30. April 1986

Zedlnitzky war umfassend überrascht. Er stand in seinem Badezimmer und putzte sich die Zähne, als es an der Tür läutete. Instinktiv führte er die linke Hand in sein Gesichtsfeld, um die Uhrzeit ablesen zu können, doch erblickte er nur ein paar Haare. Er schalt sich schweigend einen Deppen und griff dann nach der Armbanduhr, die sich, nachdem er sie vor dem Duschen abgelegt hatte, locker-lässig an das Pitralon anlehnte. 7 Uhr 10! Wer um Himmels Willen konnte das sein? Er sah an seinem Körper abwärts und registrierte, dass er außer der Feinripp-Unterhose nichts am Leibe trug. Doch wer um diese nachtschlafende Zeit vor der Tür stand, musste einen solchen Anblick eben ertragen.

Noch immer mit der Zahnbürste in der Hand marschierte er durch das Vorzimmer und öffnete die Wohnungstür. Vor ihm standen zwei Männer in blauer Gewandung, die ihn sichtlich irritiert musterten, ehe sie dann doch zur Sache kamen.

„Tag! Post. Wir waraten da wengan Telefon!“

Dabei bemühte sich der Sprecher um ein freundliches Grinsen.

Zedlnitzky ließ die beiden nicht aus den Augen, während er den Kopf leicht nach hinten bewegte.

„Hat unser Telefon ein Problem?“

Frau Zedlnitzky hatte die vergangenen Minuten offenbar dazu benützt, sich einen Morgenmantel anzulegen, dessen Gürtel sie eben verknotete, als sie sich ihrem Gatten näherte.

„Ja, Bärli, das hab’ ich ganz vergessen, dir zu sagen. Wir kriegen einen neuen Apparat.“

Und wie aufs Stichwort hielt der andere der beiden Männer ein weinrotes Stück Plastik in die Höhe, an dem Zedlnitzky sofort die schwarzen Tasten auffielen.

Adieu, Wählscheibe, dachte er. Laut aber sagte er: „Na dann nur herein in die gute Stube.“

Die beiden Männer traten ein, wobei der Jüngere anmerkte: „’s wird ned lang dauern. So was is ruckzuck erledigt.“

Der andere wiederum fragte: „Wo is’ denn die Buchsn?“

Wortlos deutete Zedlnitzky auf die entsprechende Ecke.

Seine Frau wiederum erinnerte sich an ihre gastgeberischen Pflichten: „Wollen S’ vielleicht einen Kaffee, die Herren?“

Zedlnitzky war sich sicher, dass der Junior gern genickt hätte, doch der Senior antwortete für beide: „Vielen Dank, aber das is’ ned notwendig, wir sind’s ja gleich.“

Während Zedlnitzky wieder damit begann, gedankenverloren zwischen seinen Zähnen herumzustochern, beobachtete er aufmerksam das Tun der beiden Postbeamten. Diese zogen irgendein Kabel aus seiner Verankerung, entfernten den alten beigen Apparat und hängten den neuen an.

„Was haben Sie da für eine Telefonnummer?“, fragte der Senior über die Schulter. „64 19 773“, antwortete Zedlnitzky nuschelnd.

Der Junior zog ein weiteres Gerät aus seiner Tasche und gab ganz offensichtlich die genannte Nummer ein. Voilà, es läutete.

„Passt“, sagte der Senior vernehmlich, ehe er sich aus seiner hockenden Stellung wieder aufrichtete. „Sie werden sehen“, wandte er sich an Zedlnitzky, „im Prinzip ändert sich gar nicht. Nur, dass sie jetzt nimmer ihren Finger in ein Loch stecken, sondern einfach die entsprechende Zahl drücken.“

Zedlnitzky gab durch ein stummes Nicken zu verstehen, dass ihm dies bewusst war.

Sein Gegenüber lächelte. „Jetzt heißt’s nie mehr besetzt“, statuierte er.

Zedlnitzky brauchte ob der frühen Stunde ein paar Augenblicke, ehe er begriff, worauf der Mann hinausgewollt hatte.

„Ah nein“, murmelte er mit Zahnpasta im Mund, „das war eh kein Vierteltelefon mehr. Wir haben schon seit drei Jahren einen ganzen Anschluss.“

Er war sich nicht sicher, ob der Postler ihn verstanden hatte, doch seine Frau sprang eilfertig in die Bresche: „Mein Mann ist bei der Kriminalpolizei“, sagte sie stolz.

„Ah“, machten die beiden Techniker, „na dann, viel Spaß mit dem neuen Apparat, Herr Inspektor.“

Just in diesem Moment läutete es. Unweigerlich zog Zedlnitzky die Augenbrauen hoch und blickte die beiden Postbediensteten fragend an.

„Abheben is gleich blieben“, griente der eine glucksend.

Zedlnitzky verkniff sich ein knurrendes „Haha“ und nahm das Gespräch an. Sein Vater war am Apparat, der seit über 30 Jahren ebenfalls Dienst bei der Exekutive tat. Nur noch beiläufig hörte er das „Sie brauchen uns ja eh nimmer“ der beiden Postler und konzentrierte sich stattdessen auf das Gespräch, während seine Frau die Männer hinausgeleitete und, wie er gerade noch wahrnahm, jedem einen Zwanziger in die Hand drückte. Als sie die Tür geschlossen hatte, sah er sie tadelnd an, während sie nur entschuldigend die Schultern hob.

„Na, was gibt’s?“, hörte er sich schließlich sagen.

„Weißt eh, morgen ist wieder 1. Mai“, begann der Vater.

Zedlnitzky verdrehte die Augen. Er wusste genau, was der Herr Papa damit meinte. Die SPÖ, die Wien seit 1945 ohne Unterbrechung regierte, veranstaltete an diesem Tag ihren traditionellen Aufmarsch über den Ring. Der allein war ja durchaus zu bewältigen, denn vom Karlsplatz bis zum Rathaus waren es wohl kaum zwei Kilometer. Aber, ebenfalls aus Tradition, traf sich die jeweilige Bezirksgruppe bereits Stunden vor der offiziellen Kundgebung vor ihrem jeweiligen Sekretariat, um sodann gemeinsam in die Innenstadt zu marschieren, was in ihrem Fall bedeutete, dass noch etliche Kilometer dazukamen.

Bis vor wenigen Jahren hatte sich die Favoritner SPÖ Jahr für Jahr vor dem Arbeiterheim in der Laxenburger Straße getroffen, doch seit dieses in ein Schicki-Micki-Hotel umgewidmet worden war, befand sich der Sammelpunkt vor einem trostlosen Neubau in der Troststraße, wodurch der Straßenname einer Verhöhnung gleichkam. Von dort ging es dann die ganze Laxenburger Straße hinunter bis zum Gürtel, wo man in die Favoritenstraße einbog, der man dann bis zur Wiedner Hauptstraße folgte, ehe man die letzten Meter bis zum Karlsplatz auf ebendieser zurücklegte. Vor allem aber musste man den ganzen Weg nach der Kundgebung noch einmal per pedes zurücklegen, da am 1. Mai die öffentlichen Verkehrsmittel – auch dies eine Tradition – nicht verkehrten. Zedlnitzkys Schwager, ein stolzer Straßenbahner, erinnerte bei dieser Gelegenheit stets daran, dass sich seine Zunft dieses Vorrecht in harten Auseinandersetzungen mit der Monarchie erkämpft habe. „Am 1. Mai is immer frei. Und des wird aa so bleiben, weil am 1. Mai geh’n wir immer demonstrieren. Das hat uns nur der Faschismus g’nommen. Sonst nimmt uns das niemand.“ Zedlnitzky gönnte seinem Schwager diese Errungenschaft von Herzen. Die 20 Kilometer pure Hatscherei hätte er sich trotzdem gerne erspart. Doch da war sein Vater vor.

