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HAILEE

Heligan Gardens, Mai 1913

»Hailee O’Connor«, las der Obergärtner von dem Blatt ab, das die junge Frau ihm gereicht hatte. »Hört sich irisch an.«

Hailee nickte. Der große Mann mit seiner lauten Stimme schüchterte sie ziemlich ein.

»Mein Vater stammt aus Irland«, sagte sie leise. »Und solange meine Eltern noch lebten, war ich auch dort. Aber jetzt bin ich schon eine ganze Weile in England. Ein Teil meiner Familie stammt aus Cornwall.«

Sie hatte ihre Eltern verloren, als sie dreizehn war. In den vergangenen acht Jahren hatte sie bei ihrer Tante in England gelebt.

»Nun, tut mir leid, Mädchen, aber ich habe keine Arbeit für Sie. Wenn überhaupt, dann brauche ich ausgebildete Gärtner. Angelernte Hilfen habe ich genug.«

Hailee hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und sich aufs Geratewohl in Heligan als Gartenhilfe beworben. Jetzt sah sie ihre letzte Hoffnung schwinden.

»Sehen Sie, Mr …«

»Griffin«, sagte der Obergärtner, der allmählich ungeduldig zu werden schien.

»Mr Griffin. Es … es muss ja nicht unbedingt als Gärtnerin sein«, versuchte Hailee es weiter. »Ich … ich könnte auch die Blumen gießen. Oder irgendwelche Erledigungen machen.«

Der Blick aus dem Fenster seines Büros zeigte ihr ein großes Gewächshaus mit weiß gestrichenen Rahmen, in dem gerade zwei Männer arbeiteten.

»Bedaure.« Mr Griffin erhob sich. »Aber zurzeit sind alle offenen Stellen bei mir besetzt. Und ganz ehrlich – ich wüsste auch nicht, was ich mit einer weiblichen Arbeitskraft hier draußen anfangen sollte.«

Hailee ließ den Kopf hängen und bohrte ihre Finger in den Stoff ihres langen, schon leicht fadenscheinigen Rocks.

»Danke«, murmelte sie. »Auf Wiedersehen.«

Niedergeschlagen trat sie ins Freie, ging ziellos einige Schritte, bis sie durch ein kleines Tor kam, und blieb dann stehen. Vor ihr erstreckte sich der weitläufige Blumengarten von Heligan. Sie konnte den Blick nicht losreißen von der bunten Pracht. Blumen in allen möglichen Farben und Formen wuchsen dort – riesige Tulpen in Rosa-, Flieder- und Gelbtönen, die sich sanft im Wind wiegten, sowie ein Farbrausch von Dahlien in lebhaftem Rosa und Gelb, Rot, Weiß und sattem Purpur.

»Kann ich dir helfen?«, fragte dann eine männliche Stimme schräg hinter ihr.

Hailee drehte sich erschreckt um. Vor ihr stand ein junger Mann in Arbeitskleidung mit einem leicht verstrubbelten blonden Haarschopf. Er machte einen netten Eindruck, und Hailee entspannte sich etwas.

»Oh. Danke … ich wollte mir die schönen Blumen anschauen.«

»Ja, sie sind wirklich wundervoll, nicht wahr?« Der junge Mann wirkte so stolz, als hätte er jede Pflanze persönlich gesetzt und aufgezogen. Was er ja vielleicht auch getan hatte. »Kommst du aus der Gegend? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

»Ich habe für einige Zeit in Mevagissey bei meiner Tante gelebt. Aber ursprünglich komme ich aus Irland.«

»Verstehe. Ich bin Vincent. Vincent Payne.«

»Hailee O’Connor«, gab sie schüchtern zurück. Sie hatte nicht viel Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, denn ihre überaus fromme Tante hatte sie von allen Vergnügungen – »Versuchungen«, wie sie es nannte – ferngehalten. Sich so unbefangen mit einem Mann zu unterhalten, war ungewohnt für sie. »Du bist Gärtner?«

Er nickte. »Bin für den Blumengarten zuständig.«

Sie seufzte. Aber dieser junge Mann mit seinem offenen Gesicht wirkte vertrauenswürdig. »Ich will auch Gärtnerin werden«, bekannte sie.

