allfällige Kommentare hinunterzuschlucken. Schuchter klopfte ihm im Vorübergehen auf die Schulter und entschwand in den Weiten des Korridors. Na wenigstens hatte er ihm nicht den Abend verdorben, dachte Zedlnitzky und sah zu, dass er zu seinem Auto kam.

Wie üblich war der Nachmittagsverkehr die Hölle. Die Zweierlinie war bis zum Volkstheater verstopft, und er dachte fieberhaft über Alternativen nach. Als er endlich die Neustiftgasse erreicht hatte, bog er rechts ab und konnte gerade noch einen Bus daran hindern, sich vor ihm wieder einzureihen, was ihn noch mehr Zeit gekostet hätte. So aber gelangte er recht flüssig zur Schottenfeldgasse, wo er den Wagen nach links lenkte, ein beliebter Schleichweg für alle, die sich weder Gürtel noch Zweierlinie antun wollten. Dennoch schlug die Uhr im Wohnzimmer 17 Uhr, als er endlich durch die Wohnungstür trat.

„Papa, Papa, der Peter ist so gemein“, empfing ihn Jackie. Zedlnitzky sah seine Frau fragend an, die schüttelte nur missbilligend mit dem Kopf und verdrehte die Augen. „Jackie, mein Engel“, sagte er in begütigendem Ton, „Papa hatte einen ganz schweren Tag und braucht jetzt ganz dringend Ruhe. Magst du dir nicht was im Fernsehen anschau’n, hmm?“

„Darum geht es ja“, stampfte sie mit dem Fuß auf. „Der Peter lässt mich nicht.“

Zedlnitzky richtete sich auf. „Na, junger Mann, schon alle Aufgaben gemacht?“ Peter wandte seinen Blick nicht von der Flimmerkiste weg.

„Alle“, rief er über die Schulter.

„Englischvokabel gelernt?“

Der Sohn zuckte unmerklich zusammen.

„Dachte ich es mir doch!“, räsonierte Zedlnitzky. „Und ab!“

„Das ist so typisch!“ Der Sohn sprang auf, rannte in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Zedlnitzky wartete eine Minute, dann folgte er ihm. Vorsichtig machte er die Tür wieder auf. „Pass auf“, begann er, die schmollende Pose des Sohnes ignorierend, „wenn die Kleine um 8 im Bett ist, darfst du mit uns den Hauptabendfilm anschau’n.“

„Pah, auch schon was! Ich bin 12! Willst du mich behandeln, als wäre ich ein Kleinkind?“

„Du weißt doch, der Hauptabendfilm ist für mich immer der zweite.“

Der Sohn sah ihn hoffnungsfroh an: „22 Uhr 10?“

Zedlnitzky bestätigte. „22 Uhr 10.“ Um sogleich nachzusetzen: „Also gönn ihr ihren Kasperl oder was immer da gerade läuft. Du bist der Ältere. Sie muss ins Bett, du bleibst bei den Erwachsenen. Na, ist das ein Wort?“

Zögernd, aber doch signalisierte der Junior Zustimmung.

„Gut, dann sind wir uns einig. Was heißt Einigung auf Englisch?“

Peter dachte nach.

„Agreement“, flötete Zedlnitzky. „Ich denke, das sind genug Vokabel für heute. Wenn ich Feierabend habe, dann darfst du auch Feierabend machen. Also, viel Spaß derweil. Aber nicht zu laut, hörst du.“

Mit einem verschmitzten Lächeln schloss er die Tür und ging ins Schlafzimmer, um sich bequemere Kleidung anzuziehen. Zurück in der Küche genehmigte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich auf einen Sessel fallen.

„Pah, das war ein Tag. Eine Leiche in Margareten. Mordopfer. Das wird was werden!“ Er steckte sich eine „Smart“ an und beobachtete interessiert, wie seine Frau eifrig einen Teig in einer Plastikschüssel rührte. „Was wird denn das, wenn’s fertig ist?“, fragte er.

„Eiernockerl“, sagte sie, „dazu gibt’s grünen Salat.“

„Den die frechen Lauser wieder nicht anrühren werden“, hielt Zedlnitzky resigniert fest.

