Zedlnitzky wachte mit einer miesen Laune auf. Schuld daran war der merkwürdige Traum, den er in der Nacht gehabt hatte. Darin war er mordsmäßig geil gewesen, und zu seiner großen Freude hatte seine Frau begonnen, ihm den Schwanz zu wichsen. Seine Erregung steigerte sich mehr und mehr, doch just als er unmittelbar davor war, zog sie ihre Hand zurück und verhinderte so, dass er kam. Er wollte es sodann allein zu Ende bringen und sich einfach selbst einen runterholen, doch irgendwie konnte seine Hand seinen Penis nicht finden. Und so blieb er, wieder einmal, unbefriedigt. Kein Wunder, dass er beim Aufwachen scharf wie Nachbars Lumpi war. Doch das nützte ihm gar nichts, denn Sex am Morgen war für seine Frau seit Geburt der Kinder ein Tabuthema. Fluchend schlurfte er ins Badezimmer. Den Gedanken, unter der Dusche zu onanieren, verwarf er sofort wieder. Er war 30 und nicht mehr 14. Oder noch nicht 50. Erst dann war man vielleicht wieder dermaßen am Sand, dass eine solche Form der Befriedigung akzeptabel erschien. Noch im Bademantel begab er sich in die Küche, um einen Kaffee zu trinken und eine zu rauchen, ehe die Kinder den Raum wieder gehörschädigend beschallten.
Montag! Er hasste Montage. Und ganz besonders hasste er diesen, denn er würde ihm nichts als leere Kilometer bringen, während das nächste Wochenende noch mindestens 40 Arbeitsstunden entfernt war. Außerdem hatte sein Vater am Vortag nicht angerufen, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Offenbar war der alte Herr vom Ausgang der Wahl so geschockt gewesen, dass er sich in sich selbst verkrochen hatte. Dafür würde er allerdings heute in umso besserer Form sein. Und irgendwann alles via Telefon auf dem Sohn abladen. Davor fürchtete sich Zedlnitzky jetzt schon.
Er aß schnell ein Butterbrot, das er sich eilig gemacht hatte, ehe er ins Schlafzimmer zurückkehrte, um sich dort für den Tag anzukleiden. Der jäh ausbrechende Lärm signalisierte ihm, dass die Küche ab sofort Sperrgebiet war. Flüchtig küsste er seine Frau auf die Wange, winkte den Kindern und sah zu, dass er aus der Wohnung kam. Auf dem Weg zur Arbeit hoffte er, dass er wenigstens am Vormittag noch seine Ruhe haben würde.
Reichenberger musste ihn auf dem Kieker haben. Anders war es nicht zu erklären, dass er ausgerechnet in diesem Fall so viel Druck machte. Was erwartete der bloß? Dass er, Zedlnitzky, übers Wochenende an der Sache weitergearbeitet hatte? Warum also musste er nun schon wieder bei ihm antanzen? Verärgert machte er sich auf den Weg in Reichenbergers Büro. Kaum dort angekommen, blickte ihn dieser durch seine dicken Brillen an und kraulte dabei gedankenverloren an seinem Vollbart.
„Und, Herr Kollege, sind wir zu neuen Erkenntnissen gelangt?“
„Offen gesagt, nein, Herr Staatsanwalt. Wenn die Lösung des Falles nicht in der Vergangenheit zu suchen ist, dann bin ich nach wie vor ratlos.“
„Sie bleiben also bei dieser kruden These, ja?“ Reichenbergers Miene verdüsterte sich. „Ich sage Ihnen nun ein letztes Mal: durchforsten Sie, wenn Sie schon in der Vergangenheit herumstochern wollen, die Vergangenheit von diesem Dinotti. Irgendwann werden Sie auf etwas in den letzten Jahren stoßen, das ein neues Licht auf die Sache werfen wird. In den letzten Jahren, sage ich, nicht 1945. Und damit Ihnen die Sache leichter fällt, werde ich den Kollegen Schuchter ersuchen, Ihnen eine entsprechende Weisung zu erteilen, damit wir da jetzt endlich Fortschritte in dieser Causa machen. Der Mann ist seit einer Woche tot, und wir haben immer noch rein gar nichts in der Hand. So kann das nicht weitergehen. Entweder Sie haben Ende der Woche greifbare Ergebnisse, oder ich werde veranlassen, dass Sie von dem Fall abgezogen werden. Haben wir uns verstanden?“
Zedlnitzky blieb nichts anderes übrig als zu nicken.
