Flandern, Westfront bei Ypern, Juni 1915
Direkt vor ihm blühte eine einzelne Mohnblume. Auf der Schlammwüste, die sich vor ihnen erstreckte, wirkte sie wie ein rot leuchtender Blutstropfen. Ansonsten schien jegliches Leben erloschen zu sein – hier wuchs kein Baum oder Strauch mehr, kein Vogel sang, kein Tier zeigte sich. So weit Vincent auch blickte, war schwarzer Schlamm zu sehen. Ein von Granaten umgepflügter Boden, von Bombentrichtern übersät. Hier und da gab es zerbrochene Bretter, die zum Teil im Morast versunken waren. Selbst im Licht des erwachenden Tages wirkte alles stumpf und grau.
Es war kurz nach Tagesanbruch, und Vincent schaute über den Rand des Schützengrabens. Neben ihm kauerten seine Kameraden, dicht gedrängt, bereit zum Angriff. Der Graben war kaum breiter als die Schultern eines Mannes und gerade mal mannshoch, abgestützt und gesichert mit rohen Holzbohlen und Sandsäcken.
Vincent schob den Helm nach hinten, damit er ihm nicht über die Augen rutschte, und richtete den Blick etwas weiter in die Ferne.
War das Gas? Er hatte davon gehört. Im April hatten die Deutschen erstmals Giftgas gegen die französischen Truppen eingesetzt. Ein dünner Nebel, der über das Schlachtfeld kroch und sich in die Lungen fraß, eine schwankende, tödliche Wolke. Es hatte mehr als tausend Tote und noch viel mehr Verletzte gegeben.
Nein, da war kein Gas, nur ein schwacher Nebel, der sich schon wieder auflöste. Ein Glück! Vincent ließ sich wieder zurücksinken, erstattete seinem Vorgesetzten kurz Bericht und wartete dann, zusammen mit Nicholas, weiter. Wenigstens gab es diesmal kein Trommelfeuer der deutschen Artillerie, das jedes Mal stundenlang zu dauern schien und einen demoralisierte und halbtaub machte.
»Vorrücken!«, hieß es schließlich, und einer nach dem anderen kletterten sie aus dem Schützengraben, das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett im Anschlag.
Fast unmittelbar setzte Beschuss durch die deutsche Artillerie ein. Vincent machte es, wie sie es gelernt hatten: schießen, durchladen, erneut schießen. Neben ihm schrie einer seiner Kameraden auf und ging zu Boden, von einem Schrapnell getroffen.
Nahezu ununterbrochen explodierten Granaten. Das anhaltende Geschützfeuer betäubte Vincents Ohren und ließ ihn wie im Traum agieren. Schießen, weitergehen, immer weiter. Das Einzige, das er wahrnahm, waren das Gefühl des Gewehrs in seiner Hand und der donnernde Boden unter ihm. Und Nicholas an seiner Seite.
Und so liefen sie vorwärts, immer weiter vorwärts, ohne Deckung, das Gewehr in der Hand, über den breiten Streifen einer verwüsteten Landschaft, vorbei an den zerfetzten, entrindeten Resten von etwas, das einmal Bäume gewesen waren und die jetzt im Granatfeuer langsam immer weiter vergingen, vorbei an Toten und schreienden Verwundeten.
Wieder eine Granate. Wieder ein Schrei, ein weiterer Toter.
Wenn es ihn treffen sollte, hatte sich Vincent schon oft gedacht, dann wünschte er sich nichts mehr als einen direkten Treffer. Das wäre wenigstens ein schneller Tod. Nicht das schreckliche Leiden einer schweren Verwundung.
Ganz am Anfang hatte er sich das noch aufregend vorgestellt, einen Sturmangriff mitzuerleben. Aber hier, inmitten dieser Hölle, war es schnell vorüber gewesen mit dieser Vorstellung. Da war nichts Heldenhaftes am Sterben.
Die Gewehrschüsse waren über ihm, neben ihm, es knatterte, donnerte, knallte ohne Pause. Dicht neben ihm zischte eine Kugel vorbei, dann noch eine, noch näher. Er fühlte einen heißen Hauch, stolperte, verlor den Halt, rappelte sich wieder auf, rannte. Nein, er war nicht getroffen.
Verzweifelt suchte er Deckung vor dem Geschosshagel, tastete im Laufen nach seiner Patronentasche. Sie war leer. Verdammt!
Vor ihm tat sich ein großer Bombentrichter auf, und er rutschte hinein, schlitterte mit beiden Füßen voran durch den Matsch, immer tiefer hinab. Dicht hinter ihm folgte Nicholas, bis sie beide am Boden des Trichters waren.
