Heligan Gardens, Anfang März 1915
Der Gemüsegarten bot einen traurigen Anblick. Die Felder lagen größtenteils noch brach, aber überall spross Unkraut, auch zwischen den Reihen mit Wintergemüse.
Hailee ging stöhnend in die Hocke, zog mit klammen Fingern ein paar Radieschen aus der Erde und legte sie in den mitgebrachten Korb, dann machte sie sich daran, ein paar Schwarzwurzeln auszugraben. Trotz der klaren Vorfrühlingsluft und des blauen Himmels fühlte sie sich nicht sonderlich gut. Seit Längerem plagten sie Rückenschmerzen, und in ihren Eingeweiden schien an diesem frühen Nachmittag eine Bleikugel zu sitzen. Womöglich war ihr die Bohnensuppe oder der Pudding von heute Mittag nicht bekommen. Wenn es nicht besser wurde, würde sie sich nachher von Mrs Hammett ein paar Kräutertropfen geben lassen. Das hatte bisher immer geholfen.
Sie war jetzt nicht mehr nur Küchenmädchen, sondern auch Aushilfsgärtnerin, genau wie einige andere der häuslichen Bediensteten. Seit dem Weggang der Gärtner, die in den Krieg gezogen waren, fehlte es an allen Ecken und Enden an Arbeitskräften. Nur Lizzie, das frühere Küchenmädchen, war nach dem Tod ihres Vaters, den sie in seinen letzten Tagen gepflegt hatte, wieder zurückgekehrt. Auch Lizzie wurde jetzt überall dort eingesetzt, wo es nötig war. Hailee war dankbar für diese zusätzliche Hilfe. In den vergangenen Wochen war sie noch lieber draußen als in der Küche, wo sie neuerdings die vielen Essensgerüche störten.
Sie richtete sich auf, als sie schwere Schritte näherkommen hörte. Mr Griffin, der Obergärtner. Vor dem Krieg war er verantwortlich für dreiundzwanzig Männer gewesen. Damals hatte er sie nicht einstellen wollen, als sie sich als Gartenhelferin bei ihm beworben hatte. Jetzt arbeitete sie doch für ihn.
»Hier drüben könnten wir noch ein paar weitere Rüben säen«, sagte er und deutete auf eine noch unbearbeitete Fläche am Rand des Gemüsebeets.
Hailee nickte und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Mr Griffin war alleinstehend und wohnte in einem Cottage auf dem Heligan-Gelände, nicht weit von seinem Büro. Sie hatte noch immer großen Respekt vor ihm, aber inzwischen erschien er ihr nicht mehr ganz so furchteinflößend wie früher. Und auch wenn er es nicht ausdrücklich sagte, so hatte Hailee doch das Gefühl, dass er ihre Hilfe zu schätzen wusste.
Manchmal, wenn ihre knappe Zeit es erlaubte, ging sie kurz in den kleinen Raum mit dem Donnerbalken, auf dessen weiß getünchter Rückwand viele mit Bleistift geschriebene Namen standen. Die Namen derer, die in den Krieg gezogen waren.
Solange der Krieg dauerte und seine Gärtner und Arbeiter nicht gesund heimgekehrt seien, würde er diese Wand nicht überstreichen, hatte Mr Griffin Hailee gesagt. Er hatte auch eine Landkarte von Europa an eine Wand seines Büros gehängt. Dort hatte er mit farbigen Fähnchen markiert, wo die Heligan-Gärtner jetzt waren. Die meisten von ihnen befanden sich in Belgien, in der Nähe eines Städtchens namens Ypern.
Auch Tommas war dort. Er hatte Hailee schon mehrere Briefe geschrieben, in denen er ihr von seiner Ausbildung und dem Leben in den Schützengräben und hinter der Front berichtete – Briefe, die sie hütete wie einen Schatz.
In den ersten Wochen, als Tommas und die anderen Gärtner fort waren, war es ihr nicht gut gegangen. Sie war oft erschöpft gewesen und bei dem kleinsten Anlass in Tränen ausgebrochen. Inzwischen ging es ihr etwas besser, und die viele Arbeit in Haus und Garten half ihr, sich abzulenken.
Auch die Suffragettenbewegung lag seit Beginn des Krieges auf Eis. Jetzt ging es nicht mehr um Frauen-Wahlrecht, sondern darum, die Männer, die für England kämpften, zu unterstützen. Während Ada Tremayne in Heligan blieb und sich dort um alles Anfallende kümmerte, war ihr Bruder oft in London, um weitere Männer für die Infanterie anzuwerben.