„Gut. Dann wünsche ich frohe Verrichtung.“
Reichenberger nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Zedlnitzky beachtete er nicht mehr. Der murmelte schließlich einen Gruß und zog sich zurück.
Als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte, war er noch missmutiger als bei seinem Eintreffen im Sicherheitsbüro eine halbe Stunde zuvor. Natürlich entging Pospischil die üble Laune seines Kollegen nicht.
„Warst beim Reichenberger?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon wusste.
„Ja“, knurrte Zedlnitzky, „der hat mir schon wieder einen Anschiss verpasst. Den zweiten innerhalb von zwei Arbeitstagen.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und verzog dabei das Gesicht. Pospischil hingegen bemühte sich um eine optimistische Haltung.
„Mach dir nichts draus“, sagte er, „in einer Woche sind wir den alten Grantscherm los.“
Zedlnitzky sah auf. „Wieso? Wird er versetzt?“
„Ja“, nickte Pospischil, „und zwar in den Ruhestand. Sag bloß, das hast du vergessen?“
Zedlnitzky schalt sich innerlich einen Deppen. Das kam davon, dass er sich nie darum kümmerte, was rund um ihn im Büro so vor sich ging! Aber tatsächlich, Reichenberger musste 64 oder 65 sein, denn schon seit Jahren hieß es, er sei längst pensionsreif.
„Weißt“, meldete sich Pospischil noch einmal zu Wort, „vielleicht macht er auch deswegen in dieser Sache so einen Druck. Er will halt seinem Nachfolger einen leeren Schreibtisch hinterlassen.“
Nun ja, das war an sich nicht unverständlich. Jeder Beamte träumte davon, dass alle Fälle gelöst und aufgeklärt waren, wenn man das Büro räumte. Doch gerade bei Reichenberger war das absurd.
„Und was macht er, wenn am Tag vor seiner Pensionierung noch ein Mord passiert?“, platzte es aus Zedlnitzky heraus. „Sucht er dann um ein Ehrenjahr an, oder wie?“
Pospischil verharrte in Schweigen.
Zedlnitzky aber setzte nach. „Oder müssen wir eine Pressemitteilung herausgeben: An alle“, dabei machte er eine ausladende Geste mit beiden Armen, „potenziellen Verbrecher im Raum Wien: Bitte in den nächsten Tage keine Straftaten begehen, der Herr Staatsanwalt möchte seinem Nachfolger einen blütenweißen Schreibtisch ohne ungelösten Fall übergeben! So in der Art?“
Pospischil grinste: „Zuzutrauen wär’s ihm. Also sag das nicht zu laut, sonst bringst ihn noch auf Ideen.“
Während sein Kollege immer noch gluckste, wandte sich Zedlnitzky angewidert dem Stapel mit den Patientenakten zu. Er hatte erst zwei davon abgelegt, als die Tür aufging. Oberstleutnant Schuchter zeigte sein Gesicht.
„Kollege“, sagte er mit belegter Stimme, „können Sie einmal kommen?“
Zedlnitzky traute seinen Ohren nicht. Das war aber flott gegangen. Offenbar hatte Reichenberger wirklich seinen Chef angerufen und bei dem Druck gemacht. Die Wunschzettel des Staatsanwalts konnte er ja getrost ignorieren, aber wenn von Schuchter eine Weisung kam, dann waren ihm tatsächlich die Hände gebunden. Theoretisch konnte er zwar versuchen, heimlich weiter in die von ihm präferierte Richtung zu ermitteln, aber wenn ihm Schuchter irgendwie auf die Schliche kam, dann saß er ordentlich in der Tinte. Einer Weisung zuwiderzuhandeln war ein Disziplinarvergehen und konnte unangenehme Konsequenzen haben.
