Heligan Gardens, Juli 1914
In den verschiedenen Bereichen des Gartens und der übrigen Gutsflächen von Heligan arbeiteten bis zu dreiundzwanzig Männer, die das weitläufige Gelände und die üppigen Obst- und Gemüsegärten pflegten. Der tägliche Appell war Vincent zu einer lieb gewordenen Routine geworden: Jeden Morgen versammelten sich alle vor dem Büro des Obergärtners, und dann trug Mr Griffin säuberlich in sein Arbeitsbuch ein, wer an diesem Tag welche Tätigkeiten zu erledigen hatte.
Vincent liebte die Arbeit in den Gärten. Zurzeit war er morgens meist damit beschäftigt, Tomatenpflanzen auszugeizen und festzubinden sowie zusammen mit einem der Lehrlinge die Pflanzen im Gewächshaus zu wässern. Später pflanzte er gemeinsam mit einigen Kollegen Winterporree im Küchengarten, jätete Unkraut in den Erbsenreihen oder erntete die ersten Saubohnen. Ein ganzer Tag Mitte Juli wurde dazu verwendet, die zahlreichen neu eingetroffenen Alpenpflanzen in den lang gestreckten Schluchtgarten zu setzen, der damit ein bisschen wie im Hochgebirge wirken sollte.
Auch Nicholas hatte seine Aufgabe gefunden. Täglich war er mehrere Stunden in Mr Tremaynes sonnigem Eckchen beschäftigt – dem Italienischen Garten, wie er und der Squire den mediterran gestalteten Platz inzwischen nannten.
Manchmal arbeiteten Vincent und Nicholas auch zusammen. So wie an diesem Morgen, als das Unkraut auf der Einfahrt vor Heligan House entfernt werden musste. Ein Stück weiter unterhalb kehrte ihr Kollege Charles den Weg. Jeden Tag tat er das, mit ruhigen, methodischen Bewegungen. Charles war Mitte dreißig und schon lange in Heligan beschäftigt. Er war verheiratet und wohnte in einem kleinen Häuschen auf dem Gelände.
Nicholas stieß Vincent in die Seite und wies mit dem Kopf zu den Ställen. »Schau«, sagte er, »die beiden Turteltäubchen.«
Als Vincent in die angegebene Richtung blickte, sah er gerade noch seinen Gärtnerkollegen Tommas mit dessen Herzensdame Hailee hinter einer Ecke verschwinden. Hailee, die Vincent auf die Stellung als Küchenhilfe aufmerksam gemacht hatte. Vor Kurzem hatte es einiges an Aufregung in Heligan gegeben: Es hieß, Hailee sei verhaftet worden, weil sie zusammen mit Mrs Tremayne an einer Suffragettenversammlung teilgenommen habe, die aus dem Ruder gelaufen sei. Mrs Tremayne sei unbeschadet nach Hause gekommen, aber Hailee habe zwei Tage und Nächte auf dem Polizeirevier verbringen müssen.
Tommas hatte Vincent im Vertrauen erzählt, dass er und Hailee heimlich verlobt waren und dass sie heiraten wollten, sobald die Zeiten wieder etwas ruhiger geworden waren.
Wonach es momentan leider nicht aussah.
Im Büro des Obergärtners lagen stets ein paar Zeitungen, die sie alle lesen durften. Daher wussten sie, dass es in Europa gärte, seit Ende Juni in Sarajewo der österreich-ungarische Thronfolger von einem nationalistischen Serben ermordet worden war. Inzwischen hatten mehrere Länder einander deswegen den Krieg erklärt, und England bereitete sich darauf vor, seinen Bündnispartnern in diesem Konflikt beizustehen.
*
Vincent war auf dem Weg in den Italienischen Garten. Am Eingang blieb er stehen und beobachtete Nicholas dabei, wie er in die Ritzen um die Steinplatten, die das Wasserbecken umgaben, duftende Kräuter pflanzte, ganz versunken in diese Tätigkeit. Zwei Bläulinge flatterten dabei sonnentrunken um ihn herum, und Vincent dachte daran, wie gut die hellblaue Farbe der Schmetterlinge zu Nicholas’ Augen passte. Von diesen Augen war er schon immer fasziniert gewesen. Meist waren sie von einem schattigen Schieferblau, aber wenn das Licht so wie jetzt hineinfiel, wurde die Farbe zu einem hellen, fast durchscheinenden Kristallblau.