»Gärtnerin?«, wiederholte er. »Als Frau?«

Genauso hatte Tante Louise auch reagiert, als sie ihr von ihren Plänen erzählt hatte.

»Ja, auch Frauen können Gärtner werden«, sagte sie. »Es gibt mittlerweile einige Schulen nur für Frauen, die diese Ausbildung anbieten.«

Vincent schien beeindruckt. »Das wusste ich nicht. Und warum bist du dann nicht dort?«

»Weil ich es mir nicht leisten kann.« Sie hatte mehrere entsprechende Institute angeschrieben und sich Unterlagen schicken lassen, aber es war überall dasselbe: Die Kosten für Unterkunft und Ausbildung – mehr als sechzig Pfund im Jahr – waren einfach zu hoch. Sie kam ja schon so kaum über die Runden. Das winzige Erbe, das Tante Louise ihr nach ihrem Tod hinterlassen hatte, war fast aufgebraucht. Sie würde nur noch bis zum Ende des Monats in der kleinen Kate ihrer Tante bleiben können, dann könnte sie sich die Pacht nicht mehr leisten, und sie säße auf der Straße.

»Ich hatte gedacht, ich frage hier nach, ob ich auch ohne Ausbildung im Garten arbeiten kann, aber Mr Griffin sagt, er brauche niemanden. Schon gar keine Frau.« Dabei hatte sie es schon als kleines Mädchen geliebt, im Garten herumzuwerkeln und ihrer Mutter beim Pflanzen, Gießen und Ernten zu helfen, während ihr Vater und ihr älterer Bruder irgendetwas reparierten. Das waren schöne Tage gewesen damals.

Von irgendwo ertönte ein Ruf, und Vincent hob entschuldigend die Schultern.

»Tut mir leid, ich muss wieder zurück an die Arbeit.« Er wandte sich zum Gehen, dann blieb er stehen und drehte sich um, als wäre ihm gerade noch etwas eingefallen.

»Ich habe gehört, in der Küche vom Herrenhaus suchen sie ein neues Küchenmädchen. Lizzie, die bisherige Hilfe, musste fort, um sich um ihren Vater zu kümmern. Ist zwar nicht ganz das, was du dir vorgestellt hast, aber vielleicht wäre das was für dich?«

Als Küchenmädchen arbeiten? Hailee hätte fast den Kopf geschüttelt, aber dann schluckte sie ihren Stolz herunter und straffte ihre Schultern. Sie brauchte dringend eine Arbeit, da konnte sie nicht wählerisch sein. Und es wäre immerhin ein Anfang.

»Ja, warum nicht?«

Vincent lächelte. »Dann viel Glück.«

*

Man kann das Leben auf zwei Arten betrachten, befand Hailee, während sie vor dem Kücheneingang saß und ein frisch geschlachtetes Huhn rupfte. Zum einen könnte sie darüber lamentieren, dass sie ihrem Traum, in einem großen Garten zu arbeiten, so gut wie keinen Schritt nähergekommen war. Andererseits könnte sie sich darüber freuen, dass sie zumindest eine Arbeit bekommen hatte – wenn auch nicht unbedingt die, die sie sich wünschte. Sie hatte sich für die zweite Option entschieden.

Sie packte das tote Huhn fester und fuhr fort, ihm die Federn auszureißen.