Vor allem aber hieß der 1. Mai „Familiennachmittag“. Im Anschluss an die offiziellen Feierlichkeiten begab sich der ganze Zedlnitzky-Clan in die Gemeindewohnung des Vaters, um dort bei Kaffee und Kuchen zu politisieren, wie es der Vater nannte. Klatsch und Tratsch traf es weit eher, fand der Sohn, der sich noch mit Schrecken an die Treffen vor wenigen Jahren, als die Eltern noch nicht in der PAHO gewohnt hatten, erinnerte. Bis Ende der 70er-Jahre waren sie in jener Zinskaserne in der Hasengasse gleich hinter dem Waldmüllerpark untergebracht gewesen, in der Zedlnitzky groß geworden war. Während der Vater weiterredete, entstanden in Zedlnitzky Bilder aus jenen vergangenen Tagen. Er dachte an den stets besoffenen Hausmeister namens Blahowec und dessen mehr als promiskuitive Gattin, an den cholerischen Elektriker im zweiten Stock und an die enervierend keifende Kvapil, die niemanden auch nur die allergeringste Lebensfreude gegönnt hatte – sie selbst mit eingeschlossen.

Doch diese Zeiten waren längst Geschichte. Die Wohnung in der Alaudagasse wies einen schönen Balkon auf, der einen netten Blick auf den Ententeichpark bot, und wenn es das Wetter zuließ, dann saß man dort bis zum Abend, wo man sich bei Gegrilltem labte und so manche Bierflasche um ihren Inhalt brachte.

„Marschiert’s ihr morgen überhaupt“, fragte er, „ich mein’, wegen der radioaktiven Wolke, die sich angeblich auf uns zubewegen soll.“

„Ach was“, ließ sich der Vater vernehmen, „das ist doch nur dummes Gerede von den Umweltschützern. Die glauben, sie haben jetzt wieder Oberwasser. Die wollen das ja nur groß aufblasen, damit die Freda wenigstens ein paar Stimmen abstaubt.“

Auch wenn Zedlnitzky sich nicht sonderlich für Politik interessierte, wusste er natürlich, worauf sich sein Vater bezog. Seit den Auseinandersetzungen um die Hainburger Au vor eineinhalb Jahren war im Lande eine neue Partei entstanden, die sich selbst als „grün“ bezeichnete. Diese hatte eine SPÖ-lerin, die mit ihrer eigenen Partei gebrochen hatte, aufs Schild gehoben, die nun ebenfalls um die Bundespräsidentschaft ritterte, was ihr die ehemalige politische Heimat natürlich übel nahm. Allgemein wurde damit gerechnet, dass sie kaum mehr als 100.000 Stimmen erhalten würde, doch mit der um sich greifenden Angst vor der Atomwolke mochte es vielleicht anders kommen.

„Die wollen uns doch nur unser Zwentendorf vermiesen“, fuhr der Vater einstweilen fort, der es offenbar immer noch nicht verwunden hatte, dass die SPÖ vor acht Jahren die Abstimmung um die Inbetriebnahme eines eigenen Kernkraftwerks in Österreich verloren hatte. Seitdem war vor allem die Gewerkschaft nicht müde geworden, das völlig betriebsfertige Kraftwerk doch noch irgendwie seiner Bestimmung zuführen zu können. Sogar ein eigenes Volksbegehren hatte sie gestartet, doch mit diesem Unfall in Russland war damit nun wohl endgültig Schluss.

„Dann läuft morgen also alles wie geplant?“

„Aber sicher. Da fährt die Eisenbahn drüber“, gab sich der Vater überzeugt.

„Gut! Wann und wo?“ Zedlnitzky bemühte sich, nicht allzu resigniert zu klingen.

„Weil ich euch kenn’, wartet um ½ 9 am Südtiroler Platz und reiht euch dort ein.“ Zedlnitzkys Gesicht zeigte den Ansatz eines Lächelns. Wenigstens zwei Kilometer konnte er sich ersparen.

„Wir werden da sein“, versprach er.

„Und danach, wisst’s eh …“

„Klaro. Ehrensache“, kürzte Zedlnitzky das Verfahren ab. „Bis morgen, weißt eh, ich muss dann in den Dienst.“

„Schon klar. Alsdann. Bis morgen“, verabschiedete sich der Vater.

Zedlnitky legte auf und ging in die Küche, wo er den zwischenzeitlich von seiner Frau zubereiteten Kaffee dankbar entgegennahm. Im Radio schmetterte die EAV ihren Märchenprinzen und behauptete, dass es bei den Mädels „tilt is, wenn man riecht als wie ein Iltis“.

Gleich danach erläuterte der Moderator des Ö3-Weckers, dass die EAV zwar nicht mehr auf Platz 1 der „Großen 10“ sei, aber immer noch das Zeug zum Superhit des Jahres habe, was auch, wie er hinzufügte, für die nächste Scheibe gelte. Tatsächlich erkannte Zedlnitzky die charakteristische Stimme von Hansi Hölzel alias „Falco“, der mit „Jeanny“ die Hitparade vor der EAV angeführt hatte. Zedlnitzky hätte lieber die zwischenzeitliche Nummer eins von Hans Orsolics gehört, denn „Mein potschertes Leb’n“ passte, so fand er, perfekt zu diesem Morgen.

Der Verkehrsfunk erinnerte ihn daran, dass er abermals spät dran war. Hektisch stürzte er den Rest seines Heißgetränks hinunter, dann eilte er zurück ins Schlafzimmer, um sich fertig anzuziehen. Im Vorübergehen tätschelte er die Hinterköpfe seiner Kinder, hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Wange und enteilte ins Stiegenhaus. „Bloß nicht noch einmal zu spät kommen“, sagte er sich, während er in den Wagen sprang.

Als er am Portier vorbei dem Lift zustrebte, zeigte die große Uhr des Sicherheitsbüros eine Minute nach acht. Im Büro angekommen, wusste er nicht so recht, womit er beginnen sollte. Er steckte sich eine „Smart“ an und ging über den Gang, um sich einen Kaffee zu holen. Wieder an seinem Schreibtisch, sah er sich die Patientenkarte des Hofrats an. Zu seiner freudigen Überraschung fand sich darauf dessen Büronummer. Kurzerhand griff er zum Hörer und wählte die angegebene Kombination. Der Mann meldete sich umgehend.

„Hofrat Tibold am Apparat.“

„Begrüße Sie, Herr Hofrat. Gruppeninspektor Zedlnitzky, Sicherheitsbüro Wien. Wie Sie vielleicht schon wissen, wurde gestern der Herr Dinotti ermordet aufgefunden …“

„Ja, ich hab’s in der Zeitung gelesen.“

Zedlnitzky schlug sich stumm mit der flachen Hand auf die Stirn. Er hatte sich keinen Deut um die Medien geschert. Die galt es wohl auch zu sichten. Derweilen fuhr der Hofrat fort.

„Er war mein Dentist. Scheußliche Sache. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Nun, Herr Hofrat. Seit wann waren Sie denn beim Herrn Dinotti als Patient?“

„Och, sicher schon zehn Jahre oder mehr. Ich habe damals am Mittersteig gewohnt, und da war er die nächste Adresse. So hat sich das ergeben. Aber ich war, ehrlich gesagt, nicht allzu oft bei ihm. Zum Glück habe ich gute Zähne.“

„Wann waren Sie das letzte Mal bei ihm?“

„Lassen Sie mich nachdenken. Das war irgendwann Anfang des Jahres …“

Zedlnitzky blickte auf die Karteikarte. „4. Februar“ war dort vermerkt.

„Eine Plombe war mir rausgefallen. Die hat er ersetzt.“

Diese Auskunft stimmte mit dem Eintrag überein. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann würde er einen Arztbesuch auf Zuruf auch nicht genauer verorten können.

„Und wie war er so, der Herr Dinotti?“

„Ach, eigentlich ganz in Ordnung, würde ich sagen. Ich meine, er war kein Künstler in seinem Fach, aber für meine Zwecke war es immer ausreichend. Und seine Witze, na ja, da habe ich an anderer Stelle mehr gelacht. Aber vielleicht lag es auch an der Umgebung.“

Zedlnitzky musste gegen seinen Willen schmunzeln. Ein Pappenschlosser, der Witze riss – das konnte nicht gut gehen. Wer vermochte schon zu lachen, wenn man ihm mit einem Bohrer in den Mund fuhr?

