Heligan Gardens, März
Die frisch eingekleideten Soldaten standen in einer kleinen Gruppe auf dem Rasen von Flora’s Green, lachten und unterhielten sich. Außerdem waren zahlreiche Dorfbewohner erschienen, um den Männern Lebewohl zu sagen, die ihre Pflicht erfüllen und in den Krieg ziehen würden. Es herrschte fröhliche Aufbruchsstimmung.
Im Vordergrund war ein junges Pärchen zu sehen, das nah beisammenstand. Er trug eine kakifarbene Uniform, sie eine Schürze über ihrem einfachen Kleid.
»Spätestens an Weihnachten bin ich wieder zurück«, sagte er, während er ihre Hand nahm. »Wirst du auf mich warten, mein Herzblatt?«
Sie strich sich eine Strähne zurück unter ihre Haube. »Natürlich werde ich das«, versprach sie.
Sie küssten sich, zärtlich und leicht befangen.
»Sehr gut!«, ertönte es dann von der Seite, und die beiden lösten sich voneinander.
Lexi klatschte, genau wie die anderen Umstehenden. Sie durften zuschauen bei den ersten Proben zum Theaterstück, das im September aufgeführt werden sollte. Ein Theaterstück unter freiem Himmel, das extra für Heligan geschrieben worden war. Zwei junge Schauspieler verkörperten die Hauptakteure: eine junge Wäscherin, die im Herrenhaus arbeitete, und einen Gärtnerlehrling, der bald in den Krieg ziehen würde. Sie wurden durch eine große Schar von Freiwilligen aus den benachbarten Gemeinden ergänzt, deren Kleidung aus dem Kostümfundus oder aus privaten Sammlungen stammte. Unter den Darstellern der jungen Soldaten war auch Ben, was Lexi natürlich am meisten freute.
Nach ein paar weiteren Durchgängen rief der Regisseur die Hauptdarsteller zu sich, um die nächste Szene mit ihnen zu besprechen, während die Statisten Pause hatten.
Ben nutzte die Gelegenheit und ging zu Lexi.
Sie musterte ihn anerkennend. »Du machst dich wirklich gut in der Uniform.«
Er schob die Arme nach vorne und wieder zurück, dann ließ er die Schultern kreisen. »Aber sie passt nicht richtig. Sie ist um Schultern und Brust herum ein bisschen zu eng. Ich hab immer das Gefühl, nicht richtig Luft holen zu können.« Er sah Lexi erwartungsvoll an.
»Was?«, fragte sie irritiert.
»Ich hatte gehofft, du sagst jetzt, ›Alles kein Problem, ich kann dir die Uniform gerne etwas weiter machen‹.«
Sie lachte. »Sorry, aber das kann ich nicht. Ich bin mit Müh und Not in der Lage, einen Knopf anzunähen. Aber mehr geht nicht. Ich kann nicht mal eine Nähmaschine bedienen.«
Er seufzte. »Dann muss ich also doch meine Mutter darum bitten.«
»Ich bin mir sicher, sie wird das liebend gern für dich tun.«
»Ich weiß. Bedeutet halt nur wieder ein Wochenende ohne dich.«
»Du bist so süß. Aber ich werde schon klarkommen.«
»Sicher?«
»Sicher.«
Sie küssten sich. Dann sah er auf seine Armbanduhr, die nicht so recht zu der alten Uniform passen wollte. »Mist, ich muss los. Gleich fängt meine erste Führung an.«
In dieser Woche begannen die Veranstaltungen zu den Jubiläumsfeierlichkeiten – Heligans Wiedereröffnung jährte sich zum dreißigsten Mal. Den Anfang machten einige Führungen, unter anderem dazu, wie in früheren Zeiten Landwirtschaft betrieben wurde. Ben war erstmals auch einer der Guides. Mit einer Besuchergruppe würde er ins Lost Valley, das Verlorene Tal, gehen, das sich unterhalb des Dschungels erstreckte und das früher Alter Wald genannt worden war.
»Aber vielleicht solltest du vorher die Uniform ausziehen«, schlug Lexi vor. »Könnte sonst deine Zuhörer etwas verwirren.«
Ungeachtet des Jubiläums duldete das Gartenjahr in Heligan keine Pause.
Ein Team von Gärtnern war mit der Aussaat von Gemüse und Blumen beschäftigt, um den Garten nach dem Winter allmählich wieder zum Leben zu erwecken.
Im Lost Valley wuchsen Primeln und gelb leuchtende Narzissen entlang der Wege, im trockenen Laub unter den Bäumen suchten Vögel nach Futter.
Die Magnolienbäume standen in voller Pracht, und es gab einen Rundgang zu den historischen Sträuchern wie Kamelien und Rhododendren, die schon seit mehr als hundert Jahren in Heligan wuchsen.