Brackiges Wasser hatte sich dort gesammelt, es war auf surreale Weise fast still hier unten. Die Schlacht schien plötzlich weit weg zu sein.
»Da ist jemand!«, flüsterte Vincent heiser und deutete auf eine reglose Gestalt, die halb im Wasser lag. Ein deutscher Soldat, wie an der schlammverkrusteten feldgrauen Uniform und der neben ihm liegenden Pickelhaube zu erkennen war.
»Der ist hinüber«, sagte Nicholas. »Was bedeutet, er braucht seine Notration nicht mehr.«
Jeder Soldat trug eine eiserne Ration mit sich. Bei den Briten waren das eine Dose Corned Beef, ein paar Kekse sowie etwas Tee und Zucker.
Vorsichtig robbte Vincent zu dem Deutschen. Der Soldat war noch jung, genau wie sie beide. Er lag halb auf der Seite, ein Bein im Wasser. Vincent tastete ihn vorsichtig ab. Aber als er begann, seine Taschen nach der Notration abzusuchen, kam plötzlich Leben in die reglose Gestalt. Blitzartig drehte sich die vermeintliche Leiche um und stieß nach ihm, ein langes Bajonett in der Hand.
Vincent war so überrascht, dass er nicht reagieren konnte. Stocksteif verharrte er und glaubte sich schon von dem Bajonett durchbohrt. Dann vernahm er einen wütenden Aufschrei und sah einen kakifarbenen Schatten auf den Deutschen zustürzen.
Nicholas’ Messer fuhr dem Mann in die Brust. Nicholas zog sein Messer zurück und stach erneut zu. Und noch einmal. Vincent erlebte das alles wie verzögert. Er sah, wie Nicholas wieder und wieder auf den feindlichen Soldaten einstach, der inzwischen reglos im Schlamm lag, wie das Messer in den toten Leib fuhr und überall blutige Spuren hinterließ. Wie Nicholas wie ein Berserker auf den Mann einstach, der sich längst nicht mehr rührte.
»Nick!«
Sein Gesichtsausdruck hatte etwas von einem wilden Tier – enthemmt, voller Blutdurst. Vincent erkannte ihn kaum mehr.
»Nicholas, hör auf! Er ist tot!«
Erst jetzt schien sein Freund ihn zu hören. Er holte tief Luft, sah auf das Messer in seiner Hand – und warf es angewidert von sich. Er zitterte.
Dann fiel sein Blick auf Vincent. »Geht es dir gut?«, fragte er mit hörbarer Angst in der Stimme. »Bist du verletzt?«
Vincent schüttelte den Kopf. »Nein, er hat mich nicht getroffen.«
Nicholas kroch neben ihn und ließ sich schwer an seine Seite fallen.
Ein Teil von Vincent wollte ihn nach diesem Gemetzel entsetzt von sich schieben. Ein anderer Teil wollte ihn in seine Arme ziehen und ihn küssen.
Er kämpfte beide Impulse nieder und schloss für einen Moment die Augen.
*
Für die nächste Woche ging es wie stets nach den Fronteinsätzen in die Etappe hinter der Front. Diese behelfsmäßige Kaserne bestand aus einem Feldlager und einigen extra dafür angemieteten Unterkünften. In der Ferne konnten sie die Ruinen der Tuchhalle von Ypern sehen.
Hier sollten die Soldaten sich erholen. Sie hatten Gelegenheit zu baden, ihre Kleidung zu waschen, die Säume von Läusen zu befreien und Schäden an der Ausrüstung auszubessern. Außerdem konnten sie Ausflüge in nahe gelegene Orte machen, das Frontkino besuchen, Bücher und Zeitschriften lesen, Karten spielen oder Briefe schreiben. Manchmal gab es sogar Theateraufführungen oder Tanzveranstaltungen, zu denen oft auch belgische Frauen kamen.
Hinter der Front war das Essen besser und reichhaltiger. Hier konnten sie sich von ihrem Sold zudem einheimische Lebensmittel kaufen, auch wenn Nicholas und Vincent wie die meisten ihrer Kameraden den stark riechenden Käse nicht mochten, den es überall gab. Die Belgier hatten sich schnell darauf eingestellt, und nun wurden in den estaminets – den kleinen, rustikalen Gasthäusern – große Teller mit Spiegeleiern und Bratkartoffeln angeboten, was die britischen Soldaten mit billigem Weißwein, plonk genannt, herunterspülten.