Vor allem hing einem so etwas ewig nach. Im Zweifelsfall würde es immer und immer wieder hervorgekehrt, wenn man etwas gegen ihn in der Hand haben wollte. Auf diese Weise würde er seine ganze Karriere auf der untersten Stufe stecken bleiben.
Zedlnitzky verdrehte also heimlich die Augen und folgte Schuchter in dessen Reich. Der Oberstleutnant bot ihm Platz an.
„Es geht um den Herrn Staatsanwalt Reichenberger“, begann Schuchter.
Zedlnitzky machte eine abwehrende Geste. „Chef, du brauchst nicht weiterzureden, ich kann mir schon denken, was jetzt kommt.“
Schuchter strahlte ihn an. „Wirklich? Na fein. Und? Machst du’s?“
Jetzt war Zedlnitzky verwirrt. Ging es nicht um die Weisung?
„Was machen?“, fragte er ratlos.
Schuchter beugte sich nach vor: „Aber du hast doch gesagt, du weißt Bescheid. Also ja oder nein?“
„Chef, ich glaub’, ich war im falschen Film. Anscheinend weiß ich nicht, worum es geht.“
Sein Vorgesetzter verzog den Mund.
„Na um seinen Abschied nächste Woche! Da müssen wir doch eine kleine Feier organisieren. Immerhin haben wir fast zwei Jahrzehnte zusammengearbeitet, da können wir ihn nicht einfach so ziehen lassen. Und ich habe in den letzten Tagen den Eindruck gewonnen, ihr zwei habt einen besonderen Draht, so oft, wie der nach dir verlangt hat.“
Besonderen Draht! So konnte man das auch nennen, dachte sich Zedlnitzky. Offenbar hatte Schuchter nicht die geringste Ahnung, wie groß die Spannung zwischen dem Staatsanwalt und seinem Untergebenen gerade war.
„Und darum bin ich auf den Gedanken gekommen, du könntest mir ein nettes, kleines Dossier zusammenstellen, damit ich nicht völlig unbedarft wirke vor versammelter Mannschaft.“
Und wieder zeigte Schuchter seiner Vorderzähne.
„Du meinst, ich soll dir eine Rede schreiben?“, fragte Zedlnitzky ungläubig.
„Na, na, na. Doch nicht eine Rede. Das würde ich mir ohnehin nie merken. Nein, einfach so ein paar Stichworte. Du weißt schon, Werdegang, berühmteste Fälle und vielleicht etwas Nettes aus dem Privatleben, was man unverfänglich zum Besten geben kann. Dass er Hobbyangler ist oder gern in Chören singt. So etwas halt. Was ein Lächeln auf die Gesichter der Anwesenden zaubert, ohne dass es für jemanden peinlich ist. Du verstehst schon.“
„Aha. Und bis wann?“
„Die Verabschiedung ist heute in einer Woche um 14 Uhr hier bei mir im Büro. Mir wäre es aber recht, wenn du mir die Unterlagen schon am Freitag geben könntest, damit ich sie übers Wochenende noch ein wenig studieren kann.“
„Und der Fall?“
„Der Zahnarzt?“
„Dentist. Ja, genau.“
„Haben wir da schon Fortschritte gemacht?“
„Na ja, nicht wirklich. Aber ich habe da so eine Theorie …“
„Ojegerl, Paul! Wenn du schon eine Theorie hast …“
„Lass mich erst einmal ausreden, Chef. Ich glaube, die Lösung des Falls liegt in der Vergangenheit. Der Dinotti war in der NS-Zeit ein politischer Gefangener. Und ich denke, er hat einen seiner damaligen Peiniger wiedergetroffen oder zumindest wiedererkannt. Der hat das allerdings spitzgekriegt und dem Dentisten die Schleife gegeben, bevor dieser etwas ausplaudern konnte.“
Schuchter wurde hellhörig.