„Und Privates? Hat er sich je über Privates mit Ihnen unterhalten?“

„Nicht, dass ich wüsste. … Doch, warten Sie, einmal erwähnte er seine Tochter, erzählte, dass sie ein Tanzstudio leitete oder so etwas. Aerobic, Sie wissen schon, diese Jane-Fonda-Sache.“

„Und bei Ihrem letzten Besuch vor drei Monaten, wirkte er da irgendwie anders? Bedrückt oder so?“

„Nein, könnte ich nicht sagen. Putzmunter wie immer.“

„Na gut, Herr Hofrat, entschuldigen Sie die Störung. Das war’s auch schon wieder. Noch einen guten Tag zu wünschen.“

„Gleichfalls.“

Die Verbindung wurde beendet. Zedlnitzky wusste, dass er sich unbedingt noch einmal mit der Ehefrau unterhalten musste, doch dazu war es unabdingbar, erneut hinaus nach Liesing zu fahren. Dem wollte er sich gern vorerst entziehen, da er ja um 14 Uhr beim Staatsanwalt anzutanzen hatte, und da war es sinnvoll, sich zuvor ein wenig zu wappnen.

Sein größtes Problem, so gestand er sich ein, war, dass er die Person des Mordopfers so gar nicht fassen konnte. Was war dieser Dinotti für ein Mensch gewesen? Wo ließen sich aussagekräftige Informationen über ihn einholen? Er dachte nach. Gab es da nicht auch so etwas wie eine Ärztekammer für Zahnklempner? Er fuhr mit seinem Drehsessel zurück und schob seinen Aktenschrank auf. Dort lagen sie. Die gesammelten Werke der Bundespost. Vier dicke Bände, die gemeinsam das Wiener Telefonbuch ausmachten.

Unweigerlich erinnerte er sich an den alten Witz, wonach die Wiener intelligenter als die Bewohner der Bundesländer seien, denn Letztere besäßen nur zwei Bücher, das Telefonbuch und die Bibel, während die Wiener gleich fünf Bücher besitzen würden: das SPÖ-Parteibuch und dann die Telefonbuch-Bände A bis H, I bis Q, R bis Z und das Branchenverzeichnis.

Er griff zu Letzterem und blätterte zum Buchstaben „K“. Dort suchte er nach „Kammer“, wo er die Aufforderung vorfand, unter „A“ nachzusehen, und er wollte schon wieder nach vorne blättern, als er im letzten Augenblick noch den Eintrag der Dentistenkammer erspähte, die am Kohlmarkt saß. Entschlossen schrieb er die angegebene Nummer ab und rief sodann dort an.

Nachdem abgehoben worden war, nannte er wieder seinen Namen und sein Begehr. Ob es, so fragte er, denn genauere Unterlagen über den Herrn Dinotti gäbe.

„Wir haben einen eigenhändig von ihm verfassten Lebenslauf da, falls Ihnen das weiterhilft, Herr Inspektor. Sonst muss ich leider passen, da gibt’s dann nur noch ein paar dürre Mitteilungen über diverse Fortbildungen und soziale Aktivitäten im Rahmen der Kammer. Da wird er nur namentlich erwähnt, das ist also nicht sehr ergiebig.“

„Der Lebenslauf wär’ nicht uninteressant. Wie komme ich an den?“

„Haben S’ ein Fax?“

„Aber sicher, wir sind ja eine Bundesdienststelle. Warten S’ bitte einen Moment.“ Er hielt die Sprechmuschel zu und brüllte ins Nebenzimmer: „Pospischil! Wie geht unsere Faxnummer noch einmal?“ Gleich danach wurde hörbar ein Sessel zurückgeschoben, dann vernahm er ein Schlurfen und nach einer halben Ewigkeit kam die erwünschte Rückmeldung.

Zedlnitzky gab das Gehörte ans andere Ende der Telefonleitung weiter.

Zwanzig Minuten später knatterte das Gerät im Nebenzimmer laut und vernehmlich. Pospischil stöhnte, stand ein weiteres Mal auf und legte die übermittelte Sendung schließlich auf Zedlnitzkys Tisch. Dieser zündete sich die zweite Bürozigarette des Tages an und begann zu lesen.

Dinotti, so entnahm er dem Schreiben, hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Dentist praktiziert. 1938 hatte er im Alter von 24 Jahren eine Praxis in der Seegasse im neunten Bezirk eröffnet. Allerdings schien er gezwungen worden zu sein, diese Ende 1939 wieder zu schließen. Im Februar 1940 wurde er, so stand es in dem Dokument geschrieben, von der Gestapo verhaftet. Angeblich hatte er nazifeindliche Äußerungen in der Öffentlichkeit getätigt. Seinen eigenen Angaben zufolge verurteilte ihn der Volksgerichtshof im Mai 1941 zu zehn Jahren Gefängnis, und wenig später sei er nach Stein an der Donau verbracht worden. Dort habe er das Kriegsende nur aus purem Glück erlebt, weil es ihm gelungen sei, sich beim Massaker, dass die SS noch in den letzten Kriegstagen unter den Häftlingen veranstaltet hatte, tot zu stellen.

Zurück in Wien sei er um die Bewilligung einer Opferrente eingekommen, die ihm allerdings nicht genehmigt worden war, da er, wie er ausführte, ja noch arbeitsfähig war. Allerdings hätten ihm jedwede Mittel gefehlt, um wieder auf die Beine zu kommen, weshalb er bis 1956 habe warten müssen, ehe er wieder eine Praxis eröffnen konnte, diesmal in der Krongasse im fünften Bezirk. Schließlich verwies Dinotti noch darauf, dass er seit 1950 verheiratet und Vater einer Tochter sei.

Zedlnitzky kratzte sich am Hinterkopf. Ein SS-Massaker in Stein? Davon hatte er noch nie gehört. Und wieso war ein Widerständler überhaupt in Stein gelandet? Hatte man die nicht alle in Konzentrationslager gesteckt? Er grübelte, wen er in dieser Sache um Rat fragen konnte. Nachdem er seine Zigarette ausgedämpft hatte, schnappte er sich einen Kugelschreiber und ringelte die entsprechende Passage in dem Lebenslauf ein. Dann rief er ein weiteres Mal nach Pospischil.

„Bring mir die Zeitungen von heute! Ich will wissen, was die über unseren Toten schreiben.“

Es verging eine halbe Ewigkeit, ehe der Kollege in Zedlnitzkys Büro erschien. Er legte Exemplare der „Krone“, des „Kurier“, der „Presse“, der „AZ“ und der „Volksstimme“ auf den Tisch.

„Die Wiener Zeitung liest g’rad der Chef. Aber die schreiben in der Regel eh nix über Mord und Totschlag. Die sind ja seriös.“ Dabei lächelte Pospischil maliziös.