Sie war jetzt ein Küchenmädchen, trug eine Schürze über ihrem einfachen Kleid, und auf ihrem Kopf saß eine Haube. Bei dieser Arbeit hatte sie noch ein altes Tuch über ihren Schoß gebreitet. Das Gehalt war zwar mager, aber dafür bekam sie täglich drei Mahlzeiten und hatte zudem ein Dach über dem Kopf: Mit einem der Stubenmädchen teilte sie sich ein winziges Zimmer im obersten Stockwerk des großen Hauses.

Die Hühnerfedern flogen durch die Luft, eine Brise wirbelte sie auf und trug sie hoch hinauf. Eine der Federn verfing sich im Efeu, der die Wand des Herrenhauses bis zum obersten Stockwerk bedeckte – fast so, als hätte sich das Haus in einen grünen Mantel gekleidet.

Als sie mit dem Rupfen fertig war und auch die meisten der Federn eingesammelt hatte, brachte Hailee das Huhn in die Küche und wusch sich die Hände.

Kaum hatte sie sich abgetrocknet, drückte Mrs Hammett, die Köchin, ihr einen Teller mit zwei dick belegten Sandwiches in die Hand.

»Jenna ist heute krank, also musst du Mrs Tremayne ihren Lunch bringen.«

Hailee zögerte. Sie wusste weder, wer Jenna war – vermutlich eines der Hausmädchen –, noch, wohin sie das Essen tragen sollte.

»Aber – ich kenne mich überhaupt nicht aus im Haus.« Bis auf den Weg über die enge Dienstbotentreppe hinauf zu ihrem kleinen Zimmer hatte sie sich bislang ausschließlich im Untergeschoss aufgehalten.

»Du sollst ja auch nicht im Haus herumspazieren, sondern Mrs Tremayne das Essen nach draußen bringen. In den Sonnenuhrgarten.«

Hailee nickte gehorsam. Den gefüllten Teller mit beiden Händen festhaltend, ging sie vorsichtig wieder hinaus und steuerte dann den gepflegten, von bunten Blumen gesäumten Rasen vor dem Haus an. Seit ihrer Anstellung vor einer guten Woche hatte sie sich fast ausschließlich drinnen aufgehalten – sie hatte keine Ahnung, wie groß das gesamte Anwesen war.

Oder auch nur, wo dieser Sonnenuhrgarten lag.

Ratlos blieb sie stehen und schaute sich um.

Mehrfach zögerte sie, aber dann fasste sie sich ein Herz und fragte einen Mann, der zwischen den Blumen Unkraut jätete, ob er ihr sagen könne, wo sich der Garten mit der Sonnenuhr befinde.

»Ich habe hier den Lunch für Mrs Tremayne«, erklärte sie.

»In den Sonnenuhrgarten?« Der Mann richtete sich auf und sah sie an. »Das ist nicht weit. Weißt du, wo der Blumengarten ist? Ja? Dann halte dich einfach in diese Richtung, und etwas unterhalb ist er schon.« Er grinste breit. »Aber pass auf, dass sie dich nicht erschießt.«

Hailee bedankte sich und machte sich ein wenig verunsichert auf den angegebenen Weg. Was meinte er bloß mit ›erschießen‹?

Es war wirklich nicht weit – nur etwas mehr als hundert Yards, und es ging unterhalb des Blumengartens durch einen Torbogen, neben dem ein prächtiger Blauregen wuchs. Die großen violetten Blütentrauben hingen dicht an dicht über dem Durchgang. Dahinter erstreckte sich ein lang gezogenes, ummauertes Areal.

Hailee hatte die Dame des Hauses bislang nur zweimal kurz gesehen, als sie in der Küche erschienen war, um mit Mrs Hammett zu sprechen. Hailee war bei diesen Gelegenheiten immer in der Spülküche verschwunden, um nicht zu stören und dem Spülmädchen zu helfen.

Mrs Ada Tremayne, hatte sie von ihrer recht redseligen Zimmergenossin Demi erfahren, war die unverheiratete Schwester des Hausherrn – und nicht etwa seine Gattin, wie sie aufgrund des »Mrs« angenommen hatte.