Nicholas blickte auf. »Beobachtest du mich heimlich?«, sagte er mit einem Lächeln.
Vincent lachte auf. »Ich habe dich gesucht. Mr Griffin will, dass wir alle vor seinem Büro zusammenkommen.«
Auf dem freien Platz vor dem Büro des Obergärtners waren schon die meisten ihrer Kollegen versammelt. Und zu Vincents und Nicholas’ Überraschung war es nicht etwa Mr Griffin, der mit ihnen reden wollte, sondern Mr Tremayne.
Das konnte nur eines bedeuten.
»England ist in den Krieg eingetreten«, sagte der Squire.
Vor wenigen Tagen hatte das Deutsche Reich dem russischen Zarenreich den Krieg erklärt, und schon einen Tag später waren deutsche Truppen in Luxemburg und kurz darauf in Belgien einmarschiert. Natürlich würde England seinen Bündnispartner Belgien unterstützen.
»Und jetzt«, fuhr der Squire fort, »braucht unser Land tapfere Männer, die sich für den Dienst an der Waffe melden.« Er machte eine kurze Pause. »Ich werde natürlich nicht zurückstehen und mich ebenfalls registrieren lassen.«
»Ich melde mich freiwillig«, sagte Charles, seinen Besen noch in der Hand.
»Ich mich auch«, schloss Nicholas sich an.
Und bevor Vincent es sich anders überlegen konnte, erklärte er ebenfalls: »Ich mich auch.«
Am Ende war es mehr als die Hälfte der Gärtner und Arbeiter aus Heligan, die sich freiwillig gemeldet hatten.
*
Im Melonengarten türmten sich diesmal nicht Harken und Schaufeln, sondern prall gefüllte Rucksäcke. In einer halben Stunde würde es losgehen. Dann würden sie von St Austell aus mit dem Zug nach Salisbury Plain in Wiltshire fahren, wo man sie zu Soldaten ausbilden würde. Was vor ihnen lag – in den Krieg zu ziehen und ihr Land zu verteidigen –, würde ein großes Abenteuer werden. So dachten sie alle. Auch Vincent war erfüllt von einer Mischung aus Patriotismus und Übermut.
Mr Tremayne, der Squire, hatte sich ebenfalls gemeldet, aber zu seinem großen Verdruss, wie er freimütig zugab, wollte man ihn nicht mehr; obwohl er früher Offizier gewesen war, hielt man ihn jetzt, mit fünfundvierzig, für zu alt, um an die Front zu gehen.
An diesem Tag hatten sich alle vor dem schmalen Donnerbalken-Raum versammelt. Jeder von ihnen hatte einen frischen Haarschnitt und trug seine beste Kleidung. Jetzt trat einer nach dem anderen an die rückwärtige Wand des kleinen Raums und schrieb dort mit Bleistift seinen Namen hin, dann wurde der Stift an den Nächsten weitergereicht. Als einer der Letzten war Vincent an der Reihe. Er schrieb seinen Namen an die Wand, dann gab er den Stift an Nicholas weiter, der sich ebenfalls dort verewigte.
»Schreib das Datum hin«, schlug Vincent vor, und sein Freund nickte.
August 1914, schrieb er in ordentlichen Buchstaben und Zahlen unter die Namen und fuhr noch mehrmals mit dem Bleistift die Linien nach, damit es auch gut zu lesen war.
Zum Abschied schloss Mr Griffin sie alle nacheinander in die Arme, was Vincent bei diesem sonst so spröden Mann ziemlich überraschte.
»Kommt gesund wieder«, sagte der Obergärtner noch.
Vincent machte sich keine großen Sorgen. Es würde ein kurzer Feldzug werden, war überall zu hören. Bis Weihnachten wären sie alle bestimmt wieder zu Hause.