„Seriös“ in Pospischils Sinne war offenbar auch die „Presse“, denn auch nach mehrmaligem Durchblättern fand Zedlnitzky keinen Bericht über den Mordfall. Ziemlich spartanisch auch die Meldung in der kommunistischen „Volksstimme“: „Gestern morgen wurde die Leiche des 71-jährigen Dentisten Walter D. in Wien-Margareten gefunden. Die Polizei geht von Mord aus. Mit der Aufklärung des Verbrechens ist das Wiener Sicherheitsbüro betraut.“

In der sozialistischen „AZ“, der „Arbeiter-Zeitung“, war man schon ein wenig ausführlicher. „Bestialisches Verbrechen in Wien-Margareten“, lautete der Titel. Und in dieser Tonart war auch der Artikel selbst gehalten. „Der fünfte Wiener Gemeindebezirk wurde gestern Zeuge eines abscheulichen Verbrechens. Der 71-jährige Dentist Walter Dinotti wurde am frühen Morgen von einer Patientin tot in seiner Praxis aufgefunden. Dem verdienten Mediziner wurde, so die Auskunft der Polizei, brutal der Schädel eingeschlagen. Ein Motiv für die Wahnsinnstat konnte bislang ebenso wenig eruiert werden wie der Täter selbst. Innenminister Karl Blecha zeigte sich jedoch davon überzeugt, dass es der Wiener Polizei rasch gelingen werde, das Verbrechen aufzuklären. Nicht umsonst sei Wien eine der sichersten Städte der Welt.“

Zedlnitzky musste schmunzeln. Nur ein Parteiblatt konnte auf die Idee kommen, bei einer solchen Gelegenheit gleich den Innenminister vor den Vorhang zu bitten. Neue Erkenntnisse hatte er aus seiner Lektüre jedenfalls nicht gewonnen. Er legte die „AZ“ weg und griff zur „Krone“. Wenig später musste er sich eingestehen, dass beide Blätter mehr oder weniger denselben Stil gepflegt hatten, doch ihre Schlussfolgerungen waren gänzlich andere. So endete die reißerisch mit ein paar Fotos aufgemachte Story der „Krone“ mit der tiefen Sorge um die Sicherheit der Wiener Bevölkerung: „Will es sich die Wiener Polizei angelegen sein lassen, den Wienerinnen und Wienern nicht den Schlaf zu rauben, dann muss sie schleunigstens den brutalen Mörder dingfest machen. Nicht nur die Redaktion der Kronen Zeitung, die ganze Stadt erwartet Ergebnisse. Und das schnell.“

Na bitte! Zedlnitzky war sich sicher, diesen Satz heute noch einmal zu hören. Aus dem Munde des Staatsanwalts nämlich. Er seufzte und griff sich schließlich noch den „Kurier“, dessen Geschichte ähnlich groß aufgemacht war wie jene der „Krone“, wobei hier aber ohne markige Worte ausgekommen worden war. Für Zedlnitzky bedeutete dies freilich, dass er sich das Lesen der Zeitungen hätte ersparen können, denn klüger war er dadurch nicht geworden. Er zündete sich die dritte „Smart“ an und blickte auf die Uhr. Knapp nach 10. Noch runde 100 Minuten bis zur Mittagspause.

Zedlnitzky griff nach einer weiteren Zigarette. Der Fall war gerade einmal einen Tag alt, doch er hasste ihn bereits mit jeder Faser seines Körpers. Er erinnerte sich an die seinerzeitigen Kurse während der Ausbildung zum Kriminalbeamten. Dreh- und Angelpunkt einer Tat sei immer das Motiv, hieß es damals. Wer, bitte schön, sollte ein Motiv haben, einen 70-jährigen Zahnarzt ins Jenseits zu befördern? Zedlnitzky pfiff durch die Zähne. Wenn man die Sache klassisch betrachtete, kam nur die Tochter infrage. Vielleicht war die mit ihrem Tanzstudio in der Bredouille, sodass sie auf eine Erbschaft hoffen musste. Wer weiß, vielleicht waren sich die beiden ja ohnehin schon die längste Zeit spinnefeind gewesen. Der Vater hatte sich möglicherweise breitschlagen lassen, ihr immer wieder Geld für ihr Studio zu geben, und irgendwann wollte er sich halt nicht länger melken lassen. Sie ruft ihn an, bettelt um weitere Unterstützung, vereinbart einen Termin frühmorgens in der Ordination. Er weigert sich, ihr weiter zu helfen, rät ihr zum Konkurs, sie sieht rot und erschlägt ihn. Das wäre ein durchaus möglicher Tathergang. Jedenfalls ein wesentlich wahrscheinlicherer als die These, irgendein Freund oder Bekannter habe ihm Geld geschuldet. Man würde kaum einen Termin mit einem weniger eng verbundenen Menschen um eine solche Uhrzeit machen, zumal, wenn man gleich danach einen Patienten erwartete, anschließend aber den ganzen Tag Zeit hatte. Nein, die eigene Tochter war eigentlich die einzige Person, für die man eine solche Ausnahme machen würde.

Er schob seinen Sessel etwas von seinem Schreibtisch weg. „Pospischil“, rief er, „haben wir schon was in der Bankensache?“

Aus dem Nebenzimmer drang Rumoren. Dann Geraschel. Schließlich das enervierend quietschende Geräusch eines Sessels, der zurückgeschoben wurde. Bruchteile einer Minute später tauchte Pospischil im Sichtfeld seines Kollegen auf.

„Also, wie es ausschaut, hat der Dinotti nur zwei Konten gehabt. Ein Privatkonto bei der Z und ein Sparbuch bei der Post. Ich habe alle relevanten Banken abgefragt, sonst fand er sich nirgendwo.“

„Und, wie sieht es bei den beiden Konten aus?“

„Na ja, das bei der Z ist so ein Girokonto. Von dort gehen die ganzen Zahlungen ab. Da ist nicht sonderlich viel drauf. Aber das Sparbuch bei der Post weist einen Betrag von mehr als 100.000 Schilling auf.“

Zedlnitzky stieß einen Pfiff aus. Wie konnte ein gewöhnlicher Dentist so reich geworden sein? Er sah seine Gedanken hinsichtlich der Tochter bestätigt. Doch gleich darauf verschwand sein Triumphgefühl wieder. Mutmaßlich würde das Erbe zu gleichen Teilen an die Mutter und die Tochter gehen. Und mordete man für 50.000 Schilling wirklich den eigenen Vater?

„Kannst du dir noch die finanziellen Verhältnisse der Tochter anschauen, dieser Pia?“

Pospischil machte große Augen. „Du meinst, die hat …?“

Zedlnitzky wiegelte ab. „Vorerst einmal reine Routine. Ich will nur wissen, ob die überhaupt ein Motiv haben könnte. Du weißt schon, Ausschließungsprinzip …“ Dabei lächelte er schmal.

Pospischil nickte und kehrte wieder in sein Zimmer zurück. „Das erledige ich gleich“, sagte er über die Schulter, „die entsprechenden Telefonnummern habe ich ja schon.“

Irgendwie, so gestand sich Zedlnitzky ein, war ihm die Tochter sympathisch gewesen. Doch von derlei Emotionen durfte er sich nicht leiten lassen, sonst hatte er in seinem Beruf nichts verloren. Allerdings, und auch das war ein bemerkenswertes Faktum, blieb das Opfer für ihn nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln.

Er nahm noch einmal den dürren Lebenslauf zur Hand und überflog ihn. Sein Kringel sprang ihm wieder ins Auge. Da gab es doch dieses Archiv in der Wipplingerstraße, soweit er sich erinnerte. Der seinerzeitige Innenminister Lanc hatte es einmal im Rahmen eines Vortrags erwähnt. Dort, so hieß es, seien die Akten über die NS-Zeit einsehbar. Vielleicht wussten die ja etwas über Dinottis Vergangenheit.

Er wendete seinen Sessel um 180 Grad und fischte ein weiteres Mal eines der dicken Telefonbücher aus dem Regal. Es war ernüchternd, wie viele Archive es in dieser Stadt gab, doch keines davon befand sich in der Wipplingerstraße. Zedlnitzky versuchte sich zu erinnern, wie das Archiv genau geheißen hatte, denn offensichtlich war es kein gewöhnliches Archiv, sondern eines, das noch einen anderen Namensbestandteil aufwies. Widerstandsarchiv? Verfolgungsarchiv? NS-Archiv? Er schnaubte und klappte das Buch zu. Kurzerhand griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Auskunft. Prompt meldete sich eine Dame.

