Camp Marcus W. Orr, 29. September 1946
„Du wirst leben, auch wenn Deutschland sterben musste.“
Dieser Satz ging ihm nicht aus dem Sinn, als er in geduckter Haltung hinter dem Mauervorsprung darauf wartete, dass der Lichtkegel des Suchscheinwerfers weiterwanderte. Dabei hatte er schon jede Hoffnung aufgegeben, als er plötzlich diesen Zettel in dem matschigen Brei, den man ihnen hier vorsetzte, aufgetaucht war. Bis zuletzt war es ihm denkunmöglich erschienen, dass ihn irgendein Gericht, und stehe es auch unter der Fuchtel der Siegermächte, verurteilen würde. Er war ein simpler Rottenführer gewesen, mit kaum einem halben Dutzend Männern unter sich, da konnte doch kein Mensch annehmen, dass er irgendwelche Entscheidungsbefugnisse gehabt hätte. Doch das Tribunal des neuen Österreich war anderer Meinung gewesen und hatte ihn zum Tode durch den Strang verurteilt, weil es zur Ansicht gekommen war, dass es ihm möglich gewesen wäre, die neun Zivilisten nicht einen Tag nach der Kapitulation der Wehrmacht zu exekutieren. Als ob Keitels Unterschrift in Karlshorst den direkten Befehl eines Hauptsturmführers aufheben könnte! Aber was wollte man auch von irgendwelchen Lakaien der Alliierten anderes erwarten.
Er hockte immer noch hinter der Ecke, um den Rhythmus des Scheinwerfers besser studieren zu können. Jedes Mal, wenn die nähere Umgebung wieder der Dunkelheit anheimfiel, fing er an, langsam zu zählen. „21, 22, 23 …“ Nach einigen Minuten war er sich sicher. Er hatte genau 40 Sekunden Zeit, den Vorplatz zu überwinden, auf die Mauer zu springen und dann auf die andere Seite zu kommen, ehe der Lichtschein wieder auf genau diesen Bereich fallen würde. Zwei Phasen würde er noch abwarten, dann galt es, so schnell wie nur irgend möglich zu sein.
Nie hätte er sich gedacht, dass die Amis sich als genauso niederträchtig erweisen würden wie der Iwan. Deutlich erinnerte er sich daran, wie froh er gewesen war, als er irgendwo hinter Vöcklabruck auf eine Kolonne amerikanischer Soldaten stieß. Beinahe freudig hatte er sein Gewehr von sich geworfen und die Arme gehoben. Ein paar Wochen Kriegsgefangenschaft, hatte er damals gemeint, dann würde er wieder zu Hause sein, während jene, die in die Hände der Sowjets fallen würden, eher früher als später in Sibirien krepierten.
Doch dann fand er sich plötzlich in Glasenbach, Compound I, wieder, und die Yankees nannten ihn einen Kriegsverbrecher. Dabei war er nicht einmal Parteimitglied gewesen. Und dann dieses Urteil. Mit einem Mal war ihm Sibirien direkt attraktiv erschienen. Er hatte einige Tage gebraucht, um wirklich verstehen zu können, was da vor seinen eigenen Augen geschehen war. Irgendwelche Bauern aus dem Kaff, in dem er die neun Geiseln justifiziert hatte, sagten gegen ihn aus. Einer tat das sogar überaus melodramatisch und berichtete von diesem Feigling, der sich vor ihm auf die Knie geworfen und mit gefalteten Händen um sein Leben gebettelt hatte. Na und? Er hatte trotzdem abgedrückt. Befehl ist schließlich Befehl. Klar aber auch, dass eine solch rührselige Darstellung das Gericht gegen ihn einnehmen musste. Und dann plötzlich diese Worte, die ihm auch jetzt, da er darauf wartete, über den Vorplatz zu hasten, in den Ohren dröhnten: Tod durch den Strang!
Er war sofort in Compound IV überstellt worden, das Straflager mit verschärfter Bewachung. Doch zum Glück bestand die Wachmannschaft, und dies mit vollem Wissen der Amerikaner und der österreichischen Regierung, fast ausnahmslos aus ehemaligen Nationalsozialisten, und so hatte man ihm, buchstäblich im letzten Augenblick, ehe er nach Wien ins Landesgericht überstellt werden sollte, damit man ihm dort den Hals langzog, diesen Zettel zukommen lassen. Und tatsächlich vergaß der Schließer am Abend, seine Zellentür zu versperren.
Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Durch den langen Barrackengang kam er zum Haupttor des Blocks. Dort öffnete er das Oberlichtfenster und zwängte sich hindurch. Dann hechtete er an die Ecke, wo er nun wartete.
„Jetzt aber los“, sagte er sich und sprintete los. Die Mauer, die das Lager von der Salzach trennte, war etwa zweieinhalb bis drei Meter hoch. Er kannte sie von den Hofgängen inund auswendig. Auf halber Höhe befand sich ein loser Ziegel. Den riss er heraus, um anschließend das so entstandene Loch als Steigbügel zu benützen. Seine Hände bekamen den Mauerkranz zu fassen. Er nahm Schwung und schaffte es auf Anhieb, seinen Körper auf den Abschluss der Wand zu ziehen. Einen Moment blieb er flach liegen, dann ließ er sich auf der anderen Seite sachte hinuntergleiten. Als er das Gefühl hatte, sein eigenes Körpergewicht nicht länger halten zu können, ließ er los und sprang auf den Boden.