„Das würde ich ihnen nicht raten, sonst gibt’s nachher keine Schokolade.“

„Schokolade? Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Ich mein’, die Jackie ist doch eh schon ein bissi pummelig.“

Frau Zedlnitzky drehte sich um, und die Missbilligung war ihr deutlich anzusehen. „Pummelig? Jetzt mach aber einmal einen Punkt. Und ein bisschen Schokolade hat noch niemandem geschadet.“

Wie nicht anders zu erwarten, sah der Esstisch nach dem Abendmahl aus wie ein Schlachtfeld. Jackie hatte Salatöl, Eierreste und Nockerlstücke kreativ um ihren Teller drapiert, um anschließend ihre vollkommen mit Schokolade verklebten Finger am Tischtuch abzuwischen. Zedlnitzky war aufrichtig dankbar, als seine Frau mit der Kleinen in ihr Zimmer ging, wo sie versuchte, sie zum Schlafen zu bringen. Pünktlich um halb acht Uhr kam sie wieder zurück und setzte sich neben Zedlnitzky auf die Couch, während Peter zu ihren Füßen lag, als wäre er ihr Haushund.

Die erste Nachricht des Tages galt den Vorgängen rund um das Kernkraftwerk von Tschernobyl. Obwohl der „Zeit im Bild“-Redaktion nur ein recht unscharfes Foto vom Ort der Katastrophe vorlag, klang der Sprecher überaus besorgt. Und die kalmierenden Aussagen der interviewten Politiker, wonach es keineswegs gefährlich sei, sich auf der Straße aufzuhalten, machten die Sache objektiv noch dramatischer. Kleine Kinder und ältere Menschen, so hieß es nämlich, sollten unnötiges Verweilen im Freien vorläufig vermeiden. Frau Zedlnitzky fuhr hoch und sah ihren Mann direkt an.

„Ich hab’ die Jackie heute in die Schule gebracht und von dort wieder abgeholt. Heißt das jetzt, dass sie verstrahlt ist?“

„Ach, Blödsinn. Derweil ist noch gar nichts passiert. Kennst doch die Politiker. Die übertreiben doch immer.“

„Na ich weiß nicht. Das klingt schon ziemlich bedrohlich für mich.“

Zedlnitzky winkte ab. „Das ist wie mit den Sicherheitsanweisungen in den Flugzeugen. Reine Routine. Vergiss es. Wo ist dieses Tschernodingsbums denn überhaupt! Ewig weit weg. Bis das bei uns ankommt, falls es überhaupt je ankommt, ist das alles schon so verdünnt, das merkst du nicht einmal mehr mit dem Geigerzähler.“

Er war sich keinesfalls sicher, dass seine Ausführungen auch nur im Entferntesten der Wahrheit entsprachen, aber sie verfehlten die erhoffte Wirkung nicht. Seine Frau schien ein wenig beruhigt zu sein.

Als zweites Thema behandelte die Nachrichtensendung die Bundespräsidentschaftswahlen, die am kommenden Sonntag anstanden. Die USA hatten, so erfuhr man, den Kandidaten der ÖVP auf die Watch List gesetzt, was bedeutete, dass dieser nicht in die Staaten einreisen durfte. VP-Chef Mock kam ins Bild und kritisierte diese Vorgehensweise als unnötigen und vor allem zutiefst unfreundlichen Akt. Zedlnitzky war all das rechtschaffen egal. Er wusste noch nicht einmal, ob er wirklich zur Wahl gehen würde. Und wenn, dann wählte er sicher nicht diesen Döblinger Schnösel. Wie sagte sein Vater bei jeder Gelegenheit: „Wenn schon Kurt, dann Kurt“, womit die SPÖ daran erinnerte, dass auch ihr Kandidat diesen Vornamen trug. Der Mann war spröde und uncharismatisch, aber wenigstens kein eitler Geck, dem die Selbstgefälligkeit aus jeder Pore herausquoll. Und Zedlnitzky überlegte, ob er sich noch ein Bier gönnen sollte.

Irgendwann während des Nachtfilms stand seine Frau unvermittelt auf und begab sich mit einem „Ich glaub’, ich geh’ schlafen“ Richtung Bett. Zedlnitzky sah ihr überrascht nach.