„Hören Sie, ich hab’ da ein Problem. Ich such’ ein Archiv, das mit der NS-Zeit zu tun hat und in der Wipplingerstraße beheimatet ist. Aber ich kenn’ den genauen Namen nicht. … Nein, die genaue Adresse leider auch nicht. Nur Wipplingerstraße. Ja, ich warte.“

Nach einigen Augenblicken nannte ihm das Fräulein vom Amt die Telefonnummer der Bezirksvorstehung der Inneren Stadt. Vielleicht könne man ihm ja dort weiterhelfen. Ohne große Hoffnung wählte er die angegebene Zahlenkombination. Doch zu seiner eigenen Überraschung wusste man dort tatsächlich Bescheid. Mit der richtigen Nummer ausgestattet, gelangte er ins Sekretariat des „Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes“.

„Ja?“, nuschelte ihm eine rotzige Stimme entgegen, die sich gleich darauf verbesserte, „’tschuldigung, Dokumentationsarchiv, Pittler am Apparat“.

Zedlnitzky ignorierte seine Irritation und trug sein Begehr vor.

„Oh, da wenden Sie sich am besten an die Frau Doktor Klamper. Die ist für den Aktenbestand zuständig. Einen Augenblick, ich verbinde.“

Nachdem er sich ein zweites Mal erklärt hatte, wurde ihm beschieden, sich einen Augenblick zu gedulden. Er hörte, wie der Hörer auf den Tisch gelegt wurde und die Frau sich entfernte. Die folgenden Geräusche deutete er als das Öffnen diverser Laden in eisernen Karteikästen.

„Ja“, hörte er die Frau dann nach einer kleinen Weile sagen, „über den genannten Herrn haben wir hier einige Akten. Wollen Sie Einsicht nehmen?“

Zedlnitzky bejahte die Frage.

„Gut, ich kann Ihnen das herrichten lassen. Wann wollen Sie denn kommen?“ Zedlnitzky blickte auf die Uhr. Es war kurz vor 11. Die Mittagspause wollte er nicht opfern, und danach war das Treffen mit dem Staatsanwalt angesagt. Besser, er verschob den Termin auf den kommenden Tag.

„Wie wäre es mit morgen Früh?“, fragte er.

„Schlecht. Da hamma zu. Erster Mai.“

Richtig! Zedlnitzky hatte ganz vergessen, dass der folgende Tag ein Feiertag war. „Dann übermorgen, 9 Uhr?“

Die Archivarin bestätigte den Termin. „Gut, die Unterlagen liegen dann für Sie bereit.“

Zedlnitzky bedankte sich und legte auf. Für eine Zwischenbilanz nicht so schlecht, befand er.

Gleich danach wurde sein Optimismus allerdings wieder gedämpft. Pospischil kam mit den Kontodaten der Pia Dinotti in sein Zimmer.

„Also“, begann er, „wennst ’glaubt hast, die hat ein Motiv, also geldmäßig, mein’ ich, dann kannst das gleich wieder vergessen. Die hat 50.000 Schilling auf einem Sparbuch bei der Länderbank, dazu ein gut bestücktes Girokonto bei der Z und außerdem noch ein Geschäftskonto für das Tanzstudio bei der Volksbank, das zumindest keine Verbindlichkeiten aufweist. Also wenn die nicht irgendwo Privatschulden in exorbitanter Höhe hat, dann ist die hochweiß. Und wenn doch, täten ihr die paar Netsch vom Herrn Papa wahrscheinlich auch nichts nützen“, schloss Pospischil.

Irgendwie war Zedlnitzky froh, dass er die Dinotti von der Liste der Verdächtigen streichen konnte. Doch andererseits bedeutete das, dass sich auf besagter Liste nun gar niemand mehr befand. Es war wirklich zum Verzweifeln.

„Ich weiß echt nicht“, stöhnte er, „wo wir da ansetzen sollen. Normalerweise ist immer alles so einfach. Da brauchst gar nicht lange stochern, und schon liegt alles eindeutig vor dir. Aber da? Fast hast das Gefühl, das ergibt alles überhaupt keinen Sinn.“ Er schnaubte angewidert.

„Ich wissert schon was, das einen Sinn ergäbe“, gab Pospischil mit einem verschmitzten Lächeln von sich.

„Aha, und was wäre das deiner Meinung nach?“

Pospischil deutete auf die große Uhr über der Bürotür. „Mittagspause!“

Es war nicht so, dass Zedlnitzky nicht hungrig gewesen wäre, doch der Kult, der hier im Amt mit der Mittagspause getrieben wurde, war ihm doch ein wenig suspekt. Ja, ihm war sogar der Verdacht gekommen, dass die Kollegen, vor allem die älteren, nichts mehr interessierte als die tägliche Nahrungsaufnahme, und er hoffte inständig, nicht eines Tages auch so zu enden. Doch angesichts der Sackgasse, in der er sich befand, erschien es nicht verfehlt, durch eine Mahlzeit ein wenig Abstand zum vorliegenden Problem zu bekommen.

Er nickte Pospischil also zu, erhob sich und begab sich mit ihm auf den Flur.

„Was gibt’s denn heute?“, fragte er, während sie sich auf den Fahrstuhl zubewegten.

„Rahmfisolen mit Augsburgern“, kam es zurück.

Na, nicht schlecht, dachte er sich.

In der Kantine angekommen, fasste er, wie alle anderen auch, erst einmal ein orangefarbenes Plastiktablett aus, auf welchem er Messer, Gabel und Löffel postierte. Dazu packte er eine Papierserviette. Sodann reihte er sich in die Schlange bei der Essensausgabe ein. Erst bestellte er ein Sprite, danach entschied er sich für die Fritattensuppe, welcher er den Vorzug gegenüber der cremigen Erbsensuppe gab. Unwillkürlich musste er an den blöden Polizistenwitz denken: Was ist grün und stinkt? Er hatte den schon nicht lustig gefunden, als er noch meilenwert davon entfernt gewesen war, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Er schob sein Tablett weiter und bekam nun einen Teller gereicht, auf dem sich ein paar Erdäpfel, zwei Hälften einer gebratenen Knackwurst und eineinhalb Schöpfer gehackte Fisolen auftürmten, die in einer grüngrauen Sauce herumschwammen. Appetitlich sah es nicht gerade aus, aber schmackhaft war es wohl dennoch, übte er sich in Optimismus.

Mit seinem Kollegen bewegte er sich zu einem der Tische an der Fensterfront, wo bereits Hackl und einige andere Beamte saßen. Sie grüßten kurz und ließen sich dann auf den merkwürdig orangefarbenen Plastiksesseln nieder. Zedlnitzky schob den Aschenbecher beiseite, um Platz für sein Tablett zu schaffen. Gleich darauf bereute er, sich in den Kreis der Kollegen gesetzt zu haben, denn nachgerade zwangsläufig wurde er nach dem Fall Dinotti befragt, was ihn kaum verwundern konnte, da Hackl sicher in aller Ausführlichkeit aus der Schule geplaudert hatte. Er versuchte, so wortkarg wie möglich zu bleiben, ohne dabei unhöflich zu wirken. Dennoch gaben sich die anderen mit seinen Auskünften zufrieden. „Und in einer Stunde beim Staatsanwalt?“, hakte Hackl nach. Zedlnitzky nickte.

„Na, mit der Geschichte brauchst dem alten Grantler nicht kommen. Der zerpflückt dich damit, da kannst sicher sein.“

Angewidert blickte Zedlnitzky hoch: „Mehr hab’ ich nicht, und das ist nicht meine Schuld. Also wird er’s aushalten müssen, der Herr Gut.“

„Herrgott wär’ treffender“, korrigierte ihn Hackl, „für den hält er sich nämlich, der Reichenberger.“

Dem ließ sich nichts entgegenhalten, denn Staatsanwalt Reichenberger galt amtsintern tatsächlich als leicht größenwahnsinniger Machtmensch. Obwohl er mit seinen 64 knapp vor der Pensionierung stand, war er immer noch voller Tatendrang und demonstrierte bei jeder Gelegenheit wortreich, wie er eine Causa schnellstens und effizient lösen würde, wenn es an ihm wäre, die Ermittlungsarbeit zu übernehmen. Reichenberger ließ aus Prinzip an niemandem ein gutes Haar, sodass alle im Sicherheitsbüro den Sommer 1987 herbeisehnten, zu welchem Zeitpunkt der alte Miesepeter endlich würde die Segel streichen müssen. Zedlnitzky war jedenfalls der Appetit endgültig vergangen, und so schob er den Teller beiseite, um sich sodann eine „Smart“ anzustecken. Genüsslich blies er den Rauch aus. „Ein Kaffee warat jetzt gut“, sagte er halblaut. „Soll ich einen holen?“, fragte Pospischil, doch Zedlnitzky machte nur eine begütigende Geste. „Lass nur, den nehmen wir uns dann ins Büro mit. Da können wir dann oben auch noch ein wenig verschnaufen.“

Am Weg zurück hielt Zedlnitzky noch einmal an der Essensausgabe und ließ sich zwei Melange reichen. Dazu erwarb er noch eine Nussecke, von der er hoffte, sie würde nicht zu sehr anschlagen. Aber an einem Tag wie heute konnte er etwas Süßes durchaus gebrauchen.