An jenem Tag, als Hailee mit Ada auf der Suffragettenversammlung gewesen war, die so schrecklich aus dem Ruder gelaufen war, hatte sie ihren Hut verloren. Kurz danach hatte Ada ihr einen neuen Hut geschenkt, viel schicker als der alte. Aber momentan konnte Hailee den neuen Hut nur noch selten ausführen. Eigentlich nur noch sonntags zum Kirchgang.
Sie arbeitete auch weiterhin in der Küche, aber dort war jetzt viel weniger zu tun als früher. Nur noch selten kamen Gäste. Meist war es jemand von der Familie, wie Mr Tremaynes andere Schwestern. Mittlerweile waren sogar vier Neffen des Squires im Krieg, nur der jüngste, Ralph, ging noch zur Schule.
All das erfuhr Hailee von ihrer Zimmernachbarin Demi, die für ihr Leben gern tratschte. Demi beschwerte sich regelmäßig jeden Abend bei Hailee darüber, dass sie so viel arbeiten müsse. Hailee schwieg dazu meist. Sie alle hatten mehr zu tun, schließlich waren die Aufgaben jetzt auf die verteilt worden, die noch da waren.
Demi war unter anderem dazu eingeteilt worden, die Blumenarrangements in den Zimmern von Heligan House zu übernehmen – eine Arbeit, die sie nicht sonderlich gern erledigte.
»Und dann immer dieser schreckliche Papagei!«
»Was denn für ein Papagei?«
»Der im Speisesaal.« Demi verdrehte die Augen. Sie lag in ihrem Bett in dem kleinen Dachzimmer, das sie sich mit Hailee teilte. »Er sitzt in einem großen Käfig am Fenster, und jedes Mal, wenn ich hereinkomme, ruft er: ›Hallo, mein Name ist Napoleon. Wie heißt du?‹«
»Napoleon? Ein lustiger Name.«
»Ja, deswegen lachst du auch so sehr darüber«, gab Demi trocken zurück. Sie warf Hailee einen kurzen, prüfenden Blick zu. »Du vermisst ihn wohl sehr, deinen Tommas?«
Hailee nickte. Sie hatte beschlossen, vorerst niemandem zu erzählen, dass sie und Tommas verlobt waren – wer wusste schon, wozu das noch führen könnte. Es fiel ihr zwar schwer, vor allem vor Demi zu schweigen, aber sie wusste, was für eine Klatschbase ihre Freundin war, und so hielt sie den Mund.
»Es geht ihm sicher gut.« Demi drehte sich auf die Seite, um Hailee genauer anzusehen. »Habt ihr es eigentlich schon mal … du weißt schon … miteinander gemacht?«
»Demi!«
»Was denn?« Ihre Kollegin zog einen Schmollmund. »Ich dachte nur, so vernarrt, wie Tommas in dich ist, wird er sicher nicht lange damit warten wollen.«
Tommas und Hailee waren inzwischen noch mehrmals miteinander intim gewesen – meist im Alten Wald, aber einmal auch in dem dschungelartigen Talgarten zwischen Farnen und Palmen. Nach dem ersten Mal, als es hauptsächlich wehgetan hatte, war es besser geworden, und ein- oder zweimal hatte sie sogar Gefallen daran gefunden. Aber hauptsächlich tat sie es, weil Tommas es so sehr mochte. Und Tommas sagte, da sie nun verlobt waren, wäre das erlaubt.
*
Hailee liebte die Wege nördlich des Herrenhauses, die von etlichen alten, großen Rhododendronsträuchern gesäumt wurden. Jetzt im April standen sie in voller Blüte. Dann zeigten sich die verschiedensten Rottöne in riesigen Wolken, und das war ein atemberaubender Anblick. Hunderte von Bienen schwärmten um sie herum.
Diese Pflanzen, hatte Hailees Großvater ihr vor Jahren erzählt, stammten ursprünglich aus dem fernen Asien und waren vor etlichen Jahrzehnten als Samen von wagemutigen Pflanzenjägern bis nach England gebracht worden. Heligan war einer der ersten Gärten gewesen, die Rhododendren gezüchtet hatten.
Hailee ging langsam um einen der prachtvollen Sträucher herum und schaute nach verwelkten Blättern.
Sie blieb stehen, als sie plötzlich ein Schmerz durchfuhr. Ein krampfartiger Schmerz, der sie schier zerriss.
Für ein paar Sekunden stand sie ganz still, in der Hoffnung, dass es aufhörte. Aber das tat es nicht, im Gegenteil. Sie hielt sich an einem kleinen Baumstamm fest und unterdrückte mit Mühe einen Schmerzensschrei.
»He, Mädchen, was ist denn los?«
Oh Gott, wie peinlich: Mr Griffin stand plötzlich neben ihr.
»Es ist nichts«, stammelte sie. »Ich … muss etwas Schlechtes gegessen haben.«
Er wirkte besorgt. »Ich hole jemanden.«
»Nein, nein, das ist …« Nicht nötig, wollte sie sagen, aber Mr Griffin war schon außer Hörweite.
Hailee bemühte sich, langsam und gleichmäßig zu atmen. So hatte sie den Schmerz etwas besser unter Kontrolle.
Es dauerte nicht lange, und Mr Griffin kehrte zurück, mit Ada Tremayne in seiner Begleitung. So schnell, wie die beiden bei ihr waren, war Ada vermutlich wieder beim Bogenschießen im Sonnenuhrgarten gewesen.
»Hailee, um Himmels willen, was ist denn passiert?«
Hailee hielt sich den Bauch. »Vermutlich etwas Schlechtes gegessen«, murmelte sie, während ein neuer Krampf ihren Leib durchzog.
Hoffentlich war es nur das. So jämmerlich, wie sie sich gerade fühlte, war es womöglich etwas Schlimmeres.
Ada hielt sich nicht lange mit Fragen oder Überlegungen auf, sondern entschied: »Sie kommen mit mir. Mr Griffin, wären Sie vielleicht so freundlich und würden die junge Frau ins Haus bringen?«
Ins Haus? Hailee wollte abwehren. Das alles war ihr unglaublich unangenehm. Nicht nur, dass sie Ada mit ihren Beschwerden behelligte, sondern auch, dass Mr Griffin sie jetzt ohne viel Federlesen wie ein Kind auf seine Arme nahm und Ada zum Haus folgte. Aber sie fühlte sich zu elend, um überhaupt irgendetwas zu sagen.
Mr Griffin trug sie in die Eingangshalle, wo eine große Treppe begann. Der Geruch von Schmierseife und Bienenwachs umfing sie.
»In mein Zimmer«, sagte Ada zu Mr Griffin. »Die Treppe hinauf, dann in den Westflügel, den Gang entlang und die zweite Tür rechts.« Bevor Hailee protestieren konnte, durchlief sie ein neuer Krampf, und leise wimmernd ließ sie es zu, dass Mr Griffin sie die Treppe hinauf und weiter trug, bis er sie auf der moosfarbenen Chaiselongue in Adas Zimmer absetzte.
»Vielen Dank, Mr Griffin«, sagte Ada. »Sie können jetzt gerne …«
Hailee stöhnte laut auf, krallte eine Hand in die samtbezogene Armlehne und krümmte sich zusammen. Solche Schmerzen hatte sie noch nie gehabt, noch nie in ihrem ganzen Leben. Vermutlich litt sie an einer schweren Krankheit.
Sie hörte Ada Tremayne und Mr Griffin leise miteinander reden. Verstand sie das richtig, dass Ada den Obergärtner bat, den Arzt aus Mevagissey zu holen?
»Lassen Sie sich von Mr Cullum fahren«, wies Ada ihn an. »Sagen Sie ihm, ich hätte das angeordnet. Und, Mr Griffin, bitte beeilen Sie sich!«
Hailee weinte stumm. Wenn Ada es für nötig fand, den Doktor zu holen, dann musste es wirklich schlimm um sie stehen.
Ada half ihr, sich von der Chaiselongue zu erheben, zum Bett zu wanken und ihre Kleidung zu lockern. Sobald sie lag, atmete Hailee erleichtert auf, aber schon kam der nächste Krampf.
Gleich darauf ballte sich in ihrem Unterleib ein neuer Schmerz zusammen. Es dauerte schrecklich lang, und als er endlich wieder abebbte, spürte sie zu ihrem Entsetzen etwas Feuchtes unter sich.
»Mrs Tremayne«, schluchzte sie. »Es … es tut mir schrecklich leid, aber ich … aber ich fürchte, ich … ich habe ins Bett gemacht.«
»Das ist nicht schlimm«, winkte Ada ab. »Die Laken kann man waschen.«
Dann hörte sie Schritte auf der Treppe, und gleich darauf war Dr. Ashley in Adas Zimmer. Hailee war das alles entsetzlich unangenehm. Sie war noch nie bei einem Arzt gewesen, nicht einmal, als sie sich als Kind einmal böse am Arm verletzt hatte, und jetzt war da dieser Mann mit dunklem Anzug und Schnauzbart, der sich neben sie auf das Bett setzte und durch den Stoff ihres Hemdes auf ihrem Bauch herumdrückte.
»Das muss ich mir genauer ansehen«, sagte er schließlich.
Sie schloss die Augen, als der Arzt ihren Rock bis über ihre Hüfte schob und ihre Beine spreizte. Gleich darauf spürte sie seine Hand an ihren intimsten Stellen. Diese Untersuchung war ihr so peinlich, dass sie darüber fast die Schmerzen vergaß.
»Junge Frau«, sprach der Arzt sie dann an, und Hailee öffnete die Augen wieder. »Sie sind nicht krank. Sie liegen in den Wehen.«
»Wehen?«, wiederholte Hailee verständnislos.
»Wie bitte?«, kam es fast gleichzeitig von Ada. »Sie bekommt ein Kind?«
»Aber … wie …?«, stammelte Hailee.
»Jetzt behaupten Sie bloß nicht, dass Sie das nicht gewusst haben«, sagte Ada, ihre Stimme war merklich kühler geworden.
Hailee schüttelte den Kopf. »Nein. Und es stimmt ja auch gar nicht. Ich bin ja noch gar nicht verheiratet.«
Kinder bekam man doch nur, wenn man vermählt war. Oder?
Ada lachte auf. »Kindchen, ich glaube, Ihnen ist da etwas Grundlegendes entgangen.«
»Das lässt sich ganz leicht klären«, sagte der Arzt und wandte sich an Hailee. »Hatten Sie im vergangenen Sommer geschlechtlichen Verkehr?«
Hailees Wangen begannen zu glühen. Sie nickte kaum merklich.
»Oh Hailee!« Ada schüttelte den Kopf. »Konnten Sie nicht besser aufpassen? Wer ist der Vater?«
»Tommas«, gab Hailee weinend zurück. »Einer der Gärtner. Er ist … er ist an der Front. In Belgien.«
Ein neuer Krampf setzte ein, stärker als alle anderen zuvor. Wimmernd krümmte sie sich zusammen.
Nur schemenhaft bekam sie mit, dass jemand die Tür zu Adas Zimmer aufriss.
»Ada! Ada, was ist los, geht es dir gut?« Mr Tremayne, der Squire. Wie unendlich peinlich! »Ich kam gerade nach Hause, und Mr Griffin sagte, er habe auf deine Bitte hin den Arzt geholt, und …« Er verstummte, als sein Blick auf Hailee in Adas Bett fiel.
»Danke, Jack, mir geht es gut«, sagte Ada zu ihrem Bruder. »Aber unsere kleine Hailee hier bekommt für alle überraschend gerade ein Kind.«
»Oh«, sagte Mr Tremayne und schluckte sichtbar. »Oh. Dann … dann will ich nicht stören.«
In der folgenden Stunde versuchte Hailee, sich auf das Blumenbild an der gegenüberliegenden Wand zu konzentrieren, während das Kind ins Freie drängte und sie wimmernd und unter großen Schmerzen das fremde Leben aus sich herauspresste.
Danach lag sie wund und erschöpft auf Adas Bett. Wie durch einen Nebel hindurch hörte sie ein schwaches Quäken, dann ein lautes Krähen. Das Kind lebte.
Ada begleitete den Arzt zur Tür und verabschiedete ihn, dann kam sie zu ihr. In den Armen trug sie ein in ein weißes Laken gehülltes Bündel.
»Sie haben eine wunderschöne kleine Tochter bekommen«, sagte sie, und ihre Stimme klang ganz verändert – sanft und liebevoll. »Wollen Sie sie halten?«
Hailee hätte den Kopf schütteln und sich wegdrehen sollen. Es wäre besser, wenn sie das Kind nicht sehen würde. Keine Bindung zu ihm aufbauen würde. Aber alles in ihr drängte danach, das kleine Mädchen wenigstens einmal zu halten. Nur einmal.
»Ja«, flüsterte sie.
Ada legte ihr den Säugling in die Arme und half ihr, ihr Hemd zu öffnen. Wie von selbst suchte und fand das winzige Wesen ihre Brust und begann sofort zu saugen.
Hailee war hingerissen, überwältigt. Sie merkte gar nicht, dass sie weinte, bis sie die großen, salzigen Tropfen schmeckte.
Ihr Kind. Sie hatte ein Kind!
Nein, so durfte sie nicht denken. Sie musste vernünftig sein.
»Ich … ich will Heligan nicht verlassen«, sagte Hailee nach einer langen Pause.
Ada nickte und setzte sich neben sie.
»Aber ich kann die Kleine nicht behalten.«
»Ich weiß«, sagte Ada sanft.
»Ich bin nicht verheiratet. Und Tommas ist im Krieg. Und … und vielleicht kommt er nie zurück, und …« Hailee drängte die Tränen zurück.
»Ich weiß«, wiederholte Ada, während sie mit einem Finger leicht über die zarte Gesichtshaut des Säuglings strich. »Ich hätte möglicherweise einen Vorschlag.«