„Eine Nazig’schicht’? Ui, das klingt unappetitlich. Gerade jetzt. Bist du dir sicher?“ Zedlnitzky machte eine abwägende Handbewegung.
„Ich mein’, was ist schon sicher, nicht? Aber ich würde meinen, diese Spur ist die heißeste.“
Schuchter fühlte sich sichtlich unwohl.
„Also ausgerechnet jetzt, wo diese Sache mit dem … na, dem Dings, du weißt schon, dem …“
„… Kandidaten von der ÖVP?“, half Zedlnitzky seinem Vorgesetzten aus.
„Ja, genau, also wo diese Sache mit dem so am Kochen ist, brauchen wir nicht noch eine Hitler-Reminiszenz. … Hast du schon irgendwem davon erzählt?“
„Nicht wirklich“, antwortete Zedlnitzky ausweichend.
„Gut. Dann leg das vorerst einmal auf Eis. Der Fall hat keine hohe Priorität. Die Medien berichten nicht mehr über ihn, Politiker haben sich auch keine eingemischt, also vergiss das zunächst einmal. Schau, dass du was über den Reichenberger zusammenbekommst, und wenn das erledigt ist, dann schauen wir weiter.“
„Und was, wenn ausgerechnet der Reichenberger in dieser Sache Druck machen sollte?“ Zedlnitzky wollte sich einfach absichern.
Schuchter winkte ab. „Den halt ich schon hin, kümmer’ dich nicht darum. Geh ins Archiv und stell was Schönes zusammen. Er wird’s nächste Woche verstehen.“
Als Zedlnitzky an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, empfand er die jüngste Entwicklung gar nicht einmal als so unangenehm. Es ersparte ihm, weiter in den Zahnbefunden alter Leute herumzustochern. Und so nebenbei zu erfahren, wie sein Widersacher zu dem wurde, was er nun war, konnte ganz interessant sein.
„Ich muss mal ins Archiv. Dringende Anforderung vom Chef“, ließ er Pospischil gegenüber verlauten.
Nach der Mittagspause kam er mit einem verhältnismäßig dünnen Packen Papier in sein Büro zurück. Es gab einige Zeitungsausschnitte über beachtenswerte Fälle, ein paar Belobigungen, Presseaussendungen, die in Reichenbergers Namen abgesetzt worden waren, und die offiziell zugänglichen Teile der Personalakte, darunter ein eigenhändig von Reichenberger verfasster Lebenslauf. Der interessierte Zedlnitzky zugegebenermaßen am meisten.
Die Karriere des Mannes war unauffällig, aber stetig verlaufen. Seit er zum Doktor iuris promoviert worden war, befand er sich im Staatsdienst, und – kein Wunder bei einem Roten – seit 1970 hatte er ein paar nennenswerte Sprossen auf der Karriereleiter erklommen. Zedlnitzkys Blick schweifte auf die Frühzeit des Staatsanwalts.
„Hast du g’wusst, dass unser Herr Staatsanwalt eigentlich ein Böhm ist?“, rief er Pospischil im Nebenzimmer zu.
„Echt?“, kam es nach einer Weile zurück.
„Na ja, wahrscheinlich so ein Sudetendeutscher oder so. Weil er kam erst 1946 nach Österreich.“
Pospischil war aufgestanden und sah Zedlnitzky von der Verbindungstür aus an.
„Was machst du da eigentlich? Sammelst Informationen, damit er dir nicht mehr auf den Wecker geht, oder wie?“
Zedlnitzky lächelte. „Du wirst es nicht glauben. Der Chef hat mich damit beauftragt, Materialien über Reichenberger zusammenzutragen, damit er nächste Woche eine schöne Abschiedsrede halten kann.“
„Und damit hat er ausgerechnet dich betraut?“
„Tja, unser lieber Kollege Schuchter ist wie immer gut informiert.“
Nun grinsten beide. Kopfschüttelnd ging Pospischil wieder in sein Zimmer zurück, während sich Zedlnitzky auf die Suche nach verwertbaren Informationen über Reichenberger machte.
