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LEXI

Heligan Gardens, Anfang Juli

Ausstellungseröffnung: Heligan. Geschichten hinter der Geschichte, stand auf dem Plakat. Daneben waren in einer ansprechenden Collage das Nördliche Sommerhaus, ein Foto des alten Gartenplans aus dem achtzehnten Jahrhundert sowie eine Ananas zu sehen. Diese Plakate hingen überall – im Eingangsbereich, an Wegkreuzungen und an Gebäuden. Es ist ein ziemlich unwirkliches Gefühl, dachte Lexi, diese Ankündigung überall in Heligan angeschlagen zu sehen. So lange hatte sie sich schon mit den Vorbereitungen zu den drei kommenden Ausstellungen beschäftigt, dass es sich jetzt, da es tatsächlich so weit war, seltsam irreal anfühlte.

Für jeden der drei Ausstellungsteile hatte Lexi sich einen eigenen Titel plus Untertitel überlegt. »Spuren des Aufbruchs. Heligan unter Henry Hawkins Tremayne« würde die erste Ausstellung heißen, die in einer guten halben Stunde eröffnet werden würde.

Sie war schrecklich aufgeregt. Dennoch versuchte sie, die letzten ungestörten Minuten zu genießen, bevor die Ausstellung ihre Pforten öffnete. Sie stellte sich vor das vergrößerte Porträt von Henry Tremayne, dem Gründer der Heligan Gardens, und studierte das ruhige, ernste Gesicht des Mannes, mit dem sie sich nun schon so lange befasst hatte.

»Tja, Henry«, sagte sie leise. »Hier sind wir dann also. Ich hoffe, dir gefällt, was ich auf die Beine gestellt habe.«

Die Präsentation fand im Erdgeschoss des Steward’s House statt. Dort gab es ein Besuchercafé, das auch für wechselnde Ausstellungen genutzt wurde, sowie zwei weitere Räume.

Lexi fand diese Örtlichkeit ausgesprochen passend gewählt, schließlich hatten früher Damaris und Julian Harrington mit ihrer Familie hier gewohnt. Unten, wo sich jetzt das Café befand, waren damals wahrscheinlich die Empfangsräume gewesen.

An sämtlichen Wänden hingen nun die von Lexi vorbereiteten großformatigen Schautafeln, daneben kleinere gerahmte Exponate, die diesen Teil von Heligans Vergangenheit illustrieren sollten. Schon seit Tagen hatte Lexi zusammen mit Aushilfe Eliza alles aufgehängt und immer wieder umgehängt, um es bestmöglich zur Geltung zu bringen.

Und dann war es endlich so weit, und die Besucher, die schon vor der Tür warteten, wurden hereingelassen.

Alle waren sie gekommen – Ben und Cait, Orlando und Eliza. Und natürlich Theo, Lexis Chefin, die zur Ausstellungseröffnung sogar eine kleine Rede hielt. Eigentlich wäre das Lexis Aufgabe gewesen, aber sie hatte darum gebeten, sich im Hintergrund halten zu dürfen. Sie hatte es damit begründet, viel zu nervös zu sein, um vor vielen Menschen reden zu können, und lieber die Bilder für sich sprechen zu lassen. In Wahrheit wollte sie einfach vermeiden, ihr Gesicht in irgendeinem Bericht, sei es in der Zeitung oder in einem der sozialen Medien, zu sehen und über sich zu lesen. Rob war schließlich noch immer irgendwo da draußen und suchte sie.

Theo erzählte den zahlreichen Besuchern in Kurzfassung, wie der Garten nach vielen Jahrzehnten der Vernachlässigung von seinem neuen Besitzer Tim Smit erforscht und neu entdeckt worden war. Wie unter der wuchernden Wildnis ein gärtnerisches Kleinod freigelegt und wie dieser Garten nach einem intensiven Restaurierungsprozess der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Das lag nun dreißig Jahre zurück.

»Diese Ausstellung«, sagte Theo, »soll natürlich zum einen den historischen Kontext des Gartens und seiner Erbauer präsentieren. Wir wollen die Vergangenheit greifbarer und lebendiger werden lassen. Zum anderen, und das war für uns das Wichtigste, wollen wir aber auch auf die Geschichten hinter der Geschichte eingehen – auf die weniger bekannten Hintergründe und auf die Menschen, die in und bei Heligan House lebten. Und nun«, schloss sie, »erkläre ich die Ausstellung für eröffnet.«

Alles klatschte, dann verteilten sich die Besucher in den drei Räumen des Erdgeschosses. Neben Henrys Porträt in dunkler Jacke und weißer Zopfperücke hingen dort ein Faksimile eines Entwurfs des damaligen Gartenarchitekten sowie ein Plan der heutigen Gärten. Daneben einige Auszüge aus Henrys Reisetagebuch von 1785 und eine Collage mit verschiedenen Rechnungen vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Lexi konnte sich noch gut erinnern, wie glücklich sie gewesen war, als sie diese Zeugnisse eines erfüllten Lebens entdeckt hatte – und zu ihrer Freude herausgefunden hatte, dass Henry offenbar ebenso gern Schokolade aß wie sie selbst. Außerdem gab es noch ein Foto eines Briefs von Allie an ihre ältere Schwester Damaris, die sich damals gerade mit Henry auf Grand Tour durch Englands Gärten befand. In diesem Brief ließ sich Allie unter anderem über einen gewissen Wildhüter namens Julian aus, mit dem sie sich angefreundet hatte. Ebenjener Julian, der später Damaris heiraten würde.

