Heligan Gardens, März
Lexi war allein in der Wohnung, die sie sich mit Cait teilte. Nur Nelson, Caits dreibeiniger schwarzer Kater, leistete ihr Gesellschaft. Er hatte es sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht und schaute hinaus auf den Hafen von Mevagissey, der von einem weißen Leuchtturm bewacht wurde. Ben war über das Wochenende zu seiner Mutter gefahren, die ihm die zu enge Uniform ändern wollte, Cait war irgendwo bei Freunden, und so wollte Lexi die Zeit nutzen, um zu arbeiten.
In wenigen Wochen würde die erste ihrer drei Ausstellungen zu Heligans Geschichte eröffnet werden. Dafür und für die zweite Ausstellung, die einen Monat später starten sollte, hatte sie alles zusammen, aber für den dritten Teil brauchte sie noch immer einiges an Informationen.
Wie häufig in den vergangenen Wochen ging sie routinemäßig zuerst auf die Facebook-Seite von Heligan, um nachzusehen, was es Neues gab. Sie vergrößerte die Ansicht, dann erstarrte ihre Hand mitten in der Bewegung über dem Mousepad.
Auf dem neuesten Bild auf der Seite war sie selbst zu sehen. Sie und Ben, wie sie beide, ganz versunken in ihre Arbeit, eines der kleinen Elfentürchen schmückten.
Das musste Orlando gewesen sein. Er hatte mit dem Handy fotografiert, daran erinnerte sie sich jetzt wieder. Aber sie war zu abgelenkt von dem ganzen Drumherum gewesen, als dass sie größer darauf geachtet hätte. Wie hatte sie bloß so unvorsichtig sein können?
Lexis Herz setzte für einen Schlag aus, dann begann es wie rasend zu klopfen.
Sie war auf einem Foto. Im Internet. Wo jeder, der ein wenig Ahnung von sozialen Medien hatte, sie finden konnte.
Wo Rob sie finden konnte.
Die Symptome einer Panikattacke, die sie lange nicht mehr durchgemacht hatte, setzten ein: ein Strudel aus Angst und Hilflosigkeit, bei dem sich alle Muskeln ihres Körpers anspannten. In ihrem Gehirn begann die altbekannte Dauerschleife zu laufen.
Rob. Bislang war es ihr gelungen, ihm zu entkommen. Aber sie wusste, dass er noch nicht aufgegeben hatte. Im vorigen Jahr hatte er ihr einen kurzen Drohbrief geschickt, der per Nachsendeantrag zu ihr gekommen war, und nicht lange darauf hatte er per Skype Kontakt mit ihren Eltern aufgenommen, die eine Tauchschule auf den Malediven führten. Danach hatte er sich zwar nicht mehr gemeldet, aber die Gefahr war natürlich immer noch da.
Ihr Herz hämmerte, in ihrer Brust verkrampfte sich alles, das Atmen fiel ihr immer schwerer. Was konnte sie nur tun? Wer konnte ihr helfen?
Ben war eine Stunde Fahrt entfernt bei seiner Familie im Norden Cornwalls, und Cait war auch nicht da. Lexi war allein. Ganz allein mit einer Scheiß-Panikattacke.
Was hatte Ben ihr vor vielen Monaten in einer ähnlichen Situation gesagt?
Atmen. Rückwärtszählen. Warten.
Okay.
Luft holen. Langsam. Und ausatmen.
Zwanzig. Pause.
Ein. Aus. Neunzehn. Pause.
Nur darauf konzentrieren. Atmen. Zählen. Pause.
Achtzehn.
Siebzehn.
Sechzehn.
Allmählich kamen die Vernunft und das klare Denken zurück zu ihr. Sie war hier sicher. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle.
Atmen. Fünfzehn. Pause.
Sie schreckte auf, als ein lautes Schnurren an ihr Ohr drang und sich ein flauschiger, warmer Katzenkörper an ihrer Schulter rieb. Immerhin war sie doch nicht ganz allein. Sie atmete erneut tief durch, zählte, wartete, bis ihr rasender Herzschlag sich weiter verlangsamt hatte.
»Das Foto kann noch nicht lange online sein«, sagte sie schließlich zu dem Kater, der sie mit seinen rätselhaften gelben Katzenaugen ansah.
»Nein«, bestätigte sie sich selbst. »Immerhin haben wir erst vor zwei Tagen die Elfentürchen angebracht.«
Nelson verzog sich wieder. Offenbar war diese einseitige Diskussion unter seiner Würde.
Lexi kontrollierte das Foto im Internet erneut. Und richtig: Dem Veröffentlichungsdatum nach war es gerade mal wenige Stunden im Netz. Und man musste schon wissen, wo man suchen musste, um es zu finden.