„Peter“, schnarrte er, „du weißt, was du zu tun hast. Ich will keinesfalls das Bundesgejeier hören.“

Der Sohn hatte verstanden. Wollte er Streit mit dem Vater vermeiden, hatte er den Fernseher vor dem obligat mit der Bundeshymne begangenen Sendeschluss abzudrehen.

Zedlnitzky folgte seiner Frau und schloss hinter sich die Tür. „Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.

„Ich weiß nicht. Ich mach’ mir Sorgen. Was, wenn da mit der Atomsache wirklich eine Gefahr verbunden ist?“

Zedlnitzky trat näher an seine Frau heran, setzte sich an die Bettkante. „Weißt du, wie weit das weg ist von uns? Denk einmal an diese Atombomben im Zweiten Weltkrieg. Die gingen praktisch neben Tokio nieder. Und wie viele Menschen leben dort völlig unbesorgt und unbeeinträchtigt? Zehn Millionen, zwölf?“

Seine Frau zog eine Grimasse. „Ja, wahrscheinlich hast du eh recht“, maulte sie, „aber ich fürchte mich halt.“

„Weißt eh“, replizierte er und legte dabei seinen Arm um ihre Schulter, „zu Tod gefürchtet ist auch g’storben.“

Sie verharrte in Schweigen, während er sanft begann, sie zu streicheln. Sie ließ ihn gewähren. Er küsste ihren Nacken, worauf sie leicht erschauerte und ein wenig zurückzuckte. Gegen ihren Willen musste sie kichern. „Lass das. Sei nicht albern. Die Kinder …“

„Ach was, Peter ist froh, wenn er allein fernschau’n darf, und Jackie schläft tief und fest“, nuschelte er, während er sich ihren Hals entlang zu ihrem Ohr küsste. Seine Hand strich über ihren Rücken, tastete sich dabei langsam zu ihrem Gesäß vor. „Wenn dich etwas zum Strahlen bringt, dann will ich das sein“, hauchte er. Dabei war ihm, als würde sie tatsächlich leise schnurren. Er fuhr mit der Hand zwischen Matratze und ihrem Hintern. „Wollen wir nicht ein bisschen …?“, fragte er.

„Du“, wehrte sie ihn ab, „ich bin echt nicht in Stimmung.“

„Aber vielleicht ist das unsere letzte Chance. Ich meine, wenn du recht hast, wer weiß … .“ Dabei intensivierte er seine Küsse.

Sie entzog sich ihm. „Sehr romantisch ist das aber nicht!“, erklärte sie sachlich. „Auf diese Weise bringst du mich nicht in Stimmung.“

„Vielleicht aber auf diese“, entgegnete er und zog sie in die Waagrechte. Seine Lippen grasten jeden Quadratzentimeter Haut ihrer Wangen ab, während er gleichzeitig an den Knöpfen ihrer Bluse herumnestelte. Zehn Küsse später war es ihm gelungen, ihre Brüste aus dem BH zu befreien, und die knetete er nun mit Inbrunst, während er sein steifes Genital an ihrem Oberschenkel rieb.

„Paul“, flüsterte sie, „ich weiß echt nicht, ob …“

„Aber ich weiß“, statuierte er und drückte seine Lippen auf die ihren. Seine Hände wanderten von den Brüsten wieder zu ihrem Hintern, während er abwärts rutschte, um die bloßgelegten Brustwarzen mit seinen Lippen zu umschließen. Er saugte hingebungsvoll an ihnen, und ihre Gänsehaut bedeutete ihm, dass er es richtig machte. Nach einigen Augenblicken bog er seinen Körper durch und nutzte diese Haltung, um ihr die Hosen von den Hüften zu ziehen. Zu seiner Freude war der Slip gleich mitgerutscht, sodass ihr Unterkörper nackt unter ihm lag. Er küsste sich das Brustbein abwärts, züngelte eine kleine Weile um ihren Bauchnabel herum, ehe er weiter vom Bett herunterrutschte, um mit seinem Gesicht endlich bei ihren Schamhaaren anzukommen. Mehrmals drückte er seine Lippen gegen diese, sich dabei immer näher an ihren Spalt bewegend. Schließlich fuhr er seine Zunge aus und begann mit selbiger den neuralgischen Punkt zu suchen, den es zu lecken galt.