Natürlich fanden auch weiterhin Truppenübungen statt, obwohl ihre Notwendigkeit sich ihnen nicht immer erschloss.
»Was hat es in einem gerade mal drei Fuß breiten Graben für einen Sinn zu wissen, wie man in Viererformation läuft?«, beschwerte sich Nicholas leise, nachdem sie eine ganze Stunde lang Marschieren geübt hatten.
»Frag nicht«, gab Vincent zurück. »Tu es einfach.«
*
Vincent schlug die Augen auf. Es war noch früh am Morgen, das Licht war weich und schwach.
Er drehte den Kopf. Mit mehreren Kameraden war er auf einem Bauernhof untergebracht, nah an der Behelfskaserne. Sie waren zu sechst im Zimmer, in das man einige Feldbetten gestellt hatte. An der gegenüberliegenden Wand schnarchte Charles, im Feldbett daneben Tommas. Nicholas’ Bett war leer.
Vermutlich war er pinkeln gegangen. Oder er war früh aufgewacht und jetzt auf der Suche nach etwas Essbarem.
Vincent setzte sich auf. Einen Druck auf der Blase spürte er auch, und auf etwas zu essen hätte er ebenfalls Lust. Man musste jede Gelegenheit ausnutzen. Wenn sie erst wieder an der Front wären, würden sie das gute und reichliche Essen schmerzlich vermissen.
Wie lange war Nicholas schon fort? Vincent überkam ein ungutes Gefühl. Seit dem Vorfall im Bombentrichter verhielt sein Freund sich ein wenig seltsam. Er war stiller geworden, in sich gekehrter. Gar nicht mehr der lebensfrohe Draufgänger, den Vincent sonst kannte.
Er würde jetzt aufstehen und ihn suchen. Leise, um die anderen nicht zu wecken, erhob er sich. Es war warm, also machte er sich nicht die Mühe, seine Stiefel anzuziehen, sondern schlich barfuß aus dem Raum.
Draußen war er nicht. Und es war doch kühler, als Vincent gedacht hatte, wie er bemerkte, nachdem er sich erleichtert hatte.
Angrenzend an das Haupthaus gab es ein paar kleine, nebeneinanderliegende Lagerräume, in denen Vorräte aufbewahrt wurden. Konnte Nicholas dort sein?
Vincent wollte nicht rufen, um niemanden zu wecken, also machte er sich auf die Suche und sah nacheinander in jedem der Lagerräume nach.
Im letzten fand er ihn.
Durch das schmale, hohe Fenster fiel rötliches Morgenlicht, auf den Regalen links und rechts standen eingeweckte Lebensmittel. Nicholas saß mit angezogenen Knien und geschlossenen Augen an der hinteren Wand. Sein Gesicht war feucht, und in seiner Hand hielt er seinen Webley-Revolver, den er sich in den Mund gesteckt hatte, den Finger am Abzug.
Eine eisige Hand legte sich um Vincents Eingeweide. In der nächsten Sekunde war er bei seinem Freund und fiel vor ihm auf die Knie.
»Nein, bitte, Nick, nicht!«
Nicholas öffnete die rotgeränderten Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf.
»Bitte, Nick, tu es nicht! Ich bin hier.« Vincents Stimme brach. Er wagte nicht, ihm die Waffe zu entreißen, aus Angst, er könnte dann erst recht etwas Unüberlegtes tun.
Zu Vincents Erleichterung nahm Nicholas die Mündung aus dem Mund. Aber nur, um Vincent anzusehen und zu sagen: »Geh weg.«
»Nein. Niemals.«
Nicholas antwortete nicht. Stattdessen schloss er erneut die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand hinter sich, den Revolver gegen seinen Unterkiefer gedrückt.
»Bitte«, murmelte Vincent. »Tu mir das nicht an.«
»Geh weg«, sagte Nicholas erneut, mit geschlossenen Augen.
Vincent zitterte, Tränen liefen ihm über das Gesicht, aber seine Stimme war fest. »Ich werde nirgendwo hingehen«, sagte er leise. »Du bist alles, was ich habe.«
Jetzt, da er es aussprach, fühlte es sich absolut richtig an. Aber da war noch so viel mehr, was er sagen wollte.
»Du … du bist alles für mich«, flüsterte er. Und dann sprach er es aus: »Ich liebe dich.«
Nicholas öffnete die Augen. Schmerz stand darin, aber auch Verwirrung. »Was?«
»Ich sagte, ich liebe dich«, wiederholte Vincent leise. Er streckte die Hand aus. »Und jetzt komm. Bitte. Gib mir den Revolver.«
Nicholas sah ihn an, in seinem Blick lag eine ganze Welt. Und nach einer schier endlosen Zeit ließ er die Waffe sinken.
