Natürlich hätte er gerne studiert. Doch mit welchen Mitteln? Wollte er überleben, musste er arbeiten gehen. In den Hermann-Göring-Werken, die seit 1946 „Vereinigte Österreichische Edelstahlwerke“ genannt wurden, brauchte man jede Hand, und so wurden keine langen Fragen gestellt. Ehe er es sich versah, stand er schwitzend am Hochofen und verdiente in Doppelschichten das Dreifache eines Universitätslehrers. Mit dieser Arbeit ließ sich genug zurücklegen, um später nachzuholen, wozu es anfänglich nicht reichte.
Volle zwei Jahre hatte er geschuftet, und doch war er auf keinen grünen Zweig gekommen. Er rechnete sein Erspartes ein ums andere Mal durch, aber wie er es auch drehte und wendete, es schien nicht für ein vollständiges Studium zu reichen. In seiner Not hatte er sich sogar an die Gewerkschaft gewandt und gefragt, ob die ihm zu einem Darlehen verhelfen könnten. Dort schüttelte man jedoch nur bedauernd den Kopf. Er war keiner der ihren, also gab es auch keine Unterstützung. Mit nicht geringer Wut im Bauch schloss er sich daraufhin den Unabhängigen an, die ihm inhaltlich ohnehin viel näher standen, da die „Unabhängigen“ allesamt mehr oder weniger ehemalige Nationalsozialisten waren.
Und ausgerechnet die probten nun in diesem Herbst den Klassenkampf. Eigentlich musste er schmunzeln, als freiheitliche Betriebsräte zum Streik aufriefen. Doch das Lächeln verging ihm, als er sah, wie viele Arbeiter bereitwillig die Arbeit niederlegten. Erst war er geschockt, dann aber erkannte er genau in dieser Entwicklung seine Chance. Wenn er seine Karten geschickt ausspielte, dann würde er es doch noch an die Universität schaffen.
Am nächsten Tag, dem 26. September, begannen in ganz Österreich Streiks, die sich gegen die für 1. Oktober angekündigten Preissteigerungen richteten. In Linz zogen etwa 15.000 Demonstranten über die Landstraße bis zum Linzer Landhaus und erreichen dort, dass eine zwanzigköpfige Abordnung von Landtagsabgeordneten versicherte, ebenfalls gegen die voreiligen Preiserhöhungen einzuschreiten. Alle waren völlig aus dem Häuschen, vor allem, als sich herumsprach, dass auch weitere Industriebetriebe in Oberösterreich zu streiken begonnen hatten. Post und Eisenbahn in Steyr, Gmunden, Attnang-Puchheim, Lenzing und Nettingsdorf taten es den Arbeitern gleich. Solch eine Bewegung, so gestand er sich ein, hatte er seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Am folgenden Tag verstärkte sich die Streikbewegung weiter. In Linz standen alle öffentlichen Verkehrsmittel still. Er folgte der großen Menge von Arbeitern aus der VOEST und den Stickstoffwerken, die zum Gebäude der Arbeiterkammer zog und dieses belagerte. Irgendjemand begann „Weg mit dem Schandpakt“ zu rufen, und bald wurde die Losung aus Zehntausenden Kehlen skandiert. Plötzlich tat sich etwas. Einige Arbeiter drangen in den Bau ein und zum Präsidenten der Arbeiterkammer vor. Sie forderten ihn ultimativ zum Rücktritt auf, wenn er nicht vom Balkon fliegen wolle. Der Mann war über 70 und willigte mit angstgeweiteten Augen ein. Wenig später marschierte die Polizei auf, und er hielt es für ratsamer, sich aus dem Staub zu machen. Dass die anderen alsbald seinem Beispiel gefolgt waren, erfuhr er erst am nächsten Morgen aus den diversen Zeitungen. Die Landesregierung kritisierte die Demonstrationen heftig, und sogar die Gewerkschaftsführung und die SPÖ distanzierten sich öffentlich von den Aktionen und sprachen von gesetzwidrigem Vorgehen.
Da war, so fand er seine Stunde gekommen. Er begab sich zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften und erklärte, er habe einen gewissen Einfluss auf die Hitzköpfe bei den Freiheitlichen. Er könnte mäßigend auf sie einwirken. Alles, was er dafür im Austausch wolle, sei ein Werkstipendium, um endlich studieren zu können. Die Roten waren verzweifelt genug, jede Hand zu ergreifen, die sich ihnen darbot. Und natürlich war es bei Weitem nicht sein Verdienst, dass der spontane Zorn, der sich in den letzten Tagen Bahn gebrochen hatte, ebenso rasch wieder abebbte. Aber er fand, es schade nicht, die eigene Rolle ein wenig herauszustreichen.
Zwei Tage später konnte er sich in den Zug nach Wien setzen, um dort sein Studium der Rechte zu beginnen. Die ersten Tage war er noch ein wenig nervös gewesen, ob ihn vielleicht jemand erkennen würde, doch mit jeder Woche, die verstrich, wurde er selbstsicherer. Mit dem SPÖ-Parteibuch in der Jackentasche fühlte er sich unangreifbar. Und als er wenig später auch dem BSA, dem Bund Sozialistischer Akademiker, beitrat, stellte er beruhigt fest, dass dort keine Fragen bezüglich der privaten Vergangenheit gestellt wurden. Wer weiß, sagte er sich an einem Frühlingstag des Jahres 1951, vielleicht werde ich sogar wieder Polizist. Dann aber als Offizier.
Keine Frage, die Welt hatte ihn wieder, und er war bereit, die Welt für sich zu gewinnen.