Für einen Moment wallte Zorn in ihr auf. Zorn auf Orlando, der das Bild gemacht hatte, Zorn auf wen auch immer, der es auf die Facebook-Seite gesetzt hatte. Und vor allem Zorn auf sich selbst, weil sie nicht besser aufgepasst hatte.
Sie wurde nachlässig. Sie durfte nicht nachlässig werden.
Immerhin war sie nicht namentlich auf der Seite genannt. Dennoch musste sie dringend etwas tun.
Ob sie Orlando anrufen sollte? Aber der würde ihr vermutlich auch nicht weiterhelfen können. Nein, sie musste sich direkt an den Administrator der Seite wenden.
Noch immer leicht zittrig suchte sie auf der Facebook-Seite nach einer Kontaktadresse. Kaum hatte sie diese gefunden, wählte sie auch schon die angegebene Nummer.
In ihrer Aufregung vertippte sie sich, fluchte leise und gab die Nummer erneut ein, diesmal langsamer.
Es klingelte. Einmal. Zweimal. Und wenn jetzt niemand da war? Oder niemand, der ihr helfen konnte? Es war schließlich Samstag.
Dann hob jemand ab. Und es war tatsächlich der zuständige Admin. Lexi war so erleichtert, dass ihr erst jetzt aufging, wie seltsam sich ihr Ansinnen anhören musste. Aber der Mann – er nannte sich Freddie – am anderen Ende der Leitung machte einen netten Eindruck und schien überhaupt recht entspannt zu sein. Kurz überlegte sie, ob sie ihm irgendeine abenteuerliche Geschichte auftischen sollte, aber dann entschied sie sich für die Wahrheit. Sie hatte schließlich nichts verbrochen. Und so erzählte sie Freddie in aller Eile, dass ihr brutaler Ex-Freund sie stalke, dass er sie hier auf keinen Fall finden dürfe und ob Freddie das Foto bitte, bitte von Heligans Facebook-Seite entfernen könne. Sie wollte ihm noch mehr erklären, als Freddie sie unterbrach.
»Lexi, wenn du nicht willst, dass dein Foto auf unserer Seite ist – kein Problem, ich lösche es wieder.«
»Ja, bitte. Vielen, vielen Dank!«
»Ich nehme an, ich soll es auch von Insta und Twitter nehmen?«
»Oh. Ja, das natürlich auch.« Daran hatte sie gar nicht gedacht.
»Wird sofort erledigt. Dann kannst du wieder ruhig schlafen.« Sie hörte, wie er anfing zu tippen. »Ach, und kleiner Tipp von mir: Geh zur Polizei damit.«
»Klar«, sagte Lexi. »Mach ich.«
Das würde sie vermutlich nicht. So etwas hatte sie in der Vergangenheit schon getan, aber bis auf ein paar dumme Sprüche und eine einstweilige Verfügung, die inzwischen ausgelaufen war, hatte es nichts gebracht. »Tausend Dank, Freddie. Du hast was bei mir gut.«
Er lachte. »Ich nehm dich beim Wort. Bye, Lexi. Und keine Sorge, ich kümmere mich drum – bin schon fast damit durch.«
Und wirklich: Als sie ein paar Minuten später die Seite erneut aufrief, war das Foto verschwunden und durch ein anderes ersetzt worden, das einen Baum mit Elfentürchen, aber ohne Personen zeigte. Ebenso auf Twitter und Instagram.
*
Mit dem April hielt endgültig der Frühling Einzug in Heligan. Kurz nach Lexis Geburtstag explodierten die Gärten geradezu vor Farbe. Wohin man auch schaute, gab es neues Leben. Die ersten Blumen und Gemüsepflanzen wurden ins Freiland gesetzt, und am Rand der Rasenfläche von Flora’s Green boten die dunkelrot blühenden, riesigen Rhododendren einen spektakulären Anblick. Wo die Gärtner im Pfirsichhaus einen Großteil der Blüten von Hand bestäubt hatten, waren jetzt die ersten Fruchtansätze zu sehen. Unter den Feldhecken blühten Massen von Primeln, und im Lost Valley wand sich der Weg durch ein Meer blauer Hasenglöckchen, die den gesamten Waldboden bedeckten.
Jetzt war auch die Zeit für Nachwuchs in der Tierwelt. Im Teich des Italian Garden wimmelte es inzwischen von winzigen Kaulquappen, und es wurden Schilder aufgestellt, auf denen »Vorsicht: Froschbabys« stand.
Auch die Lämmersaison war in vollem Gange. Auf Heligans Farm waren in der vergangenen Woche drei Jungtiere geboren worden, und weitere würden folgen. Genau wie viele der Besucher ging Lexi gern in die Scheune, um nach der Herde trächtiger Mutterschafe und ihrer immer größer werdenden Schar flauschiger kleiner Lämmer zu sehen.
Nach einem dieser Besuche passierte sie den Wunschbrunnen und die etwas versteckt gelegene Grotte, die schon mehr als zwei Jahrhunderte alt war, und schlug den Weg in Richtung Melonengarten ein.