„Paul“, kicherte sie, „sei nicht albern. Wir sind da ja nicht in einem Porno.“ Verwirrt sah er auf, was sie zu einem Lächeln veranlasste. „Wenn du in der Position zu mir aufschaust, wirkt es, als hättest du einen Vollbart. Aber leider machst du keinen sonderlich intelligenten Eindruck dabei.“ Zedlnitzky war nahe daran, die Lust zu verlieren. Einen Augenblick verharrte er reglos in seiner Stellung, ehe sie ihn aus seiner Starre erlöste. „Na, komm schon, du Dummerchen! Wenn du partout Lust hast, dann fick mich halt.“

„Ich will aber, dass du es auch willst“, erklärte er trotzig. „Stoß nur richtig zu, mein kleiner Hengst, dann werd’ ich schon wollen“, ermunterte sie ihn. Zedlnitzky beschloss, dies als konkrete Aufforderung werten. Wild zerrte er an seiner Kleidung, bis es ihm endlich gelang, seinen erigierten Penis aus seinen Hosen zu befreien. Er strampelte ungelenk, wodurch er diese endgültig abstreifen konnte. Auch sie hatte sich mittlerweile gänzlich entkleidet. Noch bevor sie wieder richtig auf dem Bett lag, stieß Zedlnitzky sein Glied auch schon in sie hinein und begann, sich rhythmisch auf und ab zu bewegen.

Während er immer wieder in sie hineinstieß, konzentrierten sich seine Gedanken auf die vielfach gehörten Aussagen, wonach es sich für einen liebenden Mann gehörte, auch an die Frau zu denken. Er durfte also keinesfalls, so sagte er sich, einfach so kommen. Er musste warten, bis sie einen Orgasmus hatte.

Das war leichter gesagt als getan. Schon noch ein paar Stößen war er so scharf, dass er sich jeden Moment entladen konnte. Er wandte seinen Blick von ihren Brüsten ab, die ihn nachhaltig erregten, und starrte stattdessen an die Wand. „Denk an was Fades! Denk an was Fades!“, sagte er sich, während er spürte, wie ihr Becken synchron mit seinen Stößen mitging. Sie krallte ihre Hände in seine Arschbacken, dass es beinahe wehtat, doch die Art und Weise, wie sie ihren Kopf bald nach links, bald nach rechts warf, signalisierte ihm, dass er sie bald dort haben würde, wo er sie haben wollte. Ein paarmal noch halb raus und tief hinein, und sie würde in den Wonnen eines Orgasmus stöhnen, machte er sich Mut.

Sie hob ihren Kopf, knabberte an seinem Kinn und flüsterte dann: „Wenn du kommen willst, dann komm!“ Ein weiteres Mal war er irritiert. „Du kommst nicht?“, keuchte er mit leichtem Schrecken in seiner Stimme. „Ist schon gut, mein Bär. Für mich ist es auch so schön.“

Das waren eigentlich die Worte, die kein echter Mann hören wollte, und eigentlich wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn sein Ständer umgehend in sich zusammengefallen wäre. Doch andererseits war er mittlerweile so geil, dass er sich die Ejakulation unter keinen Umständen versagen wollte. Er verlieh seinen Bewegungen mehr Wucht, während sein Atem immer abgehackter wurde. Er spürte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen, wie seine Hoden kontrahierten, und beinahe war ihm, als könne er mitverfolgen, wie sein Sperma aus seinen Eiern nach oben gepumpt wurde. Er stöhnte tief und aus vollen Lungen, und ein wohliger Schauer durchrieselte seinen Körper.

Einmal noch intensivierte er seine Küsse, die er nicht mehr wohlgezielt setzte. Stattdessen berührten seine Lippen, was immer sie gerade erwischten. Ihr Ohr, ihre Schulter, den Polsterbezug. Aus Erfahrung wusste er, dass er, wenn die Kinder nebenan waren, seinen Orgasmus auf keinem Fall hinausschreien durfte, und so stellte er sich darauf ein, jeden Moment in den Polster zu beißen. Er führte sein Gesicht ganz nah an ihres: „Gleich kommt’s mir“, zischte er.