»Du musst wissen«, hatte Demi sie schon am ersten Abend aufgeklärt, als Hailee todmüde in ihr Bett fiel und eigentlich nichts wollte als schlafen, »dass Mr Tremayne, also der Squire, geschieden ist.«

»Hat er Kinder?«, fragte Hailee im Halbschlaf.

»Nein, nicht dass ich wüsste. Aber dafür hat seine Schwester gleich fünf.«

»Ich dachte, seine Schwester ist nicht verheiratet.«

»Ich meine ja auch nicht diese Schwester. Der Squire hat vier Schwestern, und davon ist nur eine verheiratet. Das ist die mit den fünf Söhnen, Mrs Babington. Seine älteste Schwester, Mrs Ada Tremayne, lebt mit ihm hier in Heligan.«

Demi plapperte noch weiter, während Hailee langsam in den Schlaf glitt.

Hailee trat durch eine schmiedeeiserne Tür in den ummauerten Garten. Hier gab es eine lange, schmale Rasenfläche, in deren Mitte sich ein steinernes Podest mit einer kleinen Sonnenuhr befand. Gesäumt wurde der Garten von etlichen prachtvollen Staudenrabatten.

Hailee blieb erstaunt stehen: Die hochgewachsene Hausherrin hielt einen großen Bogen in der Hand, in den sie einen Pfeil eingelegt hatte, und zielte auf eine am anderen Ende des lang gestreckten Gartens angebrachte große runde Scheibe.

»Nicht stören!«, rief Mrs Tremayne, bevor Hailee etwas sagen konnte.

Der Pfeil zischte von der Sehne und schlug gleich darauf mit einem dumpfen Laut in der Zielscheibe ein.

Mrs Tremayne ließ den Bogen sinken. »Das konnte ich schon mal besser«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Was haben Sie für mich?«

»Sandwiches mit Braten und eingelegtem Gemüse, Ma’am … Miss …«, gab Hailee zurück.

»Sagen Sie Ma’am«, erklärte Ada Tremayne. »Und Mrs Tremayne. Ja, ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber ich möchte es so.«

»Sehr wohl, Ma’am.«

Hailee stellte den Teller mit den Sandwiches auf dem kleinen Tisch mit zwei Stühlen ab, der in der Nähe des Eingangs stand, knickste und wollte sich zurückziehen.

Aber dann blieb sie noch ein paar Sekunden stehen, um Mrs Tremayne zuzusehen, wie sie erneut einen Pfeil einlegte, zielte und schoss. Diesmal traf der Pfeil fast mitten in die Zielscheibe.

»Das ist … unglaublich!«, entfuhr es Hailee, bevor sie sich zurückhalten konnte.

»Wie meinen Sie?«

»Entschuldigung, Ma’am. Ich … Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Aber …«

»Aber?« Mrs Tremayne sah sie freundlich an. »Reden Sie nur.«

»Das war meisterhaft.«

»Vielen Dank«, sagte Mrs Tremayne. »Aber das ist nur gehobene Stümperei. Es gibt viele Bogenschützinnen, die weitaus besser sind als ich. Die treffen auch aus viel größerer Entfernung in die Mitte.« Sie sah Hailee an. »Ich habe Sie vor Kurzem in der Küche gesehen. Sie sind neu hier, nicht wahr?«

Hailee nickte: »Ja, Ma’am. Seit einer Woche. Ich heiße Hailee. Hailee O’Connor. Und … und ich …«

»Nur zu, Hailee«, sagte Mrs Tremayne. »Sprechen Sie frei aus, was Sie sagen wollen.«

Hailee fasste sich ein Herz. »Ich habe noch nie eine Frau – ich meine, eine Dame gesehen, die mit dem Bogen schießt.«

Mrs Tremayne lachte. »Dabei bin ich ganz sicher nicht die Einzige. Es gibt etliche weibliche Bogenschützinnen, einige haben sogar schon Preise gewonnen. Und warum sollte eine Frau nicht auch das tun können, was ein Mann tut?«

Mrs Tremayne sah sie so aufmerksam an, als erwarte sie wirklich eine Antwort. Von ihr. Einem Küchenmädchen.