Und dann natürlich eine vergrößerte Aufnahme von dem verwitterten, nur noch schwer erkennbaren Herz, das vor vielen Jahrzehnten in eine der alten Buchen am Eastern Ride eingeritzt worden war und von dem Lexi überzeugt war, dass die kaum noch lesbaren Buchstaben daneben Julian bedeuteten.

Ein wenig bedauerte Lexi, nicht mehr in Erscheinung treten zu können. Aber es war einfach noch zu riskant, und solange Theo das Reden und weitergehende Erklärungen übernahm, war Lexi damit zufrieden, sich im Hintergrund zu halten, sich unter die Besucher zu mischen und sich an deren Kommentaren zu erfreuen.

Sie hörte eine der Besucherinnen laut aufseufzen – eine ältere Dame mit einer pinkfarbenen Hornbrille, die vor der Fotografie von dem Herz im Baum stehen geblieben war.

»Haben Sie das gelesen?«, fragte die Frau, drehte sich zu Lexi um und deutete auf die erklärende Inschrift. »Hier steht, dass angenommen wird, dass dieses Herz womöglich die junge Damaris eingeritzt hat, vor mehr als zwei Jahrhunderten. Ist das nicht unglaublich romantisch?«

»Oh ja«, bestätigte Lexi voller Überzeugung. »Das ist es.«

Sie senkte den Kopf und lächelte in sich hinein. Dann warf sie einen kurzen Blick auf das Porträt von Henry Hawkins Tremayne, das an der gegenüberliegenden Wand hing.

Sie hätte schwören können, dass er ihr zugeblinzelt hatte.

*

Ihr erster Weg am nächsten Morgen führte sie wieder einmal in den Melonengarten, wo die Schwalben sehr fleißig gewesen waren. Unter dem Dach des alten Wirtschaftsgebäudes hingen jetzt drei Nester, und in jedem war ein Schwalbenpaar mit seiner Brut beschäftigt. Eine Weile blieb Lexi stehen, beobachtete die kleinen Flieger und lauschte ihrem musikalischen Gezwitscher.

Die Ausstellung war sehr gut angenommen worden. Am Abend war dann auch noch Tim Smit vorbeigekommen – der Mann, der vor über dreißig Jahren die Gärten nicht nur entdeckt, sondern auch wiederbelebt hatte. Inzwischen durfte er sich »Sir Tim« nennen, denn für sein Engagement und seine Verdienste um die Wissenschaft hatte die englische Königin ihn vor einigen Jahren zum Ritter geschlagen.

Sir Tim hatte sich von Lexis Ausstellung beeindruckt gezeigt und fast eine halbe Stunde mit ihr geplaudert. Anschließend fand für die Mitarbeiter und einige angemeldete Besucher eine kleine Tour durch Teile von Heligan statt, bei der der äußerst agile Mittsechziger Anekdoten über die Entdeckung der Gärten und die Geschichte ihrer Restaurierung zum Besten gegeben hatte.

Lexi schlenderte noch ein wenig weiter durch den Garten, dann führte ihr Weg sie zurück zum Eingangsbereich, wo sich eine der vielen großen Picknickflächen befand. Erste Besucher hatten sich bereits an den Tischen niedergelassen, und sofort erschienen Rotkehlchen und Scharen von Spatzen, die begeistert alles an Krümeln und Essensresten aufpickten.

Aber so gern sie jetzt auch noch länger hier stehen und Menschen und Tiere beobachten würde – die neue Arbeitswoche hatte begonnen, und es gab noch zwei weitere Ausstellungen vorzubereiten.

Diesen Tag würde sie vermutlich zur Gänze im Heligan-Archiv verbringen. Sie wollte endlich den kompletten Stammbaum der Familie Tremayne erstellen – das hatte sie bislang nur etwas halbherzig bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts getan.

Die meisten Informationen waren nicht schwer zu finden. In mehr oder weniger gerader Linie ließ sich die Erbfolge Heligans nachvollziehen, angefangen vor mehr als vierhundert Jahren mit Sampson Tremayne bis zu Jack Tremayne, dem letzten Squire Heligans.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Jack nach Italien gezogen und hatte das Anwesen verpachtet. Er starb 1949. Zwei Jahrzehnte später wurde Heligan House in Wohnungen umgewandelt und verkauft. Die Gärten dagegen verwilderten. Traurig, aber zumindest mit einem guten Ausgang in der heutigen Zeit.