In einer Ausgabe der „Öffentlichen Sicherheit“ wurde er fündig. Dort fand er alles, was Schuchter brauchen würde. Reichenberger war in diesem Interview erstaunlich gesprächig geworden, und so erzählte er, dass er sich am besten bei langen Wanderungen durch den Wienerwald erhole, wo er sich auch für wichtige Fälle sammle. Freimütig erklärte er zudem, er habe es nie zuwege gebracht, sich fest zu binden, was wohl damit zusammenhing, dass er als junger Mann in ein Mädchen aus seiner Heimat verliebt gewesen war, das er aber aus den Augen verloren habe, als er 1946 aus seinem Dorf vertrieben wurde. Innerlich hänge er wohl immer noch an ihr, weshalb in seinem Herzen nur noch Platz für die Gerechtigkeit gewesen sei. Zedlnitzky fand diese Art von pathetischer Schwülstigkeit fast schon wieder rührend.
Nicht minder verlogen wirkte auf ihn die Aussage, er, Reichenberger, dränge sich nicht so gern ins Licht der Öffentlichkeit. Er müsse sein Gesicht nicht täglich in den Zeitungen sehen, räsonierte der Staatsanwalt, immerhin sehe er es täglich im Spiegel.
Zedlnitzky ließ das Blatt sinken. Er hielt inne. Irgendetwas irritierte ihn, doch er vermochte nicht zu sagen, was. Automatisch griff er nach seinen Zigaretten und steckte sich eine an. Bei Prozessen gehe es um Wahrheitsfindung, nicht um persönliche Eitelkeiten. Er verbringe daher so viel Zeit wie nötig in den Gerichtssälen, aber so wenig Zeit wie möglich vor Kameras und Mikrofonen, las er weiter.
Jetzt wusste er, was ihn zuerst verunsichert hatte! Hirsch war ihm wieder eingefallen. Was hatte der Mann gesagt? Er habe den Eindruck gehabt, Birgler immer wieder einmal auf diversen Gerichten gesehen zu haben. Auf den Gerichten trieben sich ja nicht nur Anwälte, Richter und Beklagte herum. Da gab es ja auch noch jede Menge anderer Leute, die dort tätig waren. Journalisten beispielsweise. Aber auch Wachpersonal! Und was war Birgler vor 1945 gewesen? Eben!
Eine Art Euphorie erfasste ihn. Vielleicht war Birgler einfach ungeschoren davongekommen, weil er sich nach seiner Flucht in die Exekutive eingeschlichen hatte. Gleich darauf schwand seine jäh erwachte Begeisterung jedoch wieder. Bei der Justizwache mochten Hunderte Leute beschäftigt sein. Und etliche davon in vorgerücktem Alter. Wie sollte er da ausgerechnet einen ausmachen, der möglicherweise etwas zu verbergen hatte?
Aber klar! Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Hirsch! Das war doch die Lösung. Er musste sich einfach nur beschreiben lassen, wie Birgler seiner Meinung nach aussah. Am besten, man ließ ihn eine Phantomzeichnung anfertigen, dann konnte man damit die Landesgerichte abklappern und darauf hoffen, dass jemandem dazu etwas einfiel.
Zedlnitzky kramte in seinen Taschen. Wo hatte er nur die Telefonnummer von Hirsch aufgehoben? Seine Suche begann hektisch zu werden. Er verstreute den Inhalt seiner Taschen wahllos auf dem Schreibtisch. Kugelschreiber, Feuerzeuge, Bazooka-Kaugummis und Taschentücher verteilten sich unorthodox auf der Holzplatte. Er klopfte sich ab, wie es die Gangster machen, wenn sie jemanden filzen, doch er war buchstäblich sauber. Nirgendwo auch nur der geringste Fetzen Papier. Als er sich schon mit dem Gedanken abgefunden hatte, noch einmal im DÖW anrufen zu müssen, kam ihm plötzlich eine Idee. Er zog seine Brieftasche hervor und hielt im Geldscheinfach Nachschau. Tatsächlich. Da war er. Unversehrt und auskunftswillig. Zedlnitzky setzte sich wieder nieder und wählte die notierte Nummer.