Vincent nahm ihm den Revolver mit der gleichen Sorgfalt aus der Hand, mit der er ein Neugeborenes halten würde, sicherte die Waffe und schob sie so weit fort, wie es nur ging, außerhalb von Nicholas’ Reichweite. Dann stieß er einen heftigen Atemzug aus, verlagerte sein Gewicht und setzte sich neben seinen Freund an die Wand.
Danach saßen sie eine Weile schweigend da, bis Nicholas zu reden anfing.
»Ich habe diesen Mann umgebracht, Vince. Er war höchstens so alt wie ich, und ich habe ihn umgebracht.«
»Es war Notwehr. Er hätte sonst mich getötet«, gab Vincent zurück. »Du hast mir das Leben gerettet.«
Nicholas antwortete nicht, sah einfach nur vor sich hin auf den Boden.
»Es ist Krieg«, sprach Vincent hilflos weiter. »Und wir sind jetzt Soldaten, Nick. Dafür wurden wir ausgebildet.«
Nicholas schüttelte langsam den Kopf, ohne ihn anzusehen. »Wir sind Gärtner, keine Soldaten. Dieser Krieg ist nicht unser Krieg. Wir waren nie dazu bestimmt, hier zu sein. Und es ist etwas ganz anderes, jemanden aus der Entfernung mit dem Gewehr zu erschießen, als mit seinen eigenen Händen zu töten.« Endlich sah er Vincent an. »Ich kann nicht mehr schlafen. Ich träume jede Nacht davon, wie ich auf ihn eingestochen habe. Jede verdammte Nacht! Und tagsüber sehe ich es auch immer wieder vor mir. Und das wird erst aufhören, wenn ich mir eine Kugel durch den Schädel gejagt habe.«
»Nein! Bitte, Nick, versprich mir, dass du das nie wieder versuchst!«
»Das ist meine Entscheidung.«
Die kurzfristige Erleichterung war wie fortgeblasen, erneut machte sich Kälte in Vincent breit.
»Deine Entscheidung? Du sagst mir, dass du dich umbringen willst, und ich soll das einfach so hinnehmen?«
»Es ist mein Leben, Vince! Es muss dich nicht kümmern.«
»Aber es kümmert mich! Ich … ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren!«
Nicholas blinzelte. »Liegt dir wirklich so viel an mir?«, fragte er schließlich, seine Stimme war nur noch ein Flüstern, sie klang, als könnte sie jederzeit brechen.
Vincent nickte, sein Herz klopfte laut. »Ja«, sagte er. »Das tut es. Und zwar schon immer.«
Nicholas lächelte. Ganz schwach nur, aber wahrnehmbar. Er hob die Hand, legte sie um Vincents Nacken und zog ihn an sich.
Danach hatte Vincent sich eine Ewigkeit gesehnt. Er schloss die Augen und genoss, wie die durchdringende Angst, die ihn bis jetzt erfüllt hatte, allmählich in dieser Umarmung verschwand.
»Vince?«
»Ja?«
»Ich liebe dich auch.«
*
Es war ein Sonntag Anfang Juli, der letzte Tag, bevor sie wieder an die Front mussten. Sie hatten mit allen gemeinsam eine Messe auf dem Feld des Bauern gefeiert, der Rest des Tages stand ihnen zur freien Verfügung.
Es war sehr warm, die Grillen zirpten, und sie waren weit genug weg von der Front, um so gut wie nichts mitzubekommen vom Kriegsgeschehen. Es hätte ein ganz normaler Sommertag sein können.
Nicholas wartete, bis sie beide allein waren. »Bereit für eine kleine Überraschung?«
»Natürlich«, sagte Vincent. Er würde seinem Freund bis ans Ende der Welt folgen, und sei es nur, um ihn von irgendwelchen Dummheiten abzuhalten.
Dabei wirkte Nicholas seit jenem Morgen vor drei Tagen fast wieder wie früher. Er war in Hemdsärmeln und schien vor Vorfreude fast zu platzen. Jetzt führte er Vincent in den Stall, der zurzeit ohne Tiere war, und wies mit dem Kopf in eine Ecke, wo eine schmale Leiter auf den Heuschober führte. »Hoch mit dir.«
Vincent gehorchte – voller Neugier und mit klopfendem Herzen.
Nicholas hatte Baguette und eine getrocknete Wurst, einen kleinen Topf mit Butter, eingelegte Oliven, ein Schälchen mit Kirschen und sogar eine Flasche billigen Weißwein besorgt und alles auf einer grauen Armeedecke im Stroh ausgebreitet.