»Weil … weil …« Hailee begann zu stammeln. »Es ist nun mal der Lauf der Welt, dass eine Frau …«

»Dass eine Frau weniger Rechte hat als ein Mann?«

»Ja, so ist es wohl.«

»Und halten Sie das für gerecht?«

Hailee zögerte nur kurz, dann gab sie sich einen Ruck.

»Nein, Ma’am, das ist nicht gerecht. Es gibt sicher vieles, in dem Frauen genauso gut sind – oder sein könnten – wie Männer. Aber man lässt sie nicht.«

Sie hielt erschrocken inne. Was redete sie denn da? Damit war sie nur herausgeplatzt, weil sie noch immer traurig war, nicht im Garten arbeiten zu dürfen.

»Aber ich … ich sollte jetzt gehen.« Sie knickste erneut und wandte sich dem Ausgang zu.

»Nein, Hailee, warten Sie.« Mrs Tremayne hatte ihren Bogen ins Gras gelegt und sich auf einen der beiden Stühle gesetzt.

»Ich esse nicht gern allein. Setzen Sie sich zu mir. Und nehmen Sie sich auch ein Sandwich, es ist sowieso zu viel für mich.«

Hailee blieb unschlüssig stehen. »Oh, nein, Ma’am, das gehört sich nicht.«

»Wenn ich es sage, dann können Sie es ruhig tun. Oder schmeckt Ihnen nicht, was unsere Köchin für mich zubereitet hat?«

»Doch, natürlich.« Hailee nahm ganz vorne auf der Kante des freien Stuhls Platz und griff nach einem der Sandwiches. Zaghaft biss sie in das belegte Brot. Es schmeckte köstlich, und erst, als sie aß, merkte sie, wie hungrig sie war.

Mrs Tremayne ließ ihr Sandwich sinken und sah sie an. »Ich mag Sie, Hailee. Sie bringen frischen Wind in dieses Haus. Sind Sie verheiratet?«

Hailee schluckte den Bissen hinunter und schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am.«

Manchmal wünschte sie, sie wäre es. Dann wäre sicher vieles leichter.

»Sehen Sie, ich auch nicht. Und trotz meines höheren sozialen Standes habe ich kaum mehr Rechte als Sie. Eine Frau ist immer abhängig von dem Mann an ihrer Seite. Als unverheiratete Frau nennt man Sie Miss Soundso, erst mit der Heirat werden Sie zu einer vollständigen Person. Und ist kein Ehemann vorhanden, dann ist es der Vater oder der Bruder, der über Sie bestimmt. Wussten Sie, dass mein Bruder, der Squire, alles tun darf, was er will, während ich zu einem Leben in der zweiten Reihe verurteilt bin?«

»Nein, Ma’am, das wusste ich nicht.«

Hailee knetete ihre Hände. Ein Teil von ihr wollte am liebsten fort, aber ein anderer Teil war fasziniert: Mrs Tremayne sprach so offen, so unverblümt mit ihr über Themen, über die sie sich bislang nur wenig Gedanken gemacht hatte.

Mrs Tremayne nahm einen weiteren Bissen, kaute und schluckte. »Überlegen Sie mal, Hailee: Können Sie mir einen vernünftigen Grund nennen, warum Frauen nicht wählen dürfen?«

»Nun, äh …« Hailee überlegte. »Nein, Ma’am, das kann ich nicht. Aber es klingt wirklich nicht sehr gerecht.«

»Ich sehe, Hailee, dass Sie offen sind für diese Gedanken. Haben Sie schon einmal von den Suffragetten gehört?«

»Nein, Ma’am«, bekannte Hailee leicht beschämt.