Im Pfirsichhaus mit den großen Glasscheiben sahen die ersten blühenden Pfirsich- und Aprikosenbäume aus, als wären sie mit zartrosa Zuckerwatte bedeckt. Da die Bienen so früh im Jahr noch zu selten unterwegs waren, wurden die empfindlichen Blüten jedes Jahr vorsichtig von einigen Heligan-Mitarbeitern mit einem feinen Pinsel von Hand bestäubt.
Im Teich des Italian Garden trieb eine graubraune Masse in dicken Klumpen im Wasser. Mehrfach kam es vor, dass Lexi von Besuchern danach gefragt wurde, und dann war sie stolz, fachkundig Auskunft geben zu können: dass es sich bei der klumpigen Masse um Froschlaich handelte und dass aus den vielen Hunderten von Eiern demnächst Mini-Kaulquappen schlüpfen würden.
Am siebzehnten März war St Patrick’s Day, der irische Nationalfeiertag, und in diesem Jahr war dafür eine besondere Aktion geplant: Etliche Heligan-Mitarbeiter hatten sich bereit erklärt, einen Teil des Gartens auf originelle Weise zu schmücken. Darunter auch Cait, die es sich nicht hatte nehmen lassen, neben ihrem stressigen Job in der Cafeteria noch beim Dekorieren zu helfen.
»He, ich bin Irin«, hatte sie gesagt. »Und wenn der St Patrick’s Day ausnahmsweise mal in Heligan gewürdigt wird, dann ist es ja wohl Ehrensache, dass ich dabei mitmache.«
Ein weiträumiger Bereich des Gartens wurde mit grünen Girlanden verziert. Außerdem brachten sie an einigen Baumstämmen in verschiedenen Höhen farbige Elfentürchen an. Auch die Umgebung der kleinen Türen wurde liebevoll und individuell geschmückt: Winzige Wimpelketten erstreckten sich von Ast zu Ast, da gab es Miniatur-Gießkannen, -Fahrräder und -Wäscheleinen, an denen zwergenhafte Kleidungsstücke hingen. Zu manchen Türchen führte eine filigrane Strickleiter am Stamm entlang, andere waren über einzelne Stufen erreichbar, und wieder andere waren direkt am Boden angebracht.
Lexi befestigte ein Kleeblatt aus Holz an einer oben spitz zulaufenden grün gestrichenen Tür und legte eine winzige rote »Willkommen«-Fußmatte davor. Daneben kamen eine kleine Holzbank, eine Blumenvase und ein Briefkasten mit der Aufschrift »Fairy Mail«.
Hinter jedem Türchen wohnte eine bestimmte Elfe, wie die am jeweiligen Baum aufgehängten Schilder erläuterten. Da gab es eine wasserliebende Elfe, die für die Teiche zuständig war, eine Blattelfe, die an jedem Baum neue Blätter entfaltete, und eine, die jeden Morgen die ersten Sonnenfunken einfing, sobald sie auf den Boden fielen. Lexi mochte am liebsten den viel beschäftigten Elfenrezeptionisten, der sich um die Reservierungen im Insektenhotel kümmerte, das ganz in der Nähe stand. Dieses Hotel, hieß es auf dem dazugehörigen Schild, sei stets gut besucht, und der Rezeptionself arbeite immer sehr fleißig.
»Was meinst du, was deine Tante Filly hierzu sagen würde?«, fragte Ben, während er eine der winzigen Strickleitern am Stamm befestigte. »Das würde ihr doch sicher gefallen.«
»Sie würde es lieben!«, bestätigte Lexi. »Sie hat ja früher selbst immer behauptet, in Heligan lebten Elfen.«
Vor wenigen Wochen hatten sie beide Lexis Großtante in einem Seniorenheim in Devon besucht. Die alte Dame war inzwischen dement, aber noch immer von derselben liebenswerten, leicht versponnenen Art, die Lexi früher schon so an ihr gemocht hatte. Als Lexi ein Kind gewesen war, hatte Filly sie einmal mit nach Heligan genommen, und Lexi war sofort verzaubert gewesen – vermutlich einer der Gründe, warum es sie vor einem Jahr hierhergezogen hatte.
Als alle Bäume fertig geschmückt waren, versammelten sich die daran Beteiligten auf einer kleinen Lichtung. Cait verteilte eine mitgebrachte Ladung selbst gebackener Cornish Pastys an die Anwesenden. Alle griffen zu, nur Lexi lehnte dankend ab.
»Lexi weigert sich, welche zu essen«, stichelte Cait.
»Aber sie sind gut!«, erklärte Orlando nach einem herzhaften Biss in die gefüllte Teigtasche.
»Das sind sie ja auch«, sagte Lexi. »Aber nachdem ich mich eine Woche fast ausschließlich davon ernährt habe, muss ich auch mal was anderes essen.«