Eine Frau meldete sich am anderen Ende der Leitung. Ihr Gatte sei leider nicht da, erklärte sie. Er sei am Samstag mit seinem Sohn nach Kärnten gefahren und werde erst morgen Abend wieder zurückkehren. Ja, sie denke schon, dass ihr Mann am Mittwoch in der Früh zu sprechen sein werde. Und ja, sie werde es ihm ausrichten.
„Der Toni wird sicher für Sie Zeit haben, keine Frage. Der freut sich immer über Besuch und etwas Abwechslung. Seien Sie doch einfach am Mittwoch um 9 Uhr da, dann können Sie meinen Mann fragen, was immer Sie wollen.“
Zedlnitzky dankte der Frau und bestätigte noch einmal, dass er am übernächsten Morgen ihren Mann aufsuchen werde.
Danach schnaufte er durch. Er hatte keine Lust mehr, sich durch Papier zu wühlen. Es war ohnehin beinahe 16 Uhr, also hielt ihn nichts mehr länger im Büro. Er sah zu, dass er aus dem Haus kam, noch ehe jemand auf die Idee kommen konnte, ihn noch mit irgendetwas zu behelligen. Doch erst, als er im Auto saß und den Zündschlüssel drehte, erlaubte er sich aufzuatmen.
Der Verkehr war erträglich, sodass er noch vor fünf Uhr nachmittags zu Hause eintraf. Zu seiner Überraschung saß Peter wirklich an seinen Hausaufgaben, während Jackie mit ihrer Barbie spielte. Frau Zedlnitzky war mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt.
„Was gibt’s denn?“, fragte er hoffnungsfroh.
Die Antwort „Scheiterhaufen“ verlangte nach einem Bier. Er hatte nie verstanden, was an einer Mixtur aus alten Semmeln, geriebenen Äpfeln und Rosinen so toll sein sollte, doch die Kinder liebten Derartiges natürlich, weil es süß war. Und seine Frau liebte die Kinder, weil sie süß waren. Also blieb ihm nur, zu essen, was auf den Tisch kam. Er ließ sich seufzend auf die Couch fallen, wobei er Mühe hatte, das Bier nicht zu verschütten, und studierte das Fernsehprogramm. Eine vergebliche Liebesmüh. Es war Montag, also die obligate Sportsendung mit Robert Seeger.
Na ja, er hatte ja immer noch „Jerry Cotton“. Warum war es für die Romanhelden immer so leicht, ihre Fälle zu lösen? Stellte er sich in seiner Wirklichkeit ganz einfach zu blöd an, oder woran lag es, dass die Krimineser zwischen den Buchdeckeln selbst den abgefeimtesten und cleversten Schurken zur Strecke bringen konnten? Seit fast einer Woche hatte er einen Mordfall am Hals, und er war noch nicht einen einzigen Schritt weitergekommen. Lustlos stocherte er in der Mehlspeise herum.
Während des Abendessens drehte Zedlnitzky den Fernseher an. In den Nachrichten dominierte die Wahl vom Vortag. Jeder Provinzpolitiker gab seinen Senf dazu, außerdem wurde wortreich aus den internationalen Zeitungen zitiert, die sich größtenteils empört über den Wahlausgang äußerten. Vor allem die Amerikaner schäumten, und in den Niederlanden wurde zum Boykott Österreichs aufgerufen. Unwillkürlich musste Zedlnitzky an die Kärntner Badeseen denken, wo Holländer seit Jahrzehnten nach den Deutschen das größte Urlauberkontingent stellten.
„Vielleicht können wir heuer am Wörthersee Sommerferien machen“, schlug er vor, „wenn die Edamer ausbleiben, dann nehmen die Kärntner uns mit Handkuss.“
Seine Frau musterte ihn aufmerksam, um herauszufinden, ob er diesen Satz ernst gemeint hatte. „Der Plattensee ist mir trotzdem lieber“, deponierte sie sicherheitshalber. Er zuckte nur mit den Schultern und spießte eine weitere Rosine auf.