Im Büro griff er nochmals zum Stapel mit den Tageszeitungen. Diesmal aber nicht, um in Erfahrung zu bringen, was diese in der „Chronik“ zu berichten wussten, vielmehr war es ihm um den Sportteil zu tun. Obwohl Favoritner schlug sein Herz für Grün-Weiß, was er sich selbst nicht erklären konnte. Wahrscheinlich hatte das etwas mit einem früh erwachten Gerechtigkeitssinn zu tun, denn in der Schule waren natürlich alle für die Austria gewesen, die ihre Heimspiele in Gehweite des Schulgebäudes austrug.

Als Rapidfan hatte er lange Zeit nicht viel zu lachen gehabt, aber im Vorjahr war dann gleichsam Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen, denn auch wenn die Mannschaft nur Vizemeister geworden war, so zog Rapid erstmals in der Vereinsgeschichte in ein Europacupfinale ein, wofür vor allem das Dreieck Panenka, Pacult und Krankl verantwortlich gewesen war. Krankl hatte den Verein aber in der heurigen Winterpause verlassen, was er, Zedlnitzky, immer noch nicht verwinden konnte.

Nun aber interessierte ihn primär der Spielbericht vom Semifinale im Cup, welches Rapid am Vortag gegen die Austria aus Klagenfurt bestritten hatte. Offenbar war es eine enge Partie gewesen. Rapid, so hieß es, habe sich nicht mit Ruhm bekleckert, aber man stehe im Finale, und das sei die Hauptsache an jenem Abend gewesen. Das Endspiel war für den 6. Mai in Aussicht genommen, und Zedlnitzky erwog nach Hütteldorf zu pilgern, da „St. Hanappi“ aus Austragungsort der Begegnung ausgewählt worden war.

„Was ist? Willst den Reichenberger warten lassen?“ Pospischil deutete fragend auf die Amtsuhr. Ohne dass es Zedlnitzky bewusst gewesen wäre, war die Zeit in Windeseile verflogen. Er unterdrückte einen Fluch, schnappte sein Sakko, das er im Gehen anzog, und machte sich auf den Weg. Punkt 14 Uhr stand er vor der Tür des Staatsanwalts.

Reichenberger sah mehr aus wie die Summe teurer Einzelteile als wie eine eigenständige Persönlichkeit. Natürlich vermochte Zedlnitzky nicht zu sagen, ob die Rolex am Handgelenk des Staatsanwalts echt war, doch sie funkelte genauso golden wie der wuchtige Siegelring. Dazu kam ein sündteurer Zwirn, ein blütenweißes Hemd, über dem eine Seidenkrawatte hing, deren Nadel fraglos ebenfalls aus Gold war. Reichenberger rauchte Zigarren, von denen ein Stück wahrscheinlich hundert Schilling kostete, die in einem eigenen Humidor gelagert waren. Noch kostspieliger waren mutmaßlich nur die Weine, die der Mann zu konsumieren pflegte, und Zedlnitzky erinnerte sich an die spöttischen Fragen, die darauf abzielten, wie sich dieser Mann bei seinem Gehalt seinen Lebensstil leisten konnte.

Reichenberger befahl ihm einzutreten, und erst nach einer geraumen Weile bot er ihm auch Platz an. Einen Augenblick lang fixierte Reichenberger sein Gegenüber, sodass Zedlnitzky sich so rundum unwohl fühlte.

„Na“, begann der Staatsanwalt endlich, „wie weit sind wir mit der Dentisten-Sache?“ Zedlnitzky berichtete artig, was er und seine Kollegen bislang zusammengetragen hatten.

Reichenberger schnalzte mit der Zunge. „Das heißt, Sie haben gar nichts. Das ist wieder einmal typisch. Da wird am helllichten Tag ein ehrenwerter Bürger brutal erschlagen, und Sie tappen völlig im Dunklen. Sagen Sie, wie ist das möglich? Hat man Ihnen nichts beigebracht auf der Polizeischule, oder wie?“

„Bei allem Respekt, Herr Staatsanwalt, wir tun, was wir können. Und der Fall …“

„Ach, Papperlapapp. Gar nix tun Sie. Wie immer. Rumsitzen tun Sie, anstatt dass Sie sofort die engere Umgebung des Opfers durchleuchten. Haben Sie überhaupt schon alle Hausbewohner vernommen, ha? Haben Sie? Und die Nachbarn in seiner Wohngegend? Na? Nix? Na, typisch! Mit Ermittlern wie Ihnen ist es ein Wunder, dass nicht noch mehr passiert in unserer Stadt.“

„Herr Staatsa …“

„Schau’n Sie, Kollege Zelnicki, das ist doch ganz einfach. So eine Person wie der Zahnarzt da, nicht wahr, der wird ja nicht Opfer irgendeines Wahnsinnigen. Da gibt es einen ganz konkreten Täter, der ein ganz konkretes Motiv hat. Geld, Rache, was weiß ich, das herauszufinden, ist Ihre Aufgabe. Und natürlich hat das Opfer seinen Mörder gekannt, sonst hätte der Tatort ganz anders ausgeschaut. Also durchleuchten Sie endlich gründlich sein Umfeld, dann werden Sie ihn bald haben, den Mörder.“

„Das wollen wir ohnehin machen, wir …“

„Na, dann machen Sie das endlich. Umgehend! Verstanden! Die ganze Stadt erwartet Ergebnisse. Nicht nur ich, die ganze Stadt. Verstehen Sie? Und das schnell.“

Na bitte, da war es, das „Krone“-Zitat, auf das er schon die ganze Zeit über gewartet hatte. Zedlnitzky wollte noch etwas erwidern, doch der Staatsanwalt machte nur eine wegscheuchende Geste.

„Geh’n S’, und das ganz schnell, bevor ich es mir anders überleg’ und den Fall in kompetentere Hände leg’. Bis übermorgen will ich Ergebnisse sehen. Haben wir uns verstanden? Und dabei ist mir wurscht, ob morgen ein Feiertag ist oder nicht. Wenn das Verbrechen nicht schläft, dann schlafen Sie auch nicht! Und jetzt geh’n S’ mir endlich aus den Augen, Sie Unglückswurm.“

Zedlnitzky blieb nichts anderes übrig, als sich wortlos zu entfernen. Wieder vor der Tür hatte er Mühe, seinen Zorn hinunterzuschlucken. Was bildete sich dieser aufgeblasene Geck eigentlich ein? Aber in einem Punkt hatte er leider recht. Vom Schreibtisch aus würde er den Fall nicht lösen können.

Er sah auf die Uhr. Kurz vor drei. Wenn er sich beeilte, würde er es noch nach Liesing schaffen, dann konnte er sich noch einmal mit der Witwe unterhalten.

Zurück in seinem Büro, griff er zum Hörer und ließ sich mit der Frau Dinotti verbinden. Umgehend hörte er durchdringendes Schluchzen. Die Frau war also zu Hause.