„Kannst du kommen, Mama? Ich fürcht’ mich so …“

Zedlnitzky mutierte mitten in der Bewegung zur Statue. Das durfte jetzt einfach nicht wahr sein! Er war so kurz davor, sich zu entladen, und ausgerechnet in dem Augenblick musste Jackie irgendein Problem haben! In Windeseile ging er seine Optionen durch. Wenn er noch ganz schnell ein paar heftige Stöße abgab, dann mochte sich sein Orgasmus immer noch ausgehen.

Doch noch ehe er diesen Plan umsetzen konnte, spürte er ihre Hände auf seinen Schultern, die ihn sanft aber bestimmt von ihr wegdrückten. „Ich komme, mein Engel“, sagte sie, und sorgte dafür, dass sich Zedlnitzky abrollen musste. Er kam nicht dazu, irgendeine Reaktion zu zeigen, schon war sie aufgestanden und schnappte ihren Morgenmantel, mit dem sie ihre Nacktheit verhüllte. Er sah ihr mit schier unendlicher Traurigkeit nach und ließ sich dann endgültig auf den Rücken fallen. Sein Blick fiel auf sein immer noch steifes Teil, das einsam wie der letzte Baum in einer Wüstenei in die Höhe stand. „Was mach ich jetzt mit dir“, fragte er halblaut. Er seufzte lang und tief, dann griff er sich seinen Morgenmantel und ging ins Badezimmer. Er stieg in die Dusche und drehte am Kaltwasserhahn. Das eisige Nass erlöste ihn von seiner Anspannung, obwohl er sich eingestehen musste, dass dies nicht die Art und Weise von „Entspannung“ war, die er sich gewünscht hätte.

Nachdem er sich wieder getrocknet hatte, schlurfte er müde in die Küche und gönnte sich noch ein Bier. Dazu zündete er sich eine weitere „Smart“ an. Diese war wie die beiden folgenden still und leise verglüht, ehe er Gesellschaft bekam.

Seine Frau gürtete den Morgenmantel fester zu, als sie sich neben ihn setzte. „Ich glaube, sie schläft jetzt wieder.“ Dabei legte sie ihre Hand begütigend auf seinen Unterarm.

„Das sollten wir vielleicht auch machen. Wer weiß, wie lange ich morgen arbeiten muss! Und am Nachmittag will mich auch noch der Staatsanwalt sehen. Das brauch’ ich wie einen Kropf.“

„Na, wenn das so ist, dann koch’ ich dir morgen am Abend was Feines. Das hast du dir dann verdient.“

Erstmals seit Jackies ungeplantem Auftritt lächelte er wieder. „Ein Beuschel? Mit Semmelknödel?“

„Passt“, entgegnete sie knapp. „Nur, da muss ich mir für die Kleinen was Extriges ausdenken. … Ich weiß schon, für die mach’ ich Marillenknödel. Und einen heb ich für dich als Nachspeise auf.“

„Zwei“, statuierte er mit einem befehlenden Ton, „immerhin habe ich auch zwei Namen.“

„Und zwei Eier“, sagte sie und fuhr ihm neckisch unter den Morgenmantel, um ihn sanft in die Hoden zu kneifen. Doch falls er gehofft hatte, sie würde ihm eine zweite Chance einräumen, sah er sich getäuscht. „Ich schau’ mir jetzt noch das Finale von dem Krimi an, und dann stamper’ ich den Peter ins Bett. Das geht eigentlich gar nicht, dass der so lange auf ist.“

„Ist ja nur eine Ausnahme, weil er heute so brav war“, schränkte Zedlnitzky ein. Er trank den letzten Schluck aus der Flasche und stand dann gleichfalls auf. „Mir reicht’s für heute“, sagte er im Vorbeigehen, „ich hau mich hin!“

Sie hauchte ihm einen Gutenachtkuss hin, während ihn der Sohn wie üblich ignorierte. Seufzend ließ er sich ins Bett fallen und war eingeschlafen, noch ehe seine Frau zu ihm ins Bett kam.