Vincent lachte leise. »Wie hast du das denn geschafft?«
»Ganz einfach. Ich habe der Bäuerin erzählt, ich wollte meinen Schatz mit einem Picknick überraschen. Da hat sie mir gleich einen ganzen Korb zusammengepackt.«
»Das war aber nett von ihr.« Vincent ließ sich vorsichtig im Stroh neben den vielen Leckereien nieder. »Auch wenn die gute Frau sicher von einem Mädchen ausging, das du beeindrucken willst.«
»Dann lassen wir sie besser in dem Glauben.«
Sie tranken den Wein direkt aus der Flasche, denn Gläser gab es nicht.
Als Nicholas ihn ansah, überschwemmte Vincent eine jähe Hitzewelle.
»Ich bin also dein Schatz?«, fragte er leise und ließ die Flasche sinken.
Nicholas sah ihn mit einem Ausdruck an, der Vincents Herz zum Singen brachte, und nickte. Seine Augen leuchteten geradezu, in einem hellen, durchscheinenden Blau. Er wirkte richtiggehend glücklich. Zumindest in diesem Moment.
Dann war Nicholas bei ihm und zog ihn in seine Arme. Sie küssten sich, heftig, besitzergreifend und doch irgendwie verloren.
Vincent war plötzlich furchtbar warm. Mit zitternden Händen öffnete er die Knöpfe seines Hemdes und zog es aus, dann tat er dasselbe mit Nicholas’ Hemd. Gleich darauf folgte auch der Rest ihrer Kleidung.
Nicholas ließ seine Hand wandern, über Vincents Hals, wo der Puls laut schlug, seine Brust bis weiter nach unten zu seiner Hüfte. Vincent stöhnte leise und voller Wonne auf.
»Oh Gott, Nick«, hauchte er.
Nicholas zog seine Hand zurück und sah ihn an, als hätte er Angst davor, was als Nächstes passieren könnte. Und als wollte er doch nichts mehr als das.
Das Verlangen in seinen Augen schickte ein loderndes Feuer durch Vincents ganzen Körper. Auch er wollte mehr. Er wollte alles, was Nicholas ihm geben konnte.
Er nickte leicht, schob die gesammelten Lebensmittel beiseite und legte sich auf die Decke. Er drehte Nicholas den Rücken zu und wartete, den Puls laut in seinen Ohren. Die Decke war kratzig, aber das spürte er kaum. Er hörte, wie Nicholas irgendwo herumkramte, dann schmiegte sich der Körper seines Freundes an ihn, und Vincent lag ganz still, überwältigt von seinen Gefühlen. Das hier war kein Traum oder Wunschdenken, das hier geschah wirklich.
Im Gegensatz zu seinen Träumen war das, was folgte, nicht nur angenehm, und doch war es mit nichts vergleichbar. Vincent stieß einen erstickten, schmerzerfüllten Seufzer aus und versuchte, sich so gut wie möglich zu entspannen. Es tat weh und war gleichzeitig wunderschön – das Gefühl, ganz miteinander zu verschmelzen, eins zu sein.
Die Welt verengte sich auf sie beide, auf die sanften Bewegungen, die sie immer weiter miteinander vereinigten. Nicholas’ Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, oder vielleicht war es sein eigener – es gab jetzt keinen Unterschied mehr. Dann rollte die Flut heran, türmte sich auf und brach schließlich durch seinen Körper wie eine riesige Welle, die alle Gedanken fortspülte, bis sie nach und nach verebbte und ihn nackt und glücklich und erschöpft zurückließ.
Vincent schlug die Augen auf. Sie mussten beide eingenickt sein, eng aneinandergeschmiegt, auf der rauen Armeedecke. Neben ihnen, verstreut im Stroh, lagen die Gaben der Bäuerin, fast komplett unangetastet.
Nicholas schlief noch immer. Vincent konnte den gleichmäßigen Schlag seines Herzens gegen seine Rippen spüren, sein Gesicht war entspannt vom Schlaf. Vincent beobachtete ihn eine Weile und versuchte, jedes Detail zu behalten – den leichten Bartschatten, die dunklen Haare, die nahezu perfekten Gesichtszüge. Er sah jetzt so unschuldig aus, so jung. Vincent wollte nicht, dass er aufwachte. Und auch er wollte sich dem Tag mit all seinen Widrigkeiten nicht stellen müssen. Er wollte hierbleiben. Hierbleiben mit Nicholas.