„Hören Sie, Frau Dinotti, ich weiß, das ist alles ganz furchtbar schwer für Sie, aber ich müsste noch einmal mit Ihnen reden. Sie wollen doch sicher auch, dass der Mörder Ihres Mannes so schnell wie möglich gefasst wird, oder?“

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen da … behilflich … sein könnte“, greinte sie.

Zedlnitzky versicherte ihr, alles, und sei es auf dem ersten Blick auch noch so bedeutungslos, könne von Interesse sein.

„Na, dann kommen S’ halt, in Gottes Namen“, lautete ihr Resümee.

Wieder in der Anton-Krieger-Gasse wartete er erst einmal, bis sich die Frau halbwegs beruhigt hatte.

„Wissen Sie, Frau Dinotti, was mir die Arbeit im Augenblick so schwer macht, ist der Umstand, dass ich mir keine Vorstellung von Ihrem Herrn Gemahl machen kann. Was war er für ein Mensch?“

„So gut. Er war so ein guter Mensch. Hat geholfen, wo er nur konnte. Für jeden hat er einen hilfreichen Rat parat gehabt. Ich kann mir echt nicht vorstellen, dass irgendjemand irgendetwas gegen ihn gehabt haben könnte. Wirklich nicht.“

„Wann haben Sie ihn denn kennen gelernt, gnädige Frau?“

Ihr Blick wanderte in die Ferne, und auf ihrem Antlitz zeigte sich ein seliges Lächeln.

„1949 war’s. Eine Wurzelfüllung. Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Zedlnitzky war erstaunt. Dass man sich während einer schmerzhaften Zahnbehandlung in den Peiniger verlieben konnte, war ihm neu.

„Ja, ich hab’ so viel Angst g’habt. Aber er war so einfühlsam, so rücksichtsvoll, da hab’ ich g’wusst, der ist der richtige …“

„Zahnarzt?“

„Mann fürs Leben!“ Sie sah ihn missbilligend an.

Er zuckte verlegen mit den Schultern.

„Und seit wann wohnen Sie hier?“

Frau Dinotti war kurzfristig ein wenig verwirrt, weil sie den schnellen Themenwechsel nicht gleich nachvollziehen konnte.

„Seit 1965“, sagte sie dann. „Das Haus da haben wir uns auf Kredit gekauft. War für damalige Verhältnisse gar nicht so teuer, weil’s so weit draußen war. Aber mein Mann hat damals gut verdient, und deshalb haben wir den Kredit auch vor der Zeit tilgen können. Das war auch wichtig, weil wir ja auch Geld für die Ausbildung von der Pia gebraucht haben.“

„Das heißt, finanzielle Sorgen hatten Sie demnach keine. Niemand von Ihnen?“

Auch wenn er bereits über die Geldverhältnisse im Hause Dinotti Bescheid wusste, wollte er doch sehen, wie die Witwe auf diese Frage reagierte.

„Also von solchen Dingen versteh’ ich nix, da hat sich immer der Walter darum gekümmert. Aber was ich weiß, stehen wir gut da. Er hat immer von einem gut dotierten Sparbuch erzählt. … Warten S’, das müsste eh im Schlafzimmer liegen. Ich hol’s schnell.“

Zedlnitzky winkte ab. „Nicht nötig, das passt schon. Und das Fräulein Tochter?“

„Auch da habe ich nicht die geringste Ahnung. Natürlich hat sie einiges Geld in die Hand nehmen müssen, als sie sich ihr Tanzstudio aufgebaut hat. Aber das läuft ja recht gut, also denke ich, es geht ihr finanziell nicht schlecht. Zumindest hat sie uns nie auch nur um einen einzigen Schilling gefragt in den letzten Jahren.“

Zedlnitzky nickte.

„Gut. Und, sagen Sie, ist Ihnen an Ihrem Mann irgendetwas aufgefallen in letzter Zeit. War er irgendwie anders? Nervös? Bedrückt? Verängstigt vielleicht?“

„Nicht, dass ich wüsste. Obwohl … jetzt, wo Sie mich danach fragen. Vor einer Woche, am 21. oder 22. war’s, da war er wirklich völlig verändert. Ich hab’ mich noch g’fragt, was los ist mit ihm, weil er ist sofort rauf in sein Kammerl und hat sich dort förmlich eingekastelt. Da hab ich mir natürlich Sorgen gemacht und bin auch rauf, hab g’fragt, was denn los ist, nicht wahr, aber er hat nur g’meint, er müsse dringend was recherchieren. Und dann, Stunden später, ist er mit einem beinahe seligen Lächeln wieder runtergekommen. Beim Abendessen hat er dann g’sagt, er sei auf etwas draufgekommen, das könnte eine Menge Leute interessieren, und es werde Staub aufwirbeln.“

Zedlnitzky war gespannt wie der sprichwörtliche Flitzebogen.

„Ich hab ihm noch geantwortet, er soll nix Unüberlegtes tun, und er hat gelächelt und g’meint, ich solle mir keine Sorgen machen. Na, und die habe ich mir dann auch nicht gemacht. Was aber ein Fehler war, wie es jetzt scheint.“

Abermals standen der Frau die Tränen in den Augen, und Zedlnitzky wartete darauf, bis sie sich halbwegs wieder beruhigt hatte.

„Dieses Kammerl“, sagte er dann mit sanfter Stimme, „dürft’ ich das einmal sehen?“

Sie nickte: „Ja sicher, wenn das etwas nützt!“

Sie erhob sich und führte Zedlnitzky in den Dachbereich des Hauses. Dort befand sich die Tür in eine kleine Kammer, die, wie Zedlnitzky auf den ersten Blick feststellen konnte, übervoll mit diversen Druckwerken war. Überall standen und lagen Bücher herum, dazu Zeitschriften, alte Zeitungen und diverse Ordner, die ebenfalls mit Papier gefüllt waren.

„Das hat er immer sein Archiv genannt“, erklärte sie entschuldigend.

„Und wissen Sie, was er da gesammelt hat? Zahnärztliche Fachliteratur?“

„Aber gehen S’! Nein, alles zum Thema Zweiter Weltkrieg. Wissen S’, er ist während der Nazizeit eing’sperrt g’wesen, und das hat er nie verwunden. Dieses Sammeln da, das war irgendwie sein Ventil, mit seiner eigenen Vergangenheit besser fertigzuwerden.“

Zedlnitzky signalisierte, dass er verstanden hatte.

„Dürft ich mich ein bisserl umschauen?“

Die Frau lächelte schmal: „So lange Sie wollen. Möchten S’ derweil einen Tee?“

Er lehnte dankend ab und ließ dabei seinen Blick weiter auf ihr ruhen, bis sie verstanden hatte.

„Dann lass ich Sie einmal allein. Sie melden sich, wenn Sie etwas brauchen, ja?“ Wieder nickte er.

Schon wieder Zweiter Weltkrieg. Dieses Thema ließ ihn an diesem Tag nicht los. Er blickte ratlos auf den Papierwust. Wenn er nur wüsste, wonach er suchen sollte, dachte er sich. Er besah sich die diversen Konvolute und versuchte zu erkennen, welcher Stapel wohl jener war, denn der Dentist vor einer Woche durchgekämmt hatte. Automatisch besah er sich die Aufschriften der diversen Ordner. Jener mit den Buchstaben „SS“ schien ihm ein wenig hervorzustehen. Außerdem wirkte er nicht so verstaubt wie die anderen. Vielleicht, so sagte er sich, sollte er einmal damit beginnen.

Es war ermüdend, sich durch Haufen von Papieren zu wühlen, wenn man nicht die geringste Ahnung hatte, wonach man suchen sollte. In dem Ordner befanden sich unzählige Zeitungsartikel, die aber nach keinem erkennbaren Schema geordnet zu sein schienen. Manche enthielten Lebensläufe von irgendwelchen NS-Größen, andere wiederum berichteten von Strafverfahren gegen diverse Kriegsverbrecher. Dazwischen befanden sich allerdings auch immer wieder offizielle Kundmachungen aus der NS-Zeit. Er stolperte über ein Organigramm, das den Aufbau der SS zeigte, doch die Namen, die dort händisch eingetragen waren, sagten ihm nichts.