Aber wie hing jetzt ihre eigene Familiengeschichte damit zusammen? Lexi war immer noch die seltsame Aussage ihrer Großtante Filly im Gedächtnis. Diese hatte steif und fest behauptet, Fillys Mutter Susannah sei in den ersten fünf Jahren ihres Lebens eine Tremayne gewesen. Lexi hatte das stark bezweifelt und diese Behauptung als Erfindung eines dementen Gedächtnisses abgetan. Ein paar alte Fotos hatten immerhin belegt, dass Susannah als Kind eine Zeit lang in Heligan gelebt hatte.

Alles sehr rätselhaft.

Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, sich näher damit zu beschäftigen. Nach dieser angeblichen Verbindung der Tremaynes mit Lexis eigener Familie wollte sie ohnehin schon länger suchen.

Sie klickte sich durch mehrere Suchmaschinen – immer ohne Erfolg, bis sie eine Ahnenforschungsplattform aufrief, auf der man die eigenen Vorfahren oder die anderer Leute suchen konnte, und dort ein paar Daten eingab. Viele waren es nicht, dafür hatte Lexi viel zu wenig Informationen.

Nein, so kam sie nicht weiter. Sie musste es auf andere Weise versuchen.

Vielleicht doch wieder bei den Tremaynes anfangen? Also: Jack Tremayne, der letzte Squire Heligans, hatte keine eigenen Kinder gehabt. Allerdings hatte er vier Schwestern.

Kurz schöpfte sie Hoffnung: Eine von Jacks Schwestern, Grace, war mit einem Charles Babington verheiratet gewesen und hatte fünf Kinder bekommen. Lexi suchte nach Informationen zu jedem Einzelnen dieser Kinder. Aber auch das passte nicht: Es waren fünf Söhne, und jeder dieser Söhne war in den Ersten Weltkrieg gezogen. Keine einzige Tochter wurde erwähnt.

Nein, das war eine Sackgasse.

Dennoch, die Sache ließ ihr keine Ruhe. Die kleine Susannah war auf Fillys Foto von 1920 ungefähr fünf Jahre alt gewesen, was bedeutete, dass sie irgendwann zwischen 1914 und 1916 geboren worden war. Vielleicht konnte man es über die Taufregister jener Zeit versuchen? In ihren früheren Recherchen zu Damaris’ und Julians Nachkommen war sie schließlich so auch fündig geworden.

Ein paar Klicks führten sie zu einem entsprechenden Online-Taufregister. Sie gab bei Bezirk Cornwall ein und bei Ort St Ewe sowie die Jahre 1914 bis 1916 und tippte bei Mutter nacheinander die Namen von Jacks Schwestern ein.

Onera – nichts.

Harriet – nichts.

Grace – das war die Mutter mit den fünf Söhnen. Aber die waren um die fragliche Zeit alle schon lange erwachsen gewesen oder zumindest kurz davor. Also auch nichts.

Jetzt war nur noch Jack Tremaynes Schwester Ada übrig.

Lexi hatte keine große Hoffnung, als sie für Mutter als letzte Möglichkeit Ada Tremayne eingab. Ganz abgesehen davon, dass Tante Filly sich höchstwahrscheinlich in ihrer Aussage geirrt hatte – zur Zeit von Susannahs Geburt tobte gerade der Erste Weltkrieg, und die Eintragungen in den Kirchenbüchern und anderen Dokumenten waren sicher nicht immer vollständig. Oder das Kind war in einem ganz anderen Bezirk getauft worden. Oder, oder, oder.

Ein einziger Eintrag erschien. Lexi starrte wie hypnotisiert darauf.

Bingo!

Am 15. April 1915 war die Taufe eines Kindes namens Susannah registriert worden. Der Name des Vaters blieb frei, bei Name der Mutter stand: Ada Tremayne. Wohnsitz: Heligan House.

Lexi konnte den Blick nicht vom Bildschirm und von dem Eintrag lösen. Mehrfach las sie, was dort stand, aber es gab keinen Zweifel.

Ada Tremayne. Eine der vier Schwestern von Jack Tremayne. Eingetragen als Mutter der kleinen Susannah, die im April 1915 in St Ewe getauft worden war.

Also hatte Tante Filly doch recht gehabt. Aber wie war das möglich?

Lexi überprüfte noch einmal die anderen Daten, die sie vorliegen hatte. Ada war 1868 geboren worden, ein Jahr vor Jack, und hatte nie geheiratet – zumindest war darüber nirgends ein Eintrag zu finden. Dann war sie 1915, zum Zeitpunkt der Taufe, bereits siebenundvierzig Jahre alt gewesen. Sehr unwahrscheinlich, dass sie in diesem Alter ein Kind bekommen hatte. Nein, da musste etwas anderes dahinterstecken.

Irgendetwas war hier äußerst seltsam.