Er ging in die Hocke und hielt den Atem an. Nichts tat sich. Noch schien niemand seine Flucht bemerkt zu haben. So leise wie möglich legte er die paar Meter zum Flussufer zurück, dann nahm er all seinen Mut zusammen und tauchte in die Fluten. Das Wasser war angesichts der Jahreszeit unangenehm kalt, und seine Kleider schienen ihn sofort auf den Grund ziehen zu wollen, doch er wusste, dass die Salzach an dieser Stelle nicht besonders breit war. Er biss die Zähne zusammen und kraulte mit aller Kraft gegen die Strömung an. Dennoch wurde er fast bis zum Rechenwirt abgetrieben, ehe er endlich, völlig erschöpft, das andere Ufer erreichte. Schnaufend ließ er sich ins Gras fallen und wartete darauf, bis sein Atem sich beruhigt haben würde.
Er keuchte immer noch, als er sich mühsam erhob. Sein ganzer Körper zitterte vor Kälte, und es war nichts gewonnen, wenn ihm zwar die Flucht aus dem Lager gelungen war, er aber am Weg in die Freiheit erfror. Knappe zwei Kilometer westlich lag der Schlosspark von Hellbrunn. Dort mochte er sich über Nacht verstecken können, sagte er sich. Aus Erzählungen wusste er, dass der Park gerne von den Salzburgern für kleinere Ausflüge genutzt wurde. Er würde sich einfach am nächsten Morgen unter die Spaziergänger mischen, um anschließend unauffällig in der Stadt unterzutauchen.
Die Kälte hielt ihn unerbittlich in ihren Klauen. Er klapperte mit den Zähnen und versuchte sich damit zu wärmen, dass er beständig die Arme an die jeweils gegenüber befindliche Schulter warf, als wollte er sich selbst umarmen. Wie gern hätte er ein Feuer gemacht, doch dann hätte er gleich selbst Alarm schlagen können. Mit letzter Kraft überwand er die Parkmauer und fand in einem abgelegenen Stück des Areals einen fein säuberlich zusammengerechten Laubhaufen. Kurz hielt er inne und lächelte. Dann ging er auf die Knie und kroch wie ein Tier mitten in den Haufen hinein. Er legte sich seitwärts, zog die Beine an und schob mit der freien Hand alle Blätter, derer er habhaft werden konnte, auf seinen Körper. Tatsächlich begann er sich nach einer Weile wärmer zu fühlen. Dennoch war er sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, die Nacht zu überleben. Wenigstens, so dachte er sich, würde er als freier Mann sterben. Und erfrieren war allemal angenehmer als langsam und qualvoll zu ersticken.
Am nächsten Morgen gab es keinen einzigen Körperteil, der ihn nicht schmerzte. Wie ein uralter Greis schälte er sich aus seiner Liegestatt und richtete sich umständlich auf. Hinter einem dicken Baum hielt er Ausschau nach Wanderlustigen. Eine gute Weile gelang es ihm, Hunger und Durst auszublenden, doch mit Fortdauer des Tages begann er sich zu fragen, ob er es nicht doch riskieren sollte, einfach so und ganz allein aus dem Park zu schlendern. Eben, als er bereit war, dieses Risiko einzugehen, hielt eine Gruppe auf ihn zu. Er zählte acht Personen unterschiedlichen Alters, die allesamt recht vertraulich miteinander umgingen, was ihn zu dem Schluss führte, es mit einer Familie zu tun zu haben. Er wartete, bis sie seinen Baum passiert hatten, dann hängte er sich einfach mit einem gewissen Respektabstand an.
Gute 40 Minuten später strebten die Leute wieder dem Ausgang zu. Schon aus weiter Ferne erkannte er, dass niemand die Passanten kontrollierte. Dennoch klopfte ihm das Herz bis zum Hals, als er durch das Tor schritt. Er sah sich um, doch kein Mensch beachtete ihn. Er strebte der Hellbrunner Allee zu, auf der er sich nach Norden wandte. Drei Kilometer später erreichte er den Rudolfskai, umrundete gleichsam den Kapuzinerberg und tauchte schließlich in die Salzburger Altstadt ein.
Zehn Minuten später hatte er das Schloss Mirabell hinter sich gelassen und stand an den Gleisen der Westbahn. Keine 500 Meter rechts von ihm machte er die Umrisse des Salzburger Bahnhofs aus. Kurz überlegte er, ob er sich in der Lage fühlte, jemandem unbemerkt die Brieftasche zu entwenden, damit er an genügend Geld kam, um ganz offiziell die Bahn benützen zu können. Doch rasch verwarf er diesen Plan wieder. Es würde ihm nicht erspart bleiben, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Dann standen die Chancen, wie er meinte, nicht schlecht, sich in einen Güterwaggon zu schleichen und als blinder Passagier eines Zuges diesen unseligen Ort zu verlassen. Ob nach Bayern oder nach Linz, es war ihm einerlei. Hauptsache, er befand sich nicht länger in Salzburg.