Am Eingang zum Blumengarten blieb sie stehen und drehte sich um. Von hier aus konnte sie Heligan House sehen, das sich in vornehmem Weiß zwischen den Büschen erhob. Das Haus war seit etlichen Jahren in Privatbesitz und durfte nur von den Eigentümern und Mietern betreten werden.
Sie verglich den aktuellen Anblick mit dem alten Schwarz-Weiß-Foto in ihrer Hand, das sie mitgenommen hatte. Die Aufnahme war von etwas weiter entfernt und aus einem anderen Winkel gemacht worden, zeigte aber dasselbe Gebäude. Das Foto stammte von 1910, vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Etliche gut gekleidete Gäste waren zu sehen, die sich bei einer Gartenparty auf dem Rasen und dem Platz vor dem Haus amüsierten. Herren mit Hüten und in dunklen Anzügen, die Damen in langen, zumeist hellen Sommerkleidern und ebenfalls fast alle mit Hut. Offenbar hatten die Tremaynes auch in dieser letzten Generation gerne Gäste gehabt. Und offenbar war es damals Mode gewesen, die Häuser mit Efeu bewachsen zu lassen – jedenfalls war Heligan House auf jeder der alten Fotografien, die sie sich angesehen hatte, meist bis zum obersten Stockwerk mit Efeu bedeckt.
Sie steckte das Foto vorsichtig wieder zurück in ihre Tasche. Noch immer kam es ihr seltsam vor, dass es Aufnahmen von Heligan und seinen Bewohnern, Gästen und Arbeitern aus jener Zeit gab. In den vielen Monaten, die sich Lexi inzwischen mit Heligans Geschichte beschäftigt hatte, waren ihre Quellen hauptsächlich Geschriebenes gewesen. Einzig von Henry Hawkins Tremayne, der die Gärten Ende des achtzehnten Jahrhunderts angelegt hatte, hatte sie ein gemaltes Porträt gefunden.
Sie ging weiter, durch den prächtig blühenden Blumengarten, vorbei am alten Büro des Obergärtners bis zu dem von einer niedrigen Mauer umgebenen Melonengarten. Unter den gläsernen Dächern der Treibhäuser war eine Fülle von Gemüse- und Blumensämlingen zu sehen.
Hier war auch ein Schwalbenpärchen eifrig dabei, direkt unterhalb des Dachs des alten Wirtschaftsgebäudes ein Nest zu bauen. Eine ganze Weile lang beobachtete Lexi fasziniert die geschickten Vögel, wie sie zwitschernd hin und her flogen und lehmige Erde zu ihrem Nistplatz brachten. Dann zwang sie sich dazu weiterzugehen – sie wollte schließlich noch etwas erledigen.
Aus der Helligkeit des Melonengartens trat sie ein in die schattige Kühle des schmalen Donnerbalken-Raums, jenes Ortes, den die Gärtner früher als Toilette benutzt hatten und der inzwischen offiziell als Living Memorial, »Lebende Gedenkstätte«, anerkannt war.
Lexi war natürlich schon oft hier gewesen, aber an diesem Tag wollte sie sich die hintere Wand dieses Raums noch einmal genauer ansehen. Mehr als hundert Jahre war es jetzt her, dass jemand dort auf die Kalksteinwand geschrieben hatte: Kommt nicht her zum Schlafen oder Schlummern. Darunter fanden sich mit Bleistift die Unterschriften einer Reihe von Arbeitern und Gärtnern Heligans.
Einige Namen waren gut zu entziffern: W. Guy, R. Barron, C. Dyer. Dann wurde es unleserlicher, die Schrift blasser. Ziemlich weit unten begann ein Name mit V. und ging dann weiter mit Pa… Das war vermutlich Vincent Payne, Bens Vorfahr, der Großvater seines Großvaters. Direkt darunter stand noch ein weiterer abgekürzter Vorname, den man mit etwas Fantasie als N. deuten konnte. Der Nachname war leider nicht mehr lesbar. Lexi hatte die Unterschriften natürlich fotografiert und vergrößert, aber auch dann war der letzte Name nicht zu entziffern gewesen. Möglicherweise begann er mit Be oder Ba, aber das war reine Spekulation.
Ganz unten fand sich noch die Inschrift: August 1914. Fünfzehn Männer aus Heligan hatten sich in diesem Monat freiwillig gemeldet und waren in den Krieg gezogen. Nur fünf von ihnen waren zurückgekehrt.
Behutsam streckte Lexi die Hand aus und legte sie auf die Wand mit den Unterschriften, die jetzt von einer Glasplatte bedeckt war. Wie mochte es wohl damals gewesen sein, am Vorabend des Großen Krieges, als die Welt noch nicht wusste, welches Beben sie bald erschüttern würde?