Heligan Gardