Wien, 2. Mai 1986

Zedlnitzky brauchte eine gute Weile, bis er sich daran erinnerte, dass er für 9 Uhr morgens einen Termin mit der Archivarin des Dokumentationsarchivs vereinbart hatte. Zu seinem Glück hatte er sich eine entsprechende Notiz auf seinem Stehkalender eingetragen, sodass er fristgerecht sein Büro verlassen und das entsprechende Gebäude in der Wipplingerstraße aufsuchen konnte. Dieses war nicht weit vom Sicherheitsbüro entfernt, und so entschloss er sich, die kurze Wegstrecke zu Fuß zurückzulegen. Tatsächlich war er zehn Minuten später am Barocktor des alten Rathauses angelangt.

Dort musste er sich erst einmal orientieren. Ein unscheinbares Metallschild verwies ihn auf die Stiege III, die er im zweiten Versuch auch zu entdecken vermochte. Er öffnete die schwere Glastür und ging eine Wendeltreppe hinauf. Kaum am Treppenabsatz angekommen, sah er sich rechter Hand einer weiteren Pforte gegenüber, die mit einer Art Sprechanlage gesichert war. Er betätigte den vorgesehenen Druckknopf, worauf ein Licht anging. Zedlnitzky vermutete, dass es sich um eine Kontrollkamera handelte, und so hielt er seinen Ausweis in die Höhe. Tatsächlich ertönte ein Summen, und er konnte die Tür nun öffnen.

Vor ihm lag eine ziemlich heruntergekommene Ausstellung, deren Exponate teilweise mit schweren grauen Vorhängen abgedeckt war. Nur einige Vitrinen waren einsehbar, und er wunderte sich nicht wenig über einen mit Farbe bespritzten Wanderschuh, den die daneben aufgestellte Infotafel als „Schuh, ca. 1986“ bezeichnete, der eine „Leihgabe der Klamper-Foundation of modern Fetishism“ sei. Er zog die Augenbrauen hoch und war dermaßen irritiert, dass ihm der schlafende Portier am Fenster erst auffiel, als dieser ein Schnarchen von sich gab. Aber gut, so dachte Zedlnitzky, nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, der Mann war fraglos um die 80 und hatte seine besten Tage lange schon hinter sich.

Als Zedlnitzy noch überlegte, ob er den Pförtner nichtsdestotrotz wecken sollte, kam ein anderer Rentner federnden Schritts aus einer linken Seitentür, wurde seiner gewahr und fragte ihn nach seinem Begehr.

„Ich habe einen Termin bei Frau Doktor …“, er sah auf seinem Notizzettel nach, „Klamper …“ Die zweite Silbe des Namens begann sich allmählich zu verlieren, und seine Stimme ging in ein undeutliches Gemurmel über, während er noch einmal den Schuh in der Vitrine in Augenschein nahm.

„Ah, die Gillie“, meinte der Pensionist, „die finden S’ ganz hinten. Geh’n S’ mir einfach nach. Dort muss ich eh auch hin.“

Eilig strebte der Mann einem Korridor zu, sodass Zedlnitzky Mühe hatte, dessen Tempo zu halten. Die Räumlichkeiten des Archivs erinnerten ihn an jedes x-beliebige Amt dieser Republik, das in den 60ern eingerichtet worden war, denn überall regierten verschiedene Grautöne und Plastik. Selbst der Boden war aus billigstem Laminat, sodass Zedlnitzky nicht zu sagen vermochte, was mehr quietschte – der Fußboden oder die Schuhe seines Vordermanns. Nach einigen Metern weitete sich der Gang ein wenig, denn rechter Hand waren die Toiletten untergebracht. Dann folgte ein fensterloser Zwischenraum, ehe er die drei Prunkräume erreichte, die noch aus dem Barock stammten und deren Fenster direkt auf die Wipplingerstraße gingen.

„Gleich da links“, erklärte der Alte und entschwand nach rechts.

Zedlnitzky folgte der Anweisung und stand unerwartet einer überaus aparten Rothaarigen von maximal 30 Jahren gegenüber, deren Löwenmähne mit der bordeauxroten Bluse kontrastierte, die in einem viel zu kurzen Minirock steckte. Als die Frau seiner ansichtig wurde, sprang sie auf und bewegte sich mit einem aufreizenden Gang auf ihn zu, wobei sie ihre Arme an der Seite anwinkelte, als würde sie sich durch eine Menschenmenge durchkämpfen müssen.

„Sind Sie der Herr Inspektor?“, fragte sie und wirkte ob ihrer Augengläser noch investigativer, als es ihre schneidende Stimme schon vermuten hatte lassen.

Zedlnitzky nickte beinahe schüchtern.

„Ich hab schon alles für Sie vorbereiten lassen. Viel haben wir ja nicht über den Dinotti, weil der kein Politischer war, nicht wahr.“

Zedlnitzky musste ein fragendes Gesicht an den Tag gelegt haben, denn die Klamper fühlte sich dazu bemüßigt, ihre Aussage näher zu erklären.

„Schauen Sie, im Widerstand waren ja primär Leute aktiv, die sich irgendeiner Partei zugehörig gefühlt haben. Zumeist Kommunisten oder Sozialisten, es gab aber auch Konservative und Liberale, diverse christliche Gruppierungen und natürlich die nationalen Minderheiten, also vor allem die Tschechen und die Slowenen. Und der Dinotti, der gehörte keiner der genannten Gruppen an, der war einfach nur ein Mensch, der halt nicht viel vom Nationalsozialismus gehalten hat, und deswegen ist er dann auch verurteilt worden.“ Sicherheitshalber wiederholte Zedlnitzky die zuvor geübte Kopfbewegung.

Wirklich spannend ist der Dinotti objektiv ja nur, weil er als einer der wenigen das Massaker in Stein überlebt hat.“

„Ja, genau. Das habe ich seinem Lebenslauf entnommen. Aber, um ganz ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, worum es bei diesem Massaker überhaupt gegangen ist. Ich meine“, fügte Zedlnitzky entschuldigend hinzu, „ich bin ganz gut im Bilde über die Konzentrationslager und die Massenmorde und das alles, auch weiß ich, dass im Zweiten Weltkrieg immer wieder einmal irgendwo ganze Dörfer ausradiert worden sind, aber was, bitte schön, hat das mit der Strafanstalt zu tun?“

Die Klamper lächelte. „Gegen Kriegsende haben die Nazis nicht so recht gewusst, was sie mit ihren Gefangenen machen sollen. Ein paar waren dafür, sie laufen zu lassen, andere wollten einfach alle umbringen. Und genau diese Diskussion hat es in Stein eben auch gegeben.“ Sie hielt einen Augenblick inne. „Aber wissen Sie was? Im 14. Bezirk lebt ein pensionierter Rechtsanwalt. Anton Hirsch. Der hat dieses Massaker auch überlebt. Mit dem sollten Sie reden. Der kann Ihnen viel darüber erzählen.“

„Wenn das möglich wäre, dann wäre das sicher hilfreich“, statuierte er.

„Na, dann täte ich sagen, Sie schauen sich einmal unsere Akten da durch, und ich such’ ihnen einstweilen die Nummer vom Toni raus, da können Sie sich dann mit ihm in Verbindung setzen.“

Zedlnitzky signalisierte dankbare Zustimmung und setzte sich an einen der kärglichen Tische, auf dem die für ihn vorbereiteten Dokumente lagen.

Viel kam dabei tatsächlich nicht heraus. In einem orangefarbenen Kuvert befand sich eine Kopie eines Gestapo-Berichts vom Februar 1940 über die Festnahme Dinottis und weiters eine Abschrift des Urteils vom Mai 1941. Dinotti war, wie Zedlnitzky schon wusste, zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, zudem zu, wie es hieß, dauerndem Ehrverlust. Ihm wurde kraft Urteils Wehrunwürdigkeit attestiert, außerdem verfiel sein Vermögen an das Reich. Zedlnitzky blätterte vor und zurück, doch mehr war beim besten Willen nicht zu finden. Als die Klamper zu ihm an den Tisch trat, um ihm einen Zettel mit Hirschs Telefonnummer zu überreichen, fragte er unwillkürlich: „Ist das alles?“

Die Klamper machte eine entschuldigende Geste. „Ich sagte Ihnen ja, der Dinotti war kein exponierter Mensch. Ich habe mich zwischenzeitlich auch bei unseren ehrenamtlichen Mitarbeitern hier im Archiv umgehört. Die sagen übereinstimmend, dass der Dinotti nach 1945 nie auf einer Veranstaltung oder bei einem Gedenktreffen war. Ich glaube fast, dem ist sein Widerstand mehr passiert, als dass er ihn bewusst gesetzt hätte.“

Zedlnitzky hob die Augenbrauen: „So etwas gab es?“

„Natürlich. Leute mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zum Beispiel. Die fanden die Diktatur einfach nicht in Ordnung und haben das dann auch kundgetan. Es gab damals, müssen Sie wissen, auch anständige Menschen. Nicht nur Denunzianten und Opportunisten, die, sagen wir mal, ihre Pflicht erfüllt haben.“ Zedlnitzky hatte die Anspielung auch ohne das schnelle Augenzwinkern verstanden. Dinotti war also ein Eigenbrötler gewesen. Einer, der sich sozusagen um Kopf und Kragen geredet hatte. Aber war es nicht wesentlich wahrscheinlicher, dass so einer, nachdem er den Krieg glücklich überlebt hatte, von dieser Zeit des Grauens gar nichts mehr wissen wollte? Wieso sammelte er dann all diese Materialien? Kam er nicht los von den Schatten seiner Vergangenheit? Von den Schatten von Stein? Sann er doch auf Vergeltung?

Nun, so unlogisch klang das gar nicht, wenn man es recht bedachte. Der Mann hatte sich schon während der NS-Zeit nach Gerechtigkeit gesehnt, umso mehr musste dieser Wunsch unter demokratischen Vorzeichen in ihm geblüht haben. Unterlagen wie jene, die er in Dinottis Kammer gefunden hatte, die hob man sich nicht auf, um sich an die Zeiten der unendlichen Qualen zu erinnern. Nein, die waren die Gedächtnisstütze, um eines Tages handeln zu können. Die Frage war also nur noch, was es mit diesem Birgler auf sich hatte.

Ein schneller Blick auf die Uhr überzeugte ihn davon, dass er den Zeitzeugen noch am Vormittag treffen konnte. Er bat, von der Archivleitung aus einen Anruf machen zu dürfen. Zu seiner Freude meldete sich Hirsch umgehend. Ja, er sei zu Hause, ja, er wolle sich gern unterhalten, und ja, er freue sich, wenn er der Exekutive von Nutzen sein könne, lautete das Credo des Anwalts. Zedlnitzky verabschiedete sich also von der Archivarin und sah zu, dass er in den 14. Bezirk kam.

Zwanzig Minuten später klopfte er an die Tür des ehemaligen Anwalts. Der Anblick des 70-Jährigen überraschte ihn. Der Mann wirkte wesentlich jünger. Er war zwar nicht groß gewachsen, doch sein Gesicht hatte etwas Attraktives. Seine wachen Augen hatten einen schelmischen Blick, und mit seinen penibel zurückgekämmten Haaren und seinem dünnen Schnurbart wirkte er wie ein englischer Gentleman-Offizier.

„Ah, freut mich“, begann der Advokat, „nur herein mit Ihnen.“

Hirsch führte ihn in sein Büro und fragte, ob er ihm etwas aufwarten könne. Zedlnitzky lehnte dankend ab, erkundigte sich ob des schweren Glasaschenbechers, der auf dem Tisch stand, ob er rauchen dürfe. Hirsch nickte nur und setzte sich sodann.

„Also, Herr Inspektor, was kann ich für Sie tun?“

„Es geht mir um das Massaker von Stein vor 41 Jahren …“

Hirschs Lächeln verschwand.

„Obwohl das schon so lange her ist, wird mir immer noch ganz anders, wenn ich daran denke. Sie haben ja keine Ahnung, Herr Inspektor, wie viele Hundert Menschen damals von der SS einfach so hingeschlachtet wurden.“

„Und weil ich keine Ahnung habe, Herr Doktor, brauche ich jemanden, der es mir erzählt.“

Hirsch erhob sich und begab sich in einen Nebenraum. Zedlnitzky hörte eine Wasserleitung. Offensichtlich gingen dem Mann die Erinnerung an die grausamen Ereignisse immer noch an die Nieren. Nach einer kleinen Weile kam er zurück, tat, als wäre nichts gewesen, und setzte sich wieder.

„Im April 1945“, begann er ohne Umschweife, „war die Lage für die Nazis verzweifelt. Jeder, der halbwegs bei Sinnen war, wusste, dass ihre Sache verloren war. Doch auf diese Erkenntnis reagierte jeder auf seine Weise. Die einen versuchten überzulaufen, andere, sich irgendwie mit der neuen Situation zu arrangieren, und wieder andere suchten den bewussten Untergang. Und das war auch bei der Wachmannschaft von Stein nicht anders.“

Zedlnitzky nickte und dämpfte seine Zigarette aus.

„Stein ist damals aus allen Nähten geplatzt. Die hatten da an die zweitausend Häftlinge untergebracht. Und innerhalb der Leitung entspann sich offenbar eine Debatte, wie man mit diesen Häftlingen verfahren sollte.“

Hirsch stand noch einmal auf und verschwand ein weiteres Mal im Nebenraum. Wieder war die Wasserleitung zu hören. Diesmal kehrte der Anwalt allerdings mit einem Glas Wasser zurück.

„Zuerst haben sie versucht, Häftlinge zu überreden, sich freiwillig für den Endkampf zu melden. Das versuchten sie auch bei mir. Ich erinnere mich noch genau, wie der Sekretär des Gefängnisdirektors Kodré zu mir in die Zelle kam und mir gut zuredete. Man würde all meine Vergehen vergessen, ich könne mich als guter Deutscher bewähren und wäre nach dem Krieg ein gemachter Mann.“ Hirsch nickte mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. „Ja, so verzweifelt waren die, dass sie uns mit solch einer plumpen Lüge kamen.“

Zedlnitzky räusperte sich. „Und wie haben Sie reagiert?“

„Ich habe ihn einfach nur wortlos angesehen, und er hat verstanden. Er ist ebenso wortlos aus meiner Zelle verschwunden.“

Zedlnitzky widerstand der Versuchung, sich gleich noch eine Zigarette anzuzünden, obwohl er merklich angespannt war. „Und was ist dann passiert?“

„Offenbar war es in der Leitung zu einem Konflikt gekommen. Alois Baumgartner, der stellvertretende Direktor, verfocht weiterhin die harte Linie und wollte die Häftlinge nach Deutschland verfrachten. Kodré aber hatte die Sache verloren gegeben und vertrat die Ansicht, man solle uns einfach ziehen lassen und selbst das Weite suchen.“

Zedlnitzky konnte diesen Standpunkt gut nachvollziehen. Aber er war viel zu interessiert, um Hirsch in seiner Erzählung unterbrechen zu wollen.

„Der Baumgartner ist mit seiner engsten SS-Truppe, wie es schien, abgerückt, und der Oberaufseher hat unsere Sachen aus den Magazinen tragen lassen und uns erklärt, wir sollen erst unseren Kram und dann uns selbst packen. Das haben sich die Leute natürlich nicht zweimal sagen lassen, und jeder suchte aus den Haufen, die im Hof aufgeschichtet worden waren, sein Zeug zusammen.“

Zedlnitzky sah den Erzähler fragend an: „Zweitausend Leute gleichzeitig im Gefängnishof? War das nicht ein unglaubliches Chaos?“

Hirsch lächelte verschmitzt. „Natürlich. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. In Wirklichkeit hat jeder genommen, was irgendwie gepasst hat. Das war die einzige Chance. Und ich erinnere mich an die Furcht, die auf beiden Seiten geherrscht hat. Wir Häftlinge hatten Angst, es mit einer Falle zu tun zu haben, und die Wachmannschaften fürcheten, dass wir sie überwältigen und uns rächen könnten.“

„Haben Sie Ihre Sachen wiedergefunden?“

Hirsch winkte ab. „Aber geh’! Ich hab’ auch einfach nur genommen, was mir irgendwie gepasst hat. In einem solchen Moment darfst nicht heikel sein.“

Er nahm wieder einen Schluck aus seinem Wasserglas. „Jedenfalls hieß es, jeder, der seine Sachen hat, soll die Strafanstalt verlassen. Na, ich geh Richtung Tor. Auf einmal taucht der Kodré selber auf und hält gerade mich an. Er fragt mich, ob ich wisse, wer den Befehl gegeben habe, die Zellen und Magazine zu öffnen. Da ist mir klargeworden, dass es unter dem Personal zwei Richtungen gab. Die einen wollten um jeden Preis Himmlers Befehl ausführen, die anderen wollten uns in die Freiheit entlassen.“

„Himmlers Befehl?“ Zedlnitzky war sich nicht sicher, ob er nicht etwas verpasst hatte.

„Na, uns nach Deutschland zu verfrachten“, erklärte Hirsch kurz angebunden. Danach räusperte und sammelte er sich wieder. „Als ich mit meinem Kollegen Alfred Kramberger, einem Slowenen aus Zagreb, beim Außentor ankomme, sehe ich, wie der Wachmann Pomassl den zweiten Stellvertreter des Direktors an der Gurgel packt und schreit: ‚Du Schwein, du bist an all dem schuld.‘ Und in diesem Augenblick …“ – Hirsch benötigte wieder einen Schluck Wasser – „bemerke ich vor dem Tor auf der Straße drei SSler und neben ihnen Baumgartner, der offenbar SS und Volkssturm zu Hilfe gerufen hatte.“

Hirsch brauchte wieder einen Augenblick. Er sah scheinbar gedankenverloren aus dem Fenster, und Zedlnitzky, den es kaum mehr auf seinem Sessel hielt, griff instinktiv nach einer weiteren Zigarette. Mit fahrigen Bewegungen zündete er sie an und blies den Rauch hektisch aus.

„Sofort habe ich die Gefahr erkannt. Ich ziehe Alfred zurück Richtung Hof. Er versteht nicht gleich, doch ich überzeuge ihn davon, dass wir nur eine Chance haben, wenn wir zurück in die Haftanstalt flüchten. Kaum erreichen wir die Hofmitte, als hinter uns Maschinengewehre aufbelfern. Von irgendwoher ertönt der Ruf ‚Zurück, Bande!‘, und wir laufen in wilder Panik Richtung Zellentrakt.“

Zedlnitzky entging nicht, wie heftig Hirsch atmete, und er schämte sich, dem Mann all das anzutun. Aber er konnte jetzt nicht mehr zurück.

„Gerade als wir den Gang erreichen, detoniert knapp unter dem Erdgeschossfenster eine Handgranate und wir werden von Mörtel und zersplittertem Glas überschüttet. Ein Junge, der erst kurz zuvor eingeliefert worden ist, hatte nicht so viel Glück. Er krümmt sich hinter uns in der Tür. Wir schleifen ihn ins Innere des Gebäudes. Er hat eine Kugel abbekommen und blutet entsetzlich. Und wie ich noch verzweifelt nach etwas suche, mit dem wir ihm das Bein abbinden können, brechen seine Augen und er sackt in sich zusammen.“

Zedlnitzky wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sich nach langen Jahren bei der Polizei für abgebrüht gehalten, doch jetzt, so gestand er sich ein, war ihm schlecht.

„Mir wurde klar, dass wir nur in den hinteren Zellen eine Überlebenschance hatten, also renne ich, den Kramberger hinter mir herziehend, in den hintersten Flügel. Aus einem Gangfenster sehe ich, wie die SS auf alles schießt, was sich bewegt. Kramberger und ich werfen uns in einer Zelle auf den Boden und legen uns flach hin. Wir zittern vor Angst und sind nicht fähig, auch nur ein Wort zu sprechen.“

Das schien für Hirsch auch in diesem Moment zu gelten, denn seine Stimme war immer brüchiger geworden. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und atmete tief durch.

„Ich weiß nicht, wie lange das Schießen gedauert hat, aber irgendwann war endlich Ruhe. Direkt unter uns knirschen Stiefel. Ganz vorsichtig schleiche ich mich zum Fenster und versuche, ungesehen hindurchzuspähen. Ich sehe Kodré und seinen zweiten Stellvertreter an der Wand stehen. Jemand brüllt etwas. Dann donnert eine Salve los. Kodré und sein Stellvertreter werden gegen die Wand geschleudert und sinken dann langsam zu Boden. An der Wand zeichnet sich eine rote Blutspur ab.“

Zedlnitzky verschluckte sich fast. „Was? Die haben einfach den Gefängnisdirektor abgeknallt?“

Hirsch nickte nur. „Den und 600 andere auch.“

Der Gruppeninspektor blies Luft aus. Ihm war buchstäblich flau im Magen.

„Wollen S’ jetzt auch ein Glaserl Wasser?“

Zedlnitzky nahm dankbar an. Für eine kleine Weile saßen die beiden einander schweigend gegenüber, jeder seinen Gedanken nachhängend. Erst nach einiger Zeit gelang es Zedlnitzky, sich wieder des eigentlichen Grundes seines Hierseins zu erinnern.

„Sagen Sie, Herr Doktor, ist Ihnen in diesem Zusammenhang der Name Birgler untergekommen?“

Hirsch verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Der war der Schlimmste von allen. Ein richtiger Sadist. Der Baumgartner hat den nach dem Massaker sogar noch belobigt, weil er mehr Leute erschossen hat als alle anderen.“

„Wissen Sie zufällig, was aus dem geworden ist?“

Hirsch schien nachzudenken. „Was ich weiß, haben den die Amis geschnappt. Er ist nicht in Wien vor Gericht gestanden, sondern in Salzburg. Auch wegen anderer Delikte, soweit ich mich erinnere. Jedenfalls hat man ihn dort zum Tod verurteilt. Aber ich glaube, dem ist dann im letzten Augenblick die Flucht gelungen. Jedenfalls hat es geheißen, er habe sich nach Südamerika absetzen können, wo er einem der dortigen Diktatoren seine Dienste angeboten hat. So gesehen könnte aus dem Schlächter von Stein mittlerweile der Schlächter von Paraguay geworden sein.“

„Das heißt, Sie glauben nicht, dass der Birgler noch in Österreich lebt?“ Der Anwalt zeigte sich skeptisch. „Also das täte mich sehr wundern! Wie hätte er das denn anstellen sollen? Ich meine, nach dem wird ja offiziell sicher immer noch gefahndet, denn immerhin gibt es ein rechtskräftiges Urteil, das der Vollstreckung harrt.“

Richtig, sagte sich Zedlnitzky, wie hätte Birgler das anstellen sollen?

Und doch schien es, als ringe Hirsch mit sich, ob er noch etwas hinzufügen solle. Zedlnitzky bemühte sich um eine aufmunternde Miene, und tatsächlich gab sich der Anwalt nach einem kleinen Moment einen Ruck: „Um ehrlich zu sein, der Birgler verfolgt mich. Mein ganzes Leben lang seit jenen Ereignissen. Ehrlich, in den unmöglichsten Momenten habe ich ganz plötzlich das Gefühl, ihn ganz deutlich und leibhaftig vor mir zu sehen.“

Zedlnitzky konnte sich das durchaus vorstellen. Wenn man so etwas Traumatisches durchgemacht hatte, dann konnte das nicht ohne Folgen für das weitere Leben bleiben. Er, Zedlnitzky, hätte zwar weit eher damit gerechnet, dass man in einer solchen Lage Albträume haben würde, doch warum sollte man nicht auch im wachen Leben Sinnestäuschungen unterliegen?

„Ja“, fuhr Hirsch fort, „ich weiß es noch ganz genau. Als ich an der Wiener Uni mein Studium fortsetzte, da war mir, als hätte ich ihn plötzlich mitten unter den Kommilitonen erblickt. Was natürlich ganz unmöglich war. Aber so ist es mir halt erschienen. Und Jahre später habe ich mir eingebildet, ihn vor Gericht zu sehen. Aber nicht als Angeklagten, falls Sie das meinen, nein, im Rahmen eines Prozesses, bei dem ich als Rechtsanwalt dabei war. Damals wollte ich dieses Phantom sogar darauf ansprechen, aber ehe der Prozess vertagt wurde, war es auch schon wieder verschwunden. Und so ging es mir all die Jahre. Dieser Birgler sitzt in mir wie ein Stachel im Fleisch.“

Zedlnitzky sah sein Gegenüber voller Mitgefühl an. „Wir Nachgeborenen“, meinte er schließlich, „haben leider gar keine Ahnung, wie das damals alles gewesen ist, wie man sich gefühlt haben muss und vor allem, wie man mit solchen Erlebnissen umgeht. Ich kann nur hoffen, dass in Ihrem Fall trotz allem die schönen Momente im Leben überwogen haben.“

Die letzten Worte hatte er nur noch krächzend hervorgebracht, da seine Kehle mit jeder Silbe noch trockener geworden war. Ihm war nicht nur schlecht, er fühlte sich auch so.

Anton Hirsch aber lächelte mitfühlend. „Danke, das haben Sie schön gesagt. Und ja, unter den gegebenen Umständen hat es das Leben mit mir schließlich doch noch gut gemeint. Ich habe eine wundervolle Frau, einen wunderbaren Sohn, und mein Berufsleben verlief unterm Strich doch recht erfolgreich. So gesehen hege ich keinen Groll mehr.“

Zedlnitzky fühlte sich regelrecht erleichtert. Er dankte dem Anwalt wortreich und versicherte ihm, welch große Hilfe er gewesen sei. Hirsch meinte, es sei nicht der Rede wert gewesen. Zudem hoffe er, der Inspektor werde bei seinen Ermittlungen erfolgreich sein. Zedlnitzky wünschte Hirsch alles Gute und sah dann zu, dass er wieder auf die Straße kam.

In seinem Auto sitzend, rekapitulierte er das eben Gehörte. Hirsch hatte also wie Dinotti besagtes Massaker überlebt. Und er ging davon aus, dass Birgler dabei eine besonders unheilvolle Rolle gespielt hatte. Zedlnitzky blickte auf das Aktenkonvolut, das auf dem Beifahrersitz lag. Dieses würde er sich nun zu Gemüte führen müssen, denn dadurch würde das Bild wohl noch klarer werden.

Kaum wieder im Büro angekommen, packte er seinen Stapel aus und breitete die einzelnen Schriftstücke auf seinem Schreibtisch aus. Als Erstes nahm er das Urteil des Volksgerichtshofs näher in Augenschein. Dieses hatte mit fünf Todesurteilen geendet, wobei Zedlnitzky die Namen Baumgartner und Pomassl, die ganz oben auf der Liste der Angeklagten standen, schon bekannt waren. Erwähnenswert schien ihm aber auch die Rolle des Volkssturmführers Pilz, der gleich den anderen beiden zum Tod verurteilt und am 28. Februar 1947 auch tatsächlich hingerichtet worden war. Logischerweise konzentrierte sich Zedlnitzky in der Folge auf die Vernehmungen und die Aussagen dieser drei Personen.

Gemeinsam war ihnen, dass sie sich auf Befehlsnotstand auszureden versuchten. Selbst Baumgartner, der ja der ranghöchste Vertreter der Gruppe gewesen war, berief sich auf eine Order, die er vom Gauleiter persönlich erhalten haben wollte. Pilz wiederum erklärte, er sei durch das besonders rücksichtslose Verhalten seines unmittelbaren Stellvertreters förmlich genötigt worden, sich an dem Morden zu beteiligen, widrigenfalls er selbst von diesem erschossen worden wäre.

Und da war er wieder, dieser unheilvolle Name. Willi Birgler!

Der habe alle in eine Art kollektive Sinnestrübung getrieben und buchstäblich in eine Form von Mordlust hineingesteigert, durch die auch sie, Pilz und seine Kameraden, zum Mitmachen gezwungen worden seien, wollten sie nicht gleich Anstaltsleiter Kodré als Leichen an der Wand enden. Pomassl wiederum stritt ab, den stellvertretenden Direktor gewürgt und ein Schwein genannt zu haben. Diese Tat sei vielmehr von Birgler gesetzt worden, der dann auch persönlich die Exekution von Kodré vorgenommen habe.

Und Baumgartner rechtfertigte sich damit, auf das Geschehen keinen Einfluss mehr gehabt zu haben, da Birgler sich eine MP geschnappt und auf alles geschossen habe, was sich irgendwie bewegte. Auf diese Weise habe Birgler schon mehrere Dutzend Häftlinge ermordet gehabt, als er die Waffe gegen Baumgartner richtete und diesen aufforderte, mitzumachen oder aber selbst zum Opfer zu werden.

Tatsächlich stellten die Anwälte der Hauptangeklagten im Prozessverlauf den Antrag, Birgler herbeizuschaffen, doch entweder war damals nicht bekannt, dass Birgler in Salzburg einsaß, oder aber das Gericht sah es nicht als erforderlich an, diesen dem Verfahren beizuziehen. Gemeinsam mit zwei weiteren Angeklagten erhielten die drei Rädelsführer die Höchststrafe, der sie in der Folge dann auch nicht entgingen. Ob die drei Birgler kollektiv belastet hatten, weil dieser nicht greifbar war und ihnen so die Gelegenheit bot, die eigene Schuld geringer erscheinen zu lassen, oder ob Birgler wirklich wie ein Berserker gewütet hatte, darüber konnte er nur Vermutungen anstellen. Aber er begann zu begreifen, warum Hirsch und offenbar auch Dinotti ein besonderes Interesse an diesem Ungeheuer hatten.

Zedlnitzky trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. War es wirklich Birgler gewesen, der Dinotti dermaßen aufgescheucht hatte, dess dieser sich in seiner Dachkammer verbarrikadiert hatte? Und wenn ja, war Birgler Dinottis Mörder? Zedlnitzky gestand sich ein, dass diese Annahme abenteuerlich klang. Aber bislang hatte er keinen besseren Verdächtigen. So gesehen war jede These spekulativ.

Wieder einmal konsultierte er den Chronometer. Beinahe zwei Uhr nachmittags. Kein Wunder, dass er Hunger verspürte. Und um zwei, das wusste er aus jahrelanger Erfahrung, schloss die Kantine. Eilig schob er den Sessel zurück, schnappte sein Sakko und eilte in den ersten Stock, um wenigstens noch ein Sandwich und eine Nussecke zu ergattern.

Holdselig kehrte er nach 15 Minuten mit beidem zurück. Dazu hatte er noch einen Kaffee erstanden, sodass der Rest des Arbeitstages ohne gröbere Beeinträchtigung durch Hunger oder Durst vergehen konnte.

Nach weiteren zwei Stunden schmerzten ihn seine Augen. Er rieb sich die Nasenwurzel und seufzte. Für’s Erste hatte er, so sagte er sich, genug getan. Alles Weitere musste bis Montag warten. Zedlnitzky sah sich um und erkannte, dass niemand mehr da war, dem er ein schönes Wochenende hätte wünschen können. So nahm er seine Sachen an sich und schickte sich an, sich nach Hause zu begeben.

Plötzlich und unerwartet läutete das Telefon. Neugierig hob er ab und meldete sich.

„In mein Büro. In 15 Minuten“, schnarrte es ihm entgegen.

Zedlnitzky brauchte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass ihn da eben Staatsanwalt Reichenberger einbestellt hatte, und dies auf höchst unorthodoxe Weise. Denn noch ehe er hatte antworten können, hatte Reichenberger schon wieder aufgelegt. Zedlnitzky gönnte sich noch eine Zigarette, dann machte er sich langsam auf den Weg, wobei er darüber nachgrübelte, was der Staatsanwalt wohl von ihm wollte und weshalb sein Ton dabei so forsch gewesen war.

Die Sekretärin ließ ihn entwürdigend lange warten, und in Zedlnitzky stieg nun auch Groll auf. Immerhin war es Freitagnachmittag, das Wochenende stand vor der Tür, und ihm fiel absolut nichts ein, das so dringend gewesen wäre, dass man es partout noch um 4 Uhr nachmittags besprechen musste. Endlich läutete der Apparat auf dem Schreibtisch der Vorzimmerdame. Sie hob ab, ließ ein leises „Ja“ vernehmen und legte wieder auf.

„Der Herr Doktor lässt jetzt bitten“, flötete sie in Zedlnitzkys Richtung.

Dieser erhob sich und öffnete die schwere Doppeltüre, die ihn in Reichenbergers Reich führte. Der wirkte wie üblich schwer beschäftigt. Er sah eine gute Weile gar nicht erst aus seinen Akten auf und tat, als ob er das Eintreten Zedlnitzkys nicht bemerkt hätte. Der Inspektor musste lächeln. Dass die Mächtigen immer den Drang hatten, ihren Untergebenen zu zeigen, dass sie mächtig waren! Doch halt, das stimmte nicht, korrigierte er sich selbst. Die wirklich Mächtigen waren unprätentiös, freundlich und erstaunlich entspannt. Es waren jene, die gerne Macht besäßen, diese aber nur in bemerkenswert geringem Ausmaße hatten, die derlei Demonstrationen benötigten. Und insgesamt gesehen war Reichenberger weit davon entfernt, über nennenswerten Einfluss zu verfügen.

Zedlnitzky wartete also in Ruhe, bis der Staatsanwalt ihn zur Kenntnis zu nehmen geruhte. Geräuschvoll schloss dieser einen Aktendeckel und blickte dann endlich auf.

„Sellnitzky, Sie Tiefflieger! Machen Sie das eigentlich absichtlich?“

Er hatte ihm keinen Platz angeboten.

„Was, bitte schön?“

„Fragen Sie nicht so dumm“, kam es knurrend von der anderen Seite des Schreibtischs. „Wir haben einen ermordeten Dentisten und Sie spielen Hugo Portisch.“

„Wie belieben?“

Reichenberger lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Ich hab’ Sie am Vormittag gesucht, und da hieß es, Sie seien in irgendeinem Archiv über den Zweiten Weltkrieg. Mir sitzt der Minister im Genick, wann man mit einer Anklage rechnen kann, und ich muss mir von Ihren Kollegen sagen lassen, Sie beschäftigen sich mit irgendeinem längst vergangenen Käse, den kein Mensch mehr hören kann.“

„Mit Verlaub, Herr Doktor, aber ich vermute das Motiv für die Ermordung Dinottis in genau jener Vergangenheit.“

„Ach Papperlapapp. So ein Blödsinn! Wie kommen Sie denn auf so einen Schwachsinn? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass sich jemand über 40 Jahre Zeit für eine Abrechnung lässt. So ein Mordmotiv, das ist immer viel konkreter. Geld, Eifersucht, Neid, Ehre, na, Sie wissen schon, was ich meine. Das werden Sie auf der Polizeischule gelernt haben, was Motive sind. Da brauchen wir nicht diesen unappetitlichen Nazikram wieder auszugraben. Schlimm genug, dass das in der gegenwärtigen Wahlauseinandersetzung aufgekommen ist. Aber manche Journalisten lernen es eben nie. Denen ist alles recht für eine billige Schlagzeile.“

Schön langsam wurde es Zedlnitzky zu bunt. Er zog ungefragt einen Sessel erst zu sich, dann zu Reichenbergers Schreibtisch und setzte sich.

„Schauen Sie, Herr Doktor! Ich habe das aktuelle Umfeld des Dinotti ziemlich gut durchleuchtet. Da gibt es niemanden, der auch nur das allergeringste Motiv haben könnte. Dinotti hatte weder Schulden, noch kannte er Leute, die ihm etwas schuldeten. Er war als Dentist praktisch schon in Pension, verkehrte kaum in der Öffentlichkeit und lebte insgesamt sehr zurückgezogen. In dieser Hinsicht ist bei ihm nichts zu holen.“

Reichenberger trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Tischplatte.

„Dafür ist mir beim genaueren Augenschein seines Hauses ein Dokument aufgefallen, das Dinotti offenbar kurz vor seinem Tod noch einmal eingehend studiert haben dürfte. In dem Dokument geht es um einen SS-Mann namens Willi Birgler, der seinerzeit federführend am Massaker in Stein beteiligt war. Und …“

Dem Staatsanwalt schien nun endgültig der Kragen zu platzen: „Haben Sie die Nazizeit erlebt, Sellnitzky? Haben Sie das? Ich glaube kaum! Also! Erzählen Sie mir nix von solchen alten Kamellen. Ich war dabei … Ich meine, ich habe sie erlebt, die Nazizeit. Ich bin ein Zeitzeuge. Und ich sage Ihnen, wenn es damals irgendwelche offenen Rechnungen gegeben hat, dann sind die gleich damals beglichen worden, als noch Wildwuchs herrschte. Für uns heute ist das völlig ohne Bedeutung, und wenn der Herr Bundeskanzler und sein Schmierblattl das hundertmal glauben.“

„Aber …“

„Nix aber. Jetzt red’ ich, und Sie hören zu. Sie haben selber g’sagt, Sie hätten sein Umfeld ziemlich gut durchleuchtet. Ziemlich gut ist offenbar nicht gut genug! Vergessen S’, was da damals war, das spielt überhaupt keine Rolle. Wir sind ja nicht in einem grauslichen Hollywood-Schinken. Nein, nein, der Dinotti wird irgendjemandem auf die Zehen gestiegen sein, und der hat ihm dafür die Schleifen gegeben. Da brauchen wir keine Schatten aus der Vergangenheit. Schon allein der Gedanke an so etwas ist derart hanebüchen, dass ich mich ernsthaft fragen muss, ob Sie für diese Art Arbeit nicht zu wenig qualifiziert sind.“

Zedlnitzky atmete tief durch. Dann nahm er einen neuen Anlauf. „Haben Sie schon einmal von Simon Wiesenthal gehört?“

„Der Mercedeshändler“, versuchte Reichenberger einen reichlich matten Scherz.

„Der hat den Eichmann aufgespürt. In Argentinien. Oder die Klarsfeld, die hat den Barbie in Bolivien gefunden. Sie wissen schon, der sogenannte ‚Schlächter von Lyon‘, dem jetzt demnächst der Prozess in Frankreich gemacht werden wird. Es gibt noch unzählige ehemalige Naziverbrecher, die sich irgendwo in der Welt verstecken. Was, wenn der Dinotti den Birgler ausfindig gemacht hat?“

Reichenberger schnaubte ärgerlich. „Birgler, Birgler! Wer soll das überhaupt sein? Und was ist das mit diesem angeblichen Massaker, von dem Sie da reden?“

Zedlnitzky unterdrückte ein Grinsen. Es war ihm tatsächlich gelungen, den Staatsanwalt in die Defensive zu bringen. Jetzt musste er nur noch in aller Ruhe seine Argumente ins Treffen führen, und Reichenberger würde nichts anderes übrig bleiben, als ihn gewähren zu lassen.

„Das angebliche Massaker ereignete sich tatsächlich am 6. April 1945 in der Strafanstalt Stein an der Donau. Damals wollte der Gefängnisdirektor Kodré die Gefangenen freilassen, weil es keine Lebensmittel mehr gab und sich die Front rasch näherte. Dagegen hat die SS quasi geputscht und gemeinsam mit ein paar verhetzten Volkssturmmännern nicht nur Hunderte Häftlinge erschossen, sondern auch den Kodré, dem sie Feindbegünstigung vorgeworfen hat.“

„Aha“, schnaubte der Staatsanwalt, „und was hat das alles mit dem Dinotti zu tun?“

„Der Herr Dinotti“, entgegnete Zedlnitzky mit genüsslicher Langsamkeit, „war damals einer der Häftlinge, die dieses Massaker überlebt haben. Während besagter Birgler einer jener SSler war, die an jenem Tag besonders gewütet haben. Der Birgler soll schon davor viele Menschen ermordet und eine wahre Blutspur durch Niederösterreich gezogen haben. Er wurde 1946 in Salzburg rechtskräftig zum Tod durch den Strang verurteilt, konnte sich aber der Vollstreckung des Urteils durch Flucht aus seinem Gefängnis entziehen.“

Erstmals schien der Staatsanwalt ins Grübeln zu kommen. „Sie meinen also, der Dinotti hat irgendwo seinen ehemaligen Peiniger wieder getroffen?“

Zedlnitzky nickte. Und erschrak gleich darauf, als Reichenberger die Faust auf den Tisch knallen ließ.

„Schon wieder so ein Blödsinn! Sie haben ja selbst gesagt, dass diese ehemaligen Nazis nach dem Krieg nach Südamerika geflüchtet sind. Nach Argentinien und Bolivien und sonst wohin. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ein zum Tod verurteilter Kriegsverbrecher seelenruhig in dem Land bleibt, in dem ihm der Strang oder mittlerweile zumindest lebenslänglich droht. Das wär’ doch absurd.“

„Das vielleicht schon. Aber wer weiß, vielleicht war der Birgler ja auch 40 Jahre im Ausland. Und jetzt ist es ihm vielleicht dort zu heiß geworden. Ich habe das gerade ein wenig im, Fischer Weltalmanach‘ nachgelesen. Diese ganzen südamerikanischen Staaten, wohin die Nazis damals geflohen sind, die waren allesamt Militärdiktaturen. Jetzt aber kehrt ein Land nach dem anderen zur Demokratie zurück. Den Barbie zum Beispiel, den haben die Franzosen auch nur gekriegt, weil ihm die neue bolivianische Regierung ihren Schutz entzogen hat.

Möglicherweise saß der Birgler auch dort irgendwo und hat sich gedacht, jetzt wird’s da eng. Oder“, und an dieser Stelle hob Zedlnitzky den Zeigefinger, „aber er ist schwer krank. Ich meine, der Mann ist jetzt 64 oder so. Da kann man Krebs kriegen oder sonst etwas Schwerwiegendes. Und da ist er vielleicht auf seine alten Tage sentimental geworden und wollt’ in seiner Heimat sterben. Nur, dass das mit dem Sterben nicht so schnell gegangen ist. Und plötzlich erkennt ihn der Dinotti von damals wieder. Und der Birgler will zwar in Österreich sterben, nicht aber in gesiebter Luft. Also versucht er, sich mit Dinotti zu arrangieren, versucht vielleicht, ihn zu bestechen. Und als das nicht funktioniert, erschlägt er ihn.“

Reichenberger schüttelte missbilligend den Kopf. „Das ist doch alles Larifari. Selbst wenn Ihre Grundannahme stimmen sollte und der Birgler wieder in Österreich ist, und selbst wenn der Dinotti ihn irgendwo erkannt hat und auffliegen lassen wollte, dann hätte der Dinotti den Birgler doch nie in seine Ordination gebeten. Der hätt’ sich doch vor diesem Nazi gefürchtet wie der Teufel vor dem Weihwasser.“

Zedlnitzky musste sich eingestehen, dass der Staatsanwalt einen schwachen Punkt in seiner Argumentation gefunden hatte. Darüber würde er noch genauer nachdenken müssen, sagte er sich. Hierüber galt es noch eine plausible Theorie zu entwickeln, wie es kommen konnte, dass Dinotti seinen späteren Mörder, wenn es denn Birgler war, überhaupt so nahe an sich heranließ. Denn dass Dinotti bestechlich gewesen wäre, hielt er für völlig abwegig. Doch warum hatte er Birgler dann nicht sofort angezeigt? War er sich nicht sicher gewesen? Doch selbst dann hätte er den Mann wohl kaum zu sich gebeten, er hätte vielmehr nach einer Möglichkeit gesucht, sich an ihn heranzuschleichen, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können, aber keinesfalls hätte er zugelassen, dass Birgler ihn erwischen konnte.

Zedlnitzky blickte sehnsuchtsvoll auf den schweren Glasaschenbecher, der auf Reichenbergers Schreibtisch stand. Gerne hätte er sich jetzt eine Zigarette angezündet, um während des Rauchens seine Gedanken zu ordnen. Doch danach zu fragen hätte Reichenberger wohl als weitere Provokation gewertet.

„Haben S’ gehört, was ich g’sagt hab’?“

Der scharfe Ton des Staatsanwalts riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Anstatt sich zu entschuldigen, sah Zedlnitzky Reichenberger nur fragend an. Der richtete seine Augen theatralisch gegen die Decke und machte dabei eine gottergebene Geste, die wohl bedeuten solle, er sei mit lauter Idioten gestraft.

„Die Birgler-Spur dürfen S’ in der Hinterhand behalten. Aber die ist nicht, ich wiederhole, nicht prioritär. Sie schau’n sich jetzt noch einmal alle seine Patienten an. Und wenn das hundertmal lauter Pensionisten sind. Vielleicht hat der Dinotti da ja etwas verpfuscht, und darum wollte sich wer rächen.“

Verpfuscht? Was konnte ein Zahnklempner verpfuschen? Glaubte der Staatsanwalt ernsthaft, ein ehemaliger Patient brachte seinen Dentisten um, weil dieser ihm die Zahnschmerzen nicht gelindert oder, notabene, den falschen Zahn gezogen hatte? Das konnte unmöglich Reichenbergers Ernst sein.

„Sie glauben ernsthaft …“

„Ich glaube gar nix! Aber es soll schon vorgekommen sein, dass ein Dentist irgendetwas falsch gemacht hat. Und wer weiß, vielleicht ist einer seiner Patienten daran gestorben. Und ein Hinterbliebener machte den Dentisten für dessen Tod verantwortlich.“

Der Staatsanwalt schien von seiner eigenen These begeistert, denn er fuhr in immer schnellerem Ton fort. „Und weil unser Täter weiß, dass er vor Gericht für seine Sache nicht Recht bekommen würde, greift er zur Selbstjustiz.“ Reichenberger zuckte mit den Schultern. „Alles schon einmal vorgekommen.“

Zedlnitzky musste sich beherrschen, um nicht vernehmlich Missfallen zum Ausdruck zu bringen.

Reichenberger blickte derweilen demonstrativ auf seine Uhr.

„Na gut“, resümierte er, „für heute kann man das eh vergessen. Und die Wochenendruhe ist Ihnen sicherlich auch heilig. Aber am Montag fangen Sie gleich in der Früh damit an, alle Patientenakten der letzten zwei Jahre durchzuackern. Und mit alle meine ich auch alle. Haben wir uns verstanden?“

Zedlnitzky nickte matt.

„Gut! Am Dienstag erstatten Sie mir dann wieder Bericht. 14 Uhr bei mir. Und dann will ich Ergebnisse sehen, weil nächste Woche müssen wir einen Täter präsentieren, sonst reißt uns nicht nur der Herr Minister den Allerwertesten auf, das macht dann auch die Presse. Und zwar genüsslich.“

„Vielleicht könnten wir aber genau der Presse einen Zund wegen dem Birgler geben“, startete Zedlnitzky einen letzten Versuch, „die fahren derzeit doch eh auf alles ab, was mit der Nazizeit zu tun hat. Vielleicht konzentrieren die sich dann auf das und lassen uns in Ruh’.“

„Sag, sind Sie so blöd oder tun Sie nur so? Ich hab’ ihnen doch gerade klipp und klar gesagt, diese Nazisache hat keine Priorität! Auf die greifen wir höchstens dann zurück, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht, verstanden? Und jetzt will ich darüber kein Wort mehr hören!“

Zedlnitzky blieb nichts mehr zu sagen übrig. Er wartete, dass Reichenberger ihn entließ, doch der vertiefte sich demonstrativ in seine Akten und schenkte seinem Gegenüber keine Beachtung mehr.

„Ich darf mich empfehlen?“, fragte Zedlnitzky schließlich nach einer Weile.

Der Staatsanwalt reagierte ohne aufzusehen mit einer wegscheuchenden Handbewegung.

„Schönes Wochenende dann“, sagte Zedlnitzky am Weg zur Tür. Er bekam keine Antwort. Trottel, dachte er, während er zusah, wieder in sein Büro zu kommen.

Von dort rief er seine Frau an, um ihr mitzuteilen, dass er sich nun auf den Heimweg mache. Die Idee, sich das Rapid-Spiel live im Stadion anzuschauen, hatte er in Wirklichkeit nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Der Tag war hart und lang gewesen, und so sehnte er sich nach nichts mehr, als entspannt auf der Couch dem Wochenende entgegenzudämmern. Mochten ihn andere für faul halten, aber ein Sportler würde nicht mehr aus ihm, das stand nun einmal fest.

Das Nachtmahl bestand aus Fischstäbchen mit Kartoffelpüree, und er konnte nicht behaupten, dass dies seine Laune gebessert hätte.

„Mit dem Kinderzeugs kannst mich jaucken“, zischte er seiner Frau in einem unbemerkten Moment zu, „das werd’ ich in 30 Jahren noch nicht mögen.“

Doch er musste einsehen, dass die Kinder das „Zeugs“ liebten und er als Vater eben zurückstecken musste. So zog er sich mit einem Bier vor den Fernseher zurück und drohte der Nachkommenschaft mit einer Streichung des sonntägigen Praterbesuchs, wenn ihre Lautstärke jene des Fernsehers übertönen sollte.

Erfreulicherweise war Jackie bald schon müde, und so schlief sie schon, noch ehe der Hauptabendfilm begann. Freitag war Krimitag, und Zedlnitzky freute sich stets auf den imaginären Vergleichskampf mit den Fernsehkollegen. Und doch war er jedes Mal aufs Neue enttäuscht, wie hanebüchen die jeweiligen Stories waren. All die Fälle, die in den diversen Serien gebracht wurden, zeichneten sich dadurch aus, mit der Realität nicht das Geringste zu tun zu haben. Glaubte man den Machern von „Derrick“, dann passierten Morde nur im gehobenen Milieu, denn jeder Täter hatte eine Wohnung, von der er, Zedlnitzky, nur träumen konnte. Wenn es sich nicht gleich um ein Einfamilienhaus oder gar eine Villa handelte.

Doch „Derrick“ stand am Freitag ohnehin nicht am Programm. Da wurde „Der Alte“ gegeben. Zedlnitzky trauerte Siegfried Lowitz nach, der nach 100 Folgen offenbar genug von seiner Figur als Kriminalhauptkommissar Köster gehabt hatte. Erst Anfang des Jahres war es gewesen, da er sich bei seinem letzten Fall einen Bauchschuss eingefangen hatte. An den neuen „Alten“, einen Mann namens Schimpf, musste sich Zedlnitzky erst noch gewöhnen. Und er konnte sich auch nicht erklären, was der Neger in der Serie sollte, und wenn er hundertmal „Huber“ mit Nachnamen hieß. Nicht, dass er etwas gegen Ausländer hatte, beileibe nicht, aber nach über zehn Jahren bei der Exekutive wusste er, dass eher eine Frau Bundeskanzlerin würde, als dass man bei der Kriminalpolizei einen Mohren zum Kommissar machte.

Die aktuelle Folge trug den Titel „Der Trugschluss“, und Zedlnitzky fand ihn ziemlich passend. Es war ein Trugschluss gewesen, sich von dieser dünnen Geschichte einen entspannenden Abend zu erwarten. Und obwohl es erst kurz nach 9 Uhr war, drehte er den Fernseher ab und begab sich ins Schlafzimmer, wo er sich mit der Lektüre von „Jerry Cotton“ darauf vorbereitete, alsbald sanft einzuschlafen.