Salisbury Plain, Wiltshire, August 1914
In Wiltshire trafen die Heligan-Freiwilligen mit vielen Hunderten anderen Männern zusammen, die sich ebenfalls gemeldet hatten.
Nach ihrer Ankunft in den weitläufigen Kasernen von Salisbury Plain wurden sie auf ihre Tauglichkeit überprüft und medizinisch untersucht. Nicholas musste daraufhin eine unangenehme Stunde auf dem Zahnarztstuhl verbringen, während Vincent eine ähnliche Erfahrung zu seiner Erleichterung erspart blieb.
Sie hatten ihre zivile Kleidung abzugeben und bekamen ihre Uniformen: eine Hose in dunklem Kaki und eine ebensolche Uniformjacke, dazu kurze geschnürte Stiefel, über deren Schaft kakifarbene Wickelgamaschen gerollt wurden. Danach ging es zum Fotografen. Vincent warf seinem Freund einen verstohlenen Blick zu. Nicholas sah wunderbar aus in der Uniform.
In Salisbury Plain war für die neuen Rekruten fast der gesamte Tagesablauf durchorganisiert. Sie wurden früh mit einem Hornruf geweckt, dann ging es für anderthalb Stunden zum körperlichen Training. Danach gab es Frühstück, anschließend kam der Drill auf dem Exerzierplatz, wo sie lernten, zu marschieren und Vierergruppen zu bilden. Nach dem Mittagessen ging es zurück zum Drill. Abends war dienstfrei, dann hatten die Rekruten Zeit für sich und strömten in die umliegenden Kneipen, um dort zu trinken und sich zu amüsieren. Alles in allem kein schlechtes Leben.
Nach einigen Wochen wurde die Ausbildung erweitert. Sie erlernten die Grundlagen der Fortbewegung im Gelände und wurden in Nachteinsätze eingeführt, außerdem kamen Übungen an Schusswaffen und Grabenaushub dazu.
Im neuen Jahr würde es dann endlich an die Front gehen. Vincent konnte es kaum erwarten.
*
Ein feiner Regen prasselte auf die Zeltplane vor ihrem Unterstand. Ein Geräusch wie von tausend winzigen Perlen, dachte Vincent, während er das Blatt vor sich glattstrich.
Seit einigen Wochen waren sie nun in Flandern, einer Region in Belgien. Sie gehörten jetzt zur Leichten Infanterie des Duke of Cornwall. Gerade befanden sie sich in einem Schützengraben an der Westfront in der Nähe des Städtchens Ypern.
Ursprünglich hatte es geheißen, sie wären zu Weihnachten wieder zu Hause. Aber jetzt war es schon Ende Februar, und wie es aussah, würde sich dieser Krieg noch länger hinziehen.
Bislang war es recht friedlich an ihrem Abschnitt. Sicher, es war kühl und beengt, aber sie hatten es sich ein wenig gemütlich gemacht. Der Unterstand, in dem sie einen Großteil ihrer Zeit an der Front verbrachten, war mit Gardinen geschmückt, auf einem Tisch lagen Zeitungen mit Witzen und Bilderbögen, die sie in den langen Phasen des Nichtstuns und der Langeweile unterhielten.
Vincent ließ den Stift sinken und überlegte die nächsten Worte für seinen Brief. Dabei tastete er nach dem zweiteiligen Anhänger, der an einer Schnur um seinen Hals hing. Jeder britische Soldat hatte diese beiden Erkennungsmarken zu tragen: einen achteckigen grünen Anhänger, an dem eine kürzere Schnur mit einem runden roten Anhänger befestigt war. Auf den Marken waren Buchstaben und Zahlen eingeprägt – Dienstnummer, Nachname, der erste Buchstabe des Vornamens, Regiment und Rang. Die rote würde im Todesfall abgeschnitten werden, während die grüne am Leichnam des Gefallenen verblieb, um ihn zu identifizieren. Eine beunruhigende Vorstellung.
»An wen schreibst du?«, fragte Nicholas, während er eine Seite einer Patronenhülse breit klopfte. In den langen Wartezeiten waren viele Soldaten dazu übergegangen, aus Munitionsresten kleine Gebrauchsgegenstände herzustellen. Vincent hatte vor einigen Tagen aus einer explodierten deutschen Granate einen Blumentopf gebastelt, in dem jetzt ein kümmerliches Schneeglöckchen saß.
»An meinen Vater«, sagte er. »Ich denke, er sollte wissen, wo ich bin.«
»Grüß ihn von mir.«
Vincent nickte, schrieb aber nicht weiter. Das Verhältnis zu seinem Vater, der Bauer im Westen von Hampshire war, war auch nach dem Tod seiner Mutter nicht enger geworden. Vincent war der jüngste von drei Söhnen und daher nicht erbberechtigt, was ihm sein Vater schon früh klargemacht hatte. Er hatte seinen jüngsten Sohn auch nicht aufgehalten, als dieser so bald wie möglich das Elternhaus verlassen hatte.
