Heligan Gardens, September 1912
Im Erdgeschoss des großen zweigeschossigen Gebäudes am Rande des Melonenhofs wurden Pflanzen vorgetrieben, in der oberen Etage lagerte Obst. Daneben lag die schmale Donnerbalken-Kammer, in der die Gärtner ihre Notdurft verrichteten und deren weiß getünchte Wand mit mehr oder weniger schmeichelhaften Sprüchen für Mr Griffin übersät war. Gut, hatte Vincent schon oft gedacht, dass der Obergärtner offenbar nie dorthin kam – sonst hätten ihm die Ohren geklungen.
Die strohgefüllte Matratze knisterte unter ihm. Vincent lag auf einem einfachen Rollbett in der kleinen Schlafkammer, die sich über dem Donnerbalken-Raum befand und zu der eine Leiter hinaufführte. Die ruhig brennende Flamme einer Sturmlaterne beleuchtete die weißen Wände. Neben ihm tickte leise der Wecker, den er leihweise für diese Nacht von Mr Griffin bekommen hatte. Bald würde er wieder die Temperatur in der Ananasgrube kontrollieren müssen.
Die Ananaspflanzen, die in Heligan schon seit vielen Jahrzehnten in einer gemauerten Grube gezogen wurden, benötigten zu ihrer Reifung gleichmäßige Wärme, die durch große Mengen von frischem Pferdemist erzeugt wurde. Dafür brauchte es eine regelmäßige Aufsicht, die alle drei Stunden die Hitze des gärenden Dungs überprüfen und ihn auch umschichten musste. Auch nachts. Das zählte zu den Aufgaben der jungen Gärtnerlehrlinge, aber einmal in der Woche hatten sie frei, und dann waren im Wechsel die anderen Gärtner mit dieser Vierundzwanzig-Stunden-Wache dran. Diesmal hatte es Vincent getroffen.
Er wandte sich wieder dem Buch zu, das Nicholas ihm gegeben hatte und das dieser, dem zerfledderten Einband nach, schon mehrfach gelesen hatte. Auf dem gelben Umschlag war eine gezeichnete Sphinx zu sehen. Der Autor hieß H. G. Wells, und der Roman war mit »Die Zeitmaschine« betitelt.
Kein schlechtes Buch. Anfangs hatte Vincent die Geschichte über eine Reise in eine weit entfernte Zukunft noch etwas albern gefunden, aber je länger er las, desto spannender fand er es. Er konnte verstehen, dass Nicholas von solchen Geschichten nicht genug bekommen konnte.
Er warf erneut einen Blick auf den leise tickenden Wecker neben ihm. Halb eins. In einer halben Stunde würde er erneut aufstehen müssen. Aber bis dahin konnte er weiterlesen.
*
»Jetzt komm schon!« Vincent bedeutete Nicholas, der sich noch mit zwei Kollegen unterhielt, sich zu beeilen.
Es war Sonntag, und sie waren gerade vom Kirchgang zurückgekehrt. Die kleine Kirche von St Ewe war voll gewesen. Neben Mr und Mrs Tremayne sowie dem Haus- und Gartenpersonal Heligans war an diesem Tag auch Mrs Babington, eine weitere von Mr Tremaynes Schwestern, mit ihrem Mann und ihren beiden jüngsten Söhnen anwesend. Ralph war vierzehn und ging noch zur Schule; sein älterer Bruder Hugh war in der Royal Navy und vor Kurzem zum Unterleutnant ernannt worden, wie Mr Griffin ihnen erzählt hatte.
Nun versammelte sich der größte Teil der Gärtner und Arbeiter von Heligan allmählich vor der großen Holztür, die in den Blumengarten führte. Nicht alle waren gekommen – manche waren krank oder hatten frei –, aber wer anwesend war, trug seinen Sonntagsstaat aus sauberer Hose, Weste, einem ordentlichen Hemd und Jacke.
An diesem Tag würde etwas Besonderes stattfinden: Ein Fotograf aus Mevagissey war bestellt worden, der Bilder von den verschiedenen Gartenbereichen Heligans machen würde. Und nun hatte der Squire beschlossen, dass man die Gelegenheit nutzen könne und auch gleich die anwesenden Gärtner und Arbeiter Heligans ablichten könne. Mr Tremayne war der Meinung, dass man mit dieser modernen Technik nicht nur die Wohlhabenden abbilden sollte, sondern auch die, die für sie arbeiteten.
Ein sehr fortschrittlicher Gedanke, wie Vincent fand.
Ein paar Stühle wurden gebracht und aufgestellt. Es dauerte ein wenig, bis sich alle Anwesenden richtig platziert hatten. Die jungen Gärtnerburschen alberten etwas herum und wurden von den Älteren zur Ordnung gerufen. Vier Männer, darunter Mr Griffin, setzten sich, die anderen nahmen hinter ihnen Aufstellung. Im letzten Moment wechselte Nicholas seinen Platz mit Archibald Smaldon, dem Zimmermann, sodass er neben Vincent zu stehen kam.
»Achtung!«, rief der Fotograf jetzt, ein Mr Dalby Smith, den man unter dem schwarzen Tuch hinter der Kamera, die auf einem Stativ stand, nur erahnen konnte.
Vincent bemühte sich um ein ernstes Gesicht – bei der Aufnahme durfte man schließlich nicht lachen – und blickte wie die anderen auch in Richtung des Objektivs.
Ein Druck auf den Auslöser, ein Klick, dann war es auch schon erledigt. Dennoch: Auch wenn er gelesen hatte, wie diese Technik funktionierte, so grenzte die Möglichkeit, das Abbild eines lebenden Objekts auf Papier zu bannen, für Vincent noch immer an Zauberei.
Als Mr Griffin sie alle einige Tage später zusammenrief und ihnen die fertiggestellte Fotografie präsentierte, fühlte Vincent Stolz in sich aufsteigen. Wie hatte es der Squire so schön gesagt: Jetzt wäre ihrer aller Bild für die Nachwelt aufgehoben. Und nicht nur das: Diese Aufnahme zeige nicht einfach nur die Arbeiter und Gärtner Heligans, sondern drücke auch Achtung vor diesen Männern aus, die diese Anlage über viele Jahre hinweg geschaffen hatten und die immer noch täglich dafür sorgten, dass alles weiterhin blühte und gedieh.