Mrs Tremayne hatte ihr Sandwich verzehrt und griff nach einer Serviette, mit der sie sich die Finger abwischte. »Der Name ist abgeleitet von suffrage, Stimmrecht. Damit sind Menschen gemeint, die für das Wahlrecht der Frau kämpfen.«

»Wie kämpfen sie denn?«

»Mit Worten, aber auch mit Taten. Und wir werden immer mehr.«

»Dann sind Sie also auch eine dieser … Suffragetten?« Das ungewohnte Wort kam Hailee etwas sperrig über die Lippen.

Ada Tremayne nickte. »Ja, das bin ich. Sehen Sie diesen Anstecker hier?« Sie deutete auf ihr Revers, wo sie eine kleine dreifarbige Brosche trug. »Das sind die Farben der Suffragetten. Grün steht für die Hoffnung, Violett für Würde und Weiß für Ehrenhaftigkeit. Wie sieht es aus, Hailee: Möchten Sie mehr darüber wissen?«

»Sehr gerne, Ma’am.«

Mrs Tremayne sah sie scharf an. »Sagen Sie das jetzt nur, um mir zu gefallen, oder haben Sie wirklich Interesse?«

Hailee spürte, wie sie rot anlief. So ganz unrecht hatte Mrs Tremayne nicht. »Ich habe noch nie viel über solche Fragen nachgedacht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Aber das würde ich gern.«

Hailee musste später noch lange über dieses Gespräch nachdenken. Ada Tremayne hatte mit ihr fast wie mit einer Gleichgestellten darüber gesprochen, wie wenig Rechte Frauen noch immer hatten und wie ungerecht das alles war.

Am nächsten Tag ließ die Hausherrin nach ihr schicken – diesmal nicht in den Sonnenuhrgarten, sondern in ihre Privatgemächer. Und das auch nicht wegen irgendwelcher Pflichten als Bedienstete.

»Sie können doch lesen?«, fragte Mrs Tremayne.

»Natürlich, Ma’am«, erwiderte Hailee mit einem gewissen trotzigem Stolz. »Ich kann auch schreiben und rechnen.«

Sie stand in der Mitte des Raums und sah sich verstohlen in dem großen, exquisit eingerichteten Zimmer im ersten Stock um, das bestimmt dreimal so groß war wie die Küche des Hauses. Noch nie war sie abseits der ihr erlaubten Räume in Heligan House gewesen.

»Sie sagten gestern, dass Sie gern mehr über die Suffragettenbewegung wissen wollen. Nun, ich möchte Ihnen etwas zu lesen geben. Hier.« Mrs Tremayne drückte ihr einen kleinen Stapel Flugblätter und Zeitungsartikel in die Hände. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie sich das mal anschauen würden.«

Hailee knickste, ihr wurde ganz warm vor Freude. »Das werde ich, Ma’am. Vielen Dank.«

*

Als Küchenmädchen musste Hailee nicht nur sehr früh – als Erste im ganzen Haus – aufstehen, um den Herd in der Küche anzuheizen und anschließend Feuer in den Kaminen zu machen, sie kam auch nur selten nach draußen. Dazu war zu viel zu tun – das Frühstück richten, die Hausmädchen wecken, Mrs Hammett bei ihren täglichen Arbeiten unterstützen, Gemüse putzen und vieles mehr. Wenigstens hatten sie noch ein Spülmädchen, sodass sie nicht auch noch diese Aufgabe übernehmen musste.

Das Untergeschoss war fast ausschließlich den Bediensteten vorbehalten. Hier kamen sie zusammen, hier aßen sie, und im großen Aufenthaltsraum der Hausangestellten hing zudem das Schild mit den beschrifteten Glocken, an denen man sehen konnte, in welchem Zimmer ihre Dienste gewünscht wurden. Und hier war überdies die Küche, Hailees Arbeitsplatz.