Da fiel ihm eine dünne Mappe auf, die am äußersten Ende des Ordners den Eindruck erweckte, hastig hineingestopft worden zu sein. Er zog sie heraus. „Stein“ stand darauf geschrieben, und Zedlnitzky dämmerte, dass diese Mappe etwas mit jenem Massaker zu tun haben könnte, das Dinotti bei Kriegsende überlebt hatte.

Zuoberst lagen diverse Ausschnitte, die über den Prozess zu besagtem Massaker berichteten. Der hatte in Wien im August 1946 offenbar mit fünf Todesurteilen geendet. Weitere fünf SS-Männer hatten, wie Zedlnitzky den Unterlagen entnahm, lebenslange Haftstrafen ausgefasst. Allerdings schien Dinotti die entsprechenden Nachrichten kommentiert zu haben, denn am rechten Rand der Seite befand sich eine handschriftliche Notiz: „Willi Birgler“.

Zedlnitzky wusste nicht, was er mit „Willi Birgler“ anfangen sollte. Und auch die historischen Zeitungsausschnitte schienen nicht ergiebig zu sein. Also kehrte er zum Hauptordner zurück, in dem sich eine weitere Mappe fand, welche die Aufschrift „SS-Verbrecher“ trug. Zedlnitzky blätterte die Sammlung durch und hätte sie beinahe schon weggelegt, als er im Augenwinkel ein „gler“ wahrzunehmen meinte. Er schlug die entsprechende Seite auf, und wirklich, hier fand sich ein Lebenslauf von Willi Birgler.

Geboren am 22. Oktober 1922 in Judenau im Tullnerfeld, absolvierte Birgler offenbar eine Fleischerlehre, ehe er sich 1939 freiwillig zur SS meldete. 1940 und 1941 schien er in Polen stationiert gewesen zu sein, ohne dass darüber nennenswerte Informationen vorlagen. Im Gefolge des Überfalls auf die Sowjetunion schien er in Geiselerschießungen hinter der Front involviert gewesen zu sein, ehe er 1943 aus Gründen, die in dem Dokument nicht aufgeführt wurden, auf einmal Teil der Wachmannschaft des KZ Mauthausen war.

Zedlnitzky kratzte sich am Hinterkopf. Wie hatte der Kerl das angestellt, stets weit weg von jedweder Gefahr zu sein? Darauf gab es zumindest vorerst keine Antwort.

Jedenfalls kam Birgler dann Ende 1944 zur Wacheinheit in der Strafanstalt Stein, wo er sich offenbar besonders brutal in Szene gesetzt hatte. Anders als der Rest der Truppe flüchtete er allerdings im Anschluss Richtung Westen und wurde Anfang Mai 1945 von den Amerikanern gefangen genommen. Die steckten ihn ins Lager Glasenbach, wo ihm offenbar ein eigener Prozess gemacht wurde, denn Dinotti hatte das Wort „Todesurteil“ unter die letzten Zeilen geschrieben. Allerdings stand da noch etwas. „Geflohen Sept. 46“, lautete der Eintrag Dinottis.

Konnte es sein, dass sich dieser Birgler der Verantwortung entzogen hatte? Zedlnitzky kramte nach Papier und Bleistift. Wenn er schon am übernächsten Tag in jenes Archiv ging, dann konnte er dort ja durchaus nachfragen, ob die Wissenschaftler dort mit dem Namen „Birgler“ etwas anfangen konnten.

Zedlnitzy fiel auf, dass er mehr und mehr Mühe hatte, das Gedruckte zu entziffern. Ein Blick auf die Uhr gab ihm die Erklärung für dieses Phänomen. Es war schon beinahe sechs, womit die Dämmerung allmählich einsetzte. Und er hatte seine Frau gar nicht davon informiert, dass er später nach Hause kommen würde! Eilig gab er den Papierstapel wieder zurück in den entsprechenden Ordner und begab sich schleunigst hinunter ins Wohnzimmer.

„Gut, Frau Dinotti, das wär’s vorerst einmal von meiner Seite. Dürfte ich Sie noch um eine Kleinigkeit bitten? Ich müsste nur ganz schnell meine Frau anrufen!“

Die alte Frau wies auf den Apparat, den Zedlnitzky ja schon benutzt hatte.

Eilig wählte er seine eigene Nummer.

„Du, Mama, ich bin’s. Ich komm’, wie du vielleicht gemerkt hast, heute ein bisserl später. Aber in einer halben Stunde bin ich zu Hause.“

Er wartete die Bestätigung seiner Frau ab, nickte dann noch Frau Dinotti zu und verließ das Haus.

„Bin da!“, rief er, zu Hause angekommen, und gleich danach: „Was gibt’s denn zu essen?“ Inständig hoffte er, das Abendmahl würde besser ausfallen als der Kantinenfraß zur Mittagspause.

Seine Frau reckte den Kopf aus der Küche. „Na Beuschel“, sagte sie schulterzuckend, „mit Semmelknödel. Das wolltest doch haben.“

Zedlnitzky lächelte selig. Wenigstens in kulinarischer Hinsicht war die Welt noch in Ordnung.

Nach dem Essen genehmigte er sich ein Bier und machte es sich vor dem Fernseher gemütlich. Die Nachrichten wurden nach wie vor von dem Atomunfall in der Ukraine dominiert. Anscheinend gab es auch weiterhin nur ein einziges Foto, das als Illustration herhalten musste. Der Gesundheitsminister warnte wortreich vor einer Panik, schränkte aber immerhin ein, dass in nächster Zeit Vorsicht nicht falsch sein könne. Der Maiaufmarsch, so hieß es abschließend, könne jedoch wie geplant über die Bühne gehen. Wenige Tage vor dem ersten Durchgang zur Präsidentschaftswahl bezogen noch einmal alle Parteien ausführlich Stellung. Während die Vertreter von SPÖ und ÖVP ein weiteres Mal für ihren jeweiligen Kandidaten warben, verhielt sich Stegers FPÖ weitgehend neutral. Auffallend war somit nur, dass der FPÖ-Landesrat von Kärnten unverhohlen Sympathie für den Rechtsaußen-Kandidaten erkennen ließ, der sich als Vertreter einer nationalfreiheitlichen Sammlung gerierte. Schließlich wurden noch einmal die Chancen der grünen Kandidatin abgewogen, die sich ob der Ereignisse in der Sowjetunion voll bestätigt sah.

Ihm wurde langweilig. Er warf einen Blick auf das Fernsehprogramm. Auch das klang wenig verheißungsvoll.

„Was ist“, fragte er seine Frau, „wollen wir ein wenig kuscheln gehen?“

Sie warf ihm einen verschwörerischen Blick zu: „Wenn die Kinder schlafen“, raunte sie.

Zwei Stunden später hatte er glücklich auch Peter in dessen Bett verstaut, und hoffnungsvoll machte er sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Er hob seinen rechten Arm und schnüffelte an seiner Achsel. Vielleicht, so dachte er, wäre es nicht unklug, zuvor noch zu duschen, denn seine Frau, das wusste er aus Erfahrung, war nicht unbedingt eine Anhängerin von Schweiß. Eilig begab er sich also ins Bad, wo er sich einer umfassenden Reinigung unterzog. Er kontrollierte noch einmal seine Fingernägel, dann hüllte er sich in den Morgenmantel und schlich auf leisen Sohlen zu seiner Bettstatt.

Unmittelbar davor erstarrte er. Seine Frau lag mit einem Buch vor der Brust auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Und ihr ruhiger Atem signalisierte ihm, dass sie eingeschlafen war.

„Na toll“, dachte er sich, „wieder nichts. Da war er noch nicht einmal 31 Jahre alt, und Sex war schon absolute Mangelware.“ Er seufzte. „Wo wird das alles enden?“, flüsterte er, ehe er ebenfalls unter die Bettdecke kroch. „Und das auch noch vor einem Feiertag“, schimpfte er leise.