Vincent legte den Stift zur Seite und beobachtete, wie sein Freund sein Werk begutachtete. »Was soll das eigentlich werden?«, fragte er.
Nicholas hielt die Patronenhülse hoch. »Ein kleines Messer. Oder vielleicht auch ein Brieföffner.«
Er fuhr fort, die Hülse zu bearbeiten.
Vincent nahm einen Schluck aus seinem Emaillebecher. Der Tee schmeckte stark nach Zwiebeln. Was kein Wunder war, da sie in ihrem Bataillon nur zwei Kessel zum Kochen hatten. In ihrem waren zuvor offenbar etwas mit Zwiebeln gekocht worden. Er zwang sich zu schlucken, aber dann ließ er angewidert den Becher sinken.
Auch das Essen hätte besser sein können. Die Rationen, die jeder Mann hier in den Schützengräben erhielt, bestand aus harten Keksen, Käse, Kondensmilch, Tee, Zucker, Marmelade und einem Brühwürfel. Außerdem gab es Corned Beef in Dosen und, natürlich, das bei ihnen allen verhasste Maconochie. Vincent stöhnte in Gedanken auf, als er an den Eintopf aus der Konservendose mit kaum erkennbaren fetten Fleischbrocken und Rüben in dünner Brühe dachte, die es auch heute wieder zu essen geben würde. Warm war es gerade so genießbar. Hatte man, wie oft in den Schützengräben, nichts zum Aufwärmen, war es ein »Totschläger«, wie Nicholas sagte. Da hielt Vincent sich lieber an die einfachen Kekse, die allerdings fast immer so hart waren, dass man sich die Zähne daran abbrechen konnte, wenn man das Backwerk nicht vorher in Wasser oder Tee einweichte.
Einmal hatten sie ein Lebensmittelpaket aus Heligan erhalten. Darin war neben Schokolade und Zigaretten auch ein Kuchen aus getrockneten Früchten gewesen. Sie hatten diese Leckerbissen unter allen aufgeteilt und sich wie im Himmel gefühlt.
»Achtung!«, hörte er Nicholas rufen, und im nächsten Moment flog ein Stiefel an Vincents Ohr vorbei und traf eine Ratte, die mit einem lauten Quieken hinter einen Stapel Bücher flüchtete.
»Verdammte Mistviecher«, schimpfte Nicholas. »Manchmal weiß ich nicht, ob wir gegen die Deutschen kämpfen oder gegen die Ratten.«
Die Nager waren eine Plage in den Unterständen. Ratten und Schlamm und Kälte.
Nicholas stand auf und holte seinen Stiefel. Er war barfuß.
»Du solltest auch deine Schuhe ausziehen«, sagte er.
»Warum? Es ist kalt.«
»Weil ich nicht will, dass dir die Füße absterben. Ich habe gestern mit Corporal Henderson gesprochen. Er sagte, einer seiner Männer hätte einen Grabenfuß entwickelt, weil er zu lange in nassen Schuhen gestanden hat. Erst tat der Fuß weh und schwoll an, dann färbte er sich schwarz, und schließlich mussten sie ihm den Fuß abschneiden. War sicher kein Vergnügen für den armen Kerl.«
Vincent sah ihn entsetzt an und beeilte sich, Stiefel und Strümpfe auszuziehen.
*
Es war Nacht. Vincent und Nicholas hatten Wachdienst, draußen im Schützengraben. Sie rauchten. Zigaretten zumindest gab es genug, jeder Soldat erhielt eine ordentliche Anzahl davon. Vincent hatte erst hier, an der Front, zu rauchen begonnen, und inzwischen mochte er es recht gern.
Zwei dünne Rauchfähnchen kringelten sich über ihnen und verloren sich in der Dunkelheit. Fast gleichzeitig waren sie mit Rauchen fertig, ließen die Zigaretten zu Boden fallen und traten sie aus.
Der Mond lugte hinter einer Wolke hervor, silbernes Licht fiel auf Nicholas’ Gesicht. Vincent hatte dieses Gesicht schon oft betrachtet, aber jetzt, in Mondlicht und Schatten, erschien es ihm wie der schönste Anblick auf Erden.
Als er Nicholas’ Blick begegnete, spürte er, wie etwas in ihm aufstieg. Etwas wie Verlangen, und gleichzeitig fühlte es sich an, als fiele er hinab ins Bodenlose. Er konnte kaum atmen.
Er hatte es sich lange nicht eingestehen wollen, aber jetzt, hier draußen allein mit ihm, wurde ihm klar, dass er in Nicholas verliebt war. Nein, mehr noch: Er liebte ihn.
Aber es war falsch, als Mann so für einen anderen Mann zu empfinden. Und sein Freund würde ihn vermutlich auslachen, wüsste er um Vincents Gefühle für ihn. Oder schlimmer noch: Womöglich würde er ihn verachten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Nicholas.
Vincent zwang sich zu einem lässigen Schulterzucken und nickte. »Natürlich.« Er griff nach seinem Gewehr. »Zeit für die Patrouille.«