Unter dem Personal gab es ebenfalls eine strenge Ordnung. Hailee und das Spülmädchen Fanny gehörten zu den untersten Diensträngen. Ihre direkte Vorgesetzte war Mrs Hammett, die Köchin, mit der Hailee täglich viele Stunden in der Küche verbrachte. Darüber kam Mrs Appleford, die Haushälterin. Viel mehr Kontakte hatte Hailee sonst tagsüber nicht – mit den meisten anderen Angestellten traf sie nur zum gemeinsamen Dienstbotendinner am Abend zusammen, wenn sich das gesamte Hauspersonal am großen Tisch im Aufenthaltsraum versammelte.

Dieses Essen war für Hailee stets der Höhepunkt des Tages. Oft war sie nach der vielen Arbeit des Tages so hungrig, dass sie sich beherrschen musste, nicht schon beim Kochen zu naschen. Fast immer gab es nahrhafte, fleischhaltige Speisen. Hailees Lieblingsgericht war Toad in the Hole, Kröte im Loch, ein Auflauf aus Bratwürsten in einem Eierteig, der mit Kartoffelbrei, Erbsen und Zwiebelsauce serviert wurde. Zum Nachtisch wurde oft ein süßer Pudding mit Konfitüre oder Kompott gereicht.

Abends fiel sie meist todmüde ins Bett. Dennoch nahm sie sich dann und wann noch ein paar Minuten Zeit, um sich die Flugblätter und Zeitungsausschnitte anzuschauen, die ihr Ada Tremayne gegeben hatte.

Sie las über Frauen wie Emmeline Pankhurst, die eine Organisation gegründet hatte, die sich für die Rechte der Frauen einsetzte. Für ihren Protest waren sie und ihre Mitstreiterinnen sogar schon mehrfach festgenommen worden. Mrs Pankhurst war der Meinung, dass es keinen wirklichen Frieden in der Welt geben könne, bis auch Frauen mehr Rechte bekämen.

Hailee stimmte ihr in vielem zu – und fragte sich immer öfter, warum Frauen so viel verwehrt blieb. Wenn das anders wäre, dann könnte sie Gärtnerin werden. Oder Chauffeurin. Oder, falls es ihr gefiel, sogar eines dieser kleinen Flugzeuge steuern, die sie einmal am Himmel über Heligan gesehen hatte.

»Was liest du da eigentlich?«, wollte Demi eines Abends von ihr wissen. Demi hieß eigentlich Demelza, wie Hailee vor Kurzem erfahren hatte, ließ sich aber immer nur in der Kurzform nennen.

»Mrs Tremayne hat es mir gegeben«, erklärte Hailee. »Es geht um die Suffragetten. Um die Bewegung für die Rechte der Frau. Mrs Tremayne ist da sehr engagiert.«

Ada Tremayne imponierte ihr. Diese Frau, die ihr um einiges höhergestellt war, verkörperte alles, was sie nicht hatte – Eleganz, Selbstbewusstsein und Redegewandtheit. Und hatte sie im Sonnenuhrgarten mit Hailee nicht fast so gesprochen, als wären sie gleichberechtigt? Aber das sagte sie natürlich nicht vor Demi, sondern setzte sich im Bett auf und schob ihre Unterlagen zusammen.

»Vor wenigen Wochen«, sagte sie, »hat sich bei einem Pferderennen in London eine Frau vor ein Pferd des Königs geworfen. Sie ist kurz darauf gestorben.«

Demi sah sie ungläubig an. »Warum hat sie das getan?«

»Um damit für die Einführung des Frauenwahlrechts zu protestieren.«

Demi schüttelte den blonden Kopf. »Ich weiß nicht. Ich glaube eher, sie war nicht bei Verstand. Für so was wirft man doch nicht sein Leben weg.«

Hailee dagegen fand diese Aktion sehr mutig und selbstlos.