Der Bericht über die Präsidentschaftswahl kam endlich zu einem Ende, doch gleich ging es mit Tschernobyl weiter, was Zedlnitzkys Laune ebenfalls nicht zuträglich war. Am liebsten hätte er abgedreht, doch aus irgendeinem Grund wartete er noch auf das Wetter, auch wenn absehbar war, dass es auch am nächsten Tag noch schön sein würde. Dennoch, man bekam sein Bauchgefühl gerne höheren Orts bestätigt.
Just als die Wetterkarte auftauchte, läutete das Telefon. Wie zu befürchten, war mit der dem Ergebnis entsprechenden Verspätung sein Vater am Apparat. Gottergeben hörte sich Zedlnitzky dessen Suada an, dabei durchaus überrascht, wie umfangreich das Vokabular seines Vaters in der Abteilung der Schimpfworte war. Und nur knapp konnte er sich lautes Lachen verkneifen, als der Vater plötzlich darüber philosophierte, dass man eigentlich auswandern sollte. Sein Erzeuger stand schon mit dem Hochdeutschen auf Kriegsfuß, wie wollte er da in England oder wo auch immer bestehen?
„Hörst, Papa, in Italien ist’s auch nicht besser. Dort haben s’ die Mafia. Spanien? Da tummeln sich immer noch die Faschisten. Und die Basken sprengen alle Daumen lang irgendwas in die Luft. Ja, ja, die Franzosen! Genau. Dort passt du hin, wie die Faust aufs Aug’ … Na komm, jetzt nimm’s nicht so tragisch. Du hast schon größere Trottel überlebt. Und bösere“, versuchte er den Vater zu beruhigen. Doch der war so richtig in Fahrt gekommen und ließ sich durch nichts bremsen.
Zedlnitzky zündete sich eine „Smart“ an und beschränkte sich darauf, alle zwanzig bis dreißig Sekunden „Ja“ oder „Aha“ oder auch „Ja, eh“ zu sagen, bis Papa Zedlnitzky endlich die Luft ausging. Na bitte, 20 Uhr 15. Die Rettung. Der Herr Papa hatte wohl noch nie eine Folge von „Sport am Montag“ versäumt.
Nach guten zwei Stunden mit „Jerry Cotton“ fühlte Zedlnitzky eine bleierne Müdigkeit in sich. Er dämpfte seine Zigarette aus und stellte den Aschenbecher in die Spüle.
„Ich glaub’, ich geh’ ins Bett“, sagte er nur und verschwand wortlos im Schlafzimmer.
Er hatte die Lichter schon längst gelöscht und starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in die Dunkelheit. Der Fall Dinotti ließ ihn nicht los. Irgendwie witzig, sagte er sich selbst. Reichenberger und Birgler hatten etwas gemeinsam. Bei Reichenberger gab es praktisch keine Hinweise auf die Zeit vor 1946, bei Birgler definitiv keine für die Zeit nach 1946. Aber gut, Reichenberger war ein aufgeblasener Emporkömmling. Klar, dass der seine Vergangenheit verstecken wollte, denn wahrscheinlich war er auch nichts Besseres gewesen als ein Arbeiter- oder Bauernkind. Doch von diesem Birgler sollte man doch irgendwie Informationen auftreiben können.
Zedlnitzky war sich sicher, er würde erst dann wieder Ruhe haben, wenn er sich mit Interpol in Verbindung gesetzt hatte. Es schien einfach denkunmöglich, dass jemand volle 40 Jahre auf der Flucht war, ohne dass dieser Jemand nicht irgendwo Spuren hinterlassen hatte. Er würde in Paris anrufen. Gleich am nächsten Morgen. Denn er musste ja sowieso einen Tag auf Hirsch warten, also war dieser Anruf seine beste Option. Zedlnitzky war endlich zufrieden mit sich, und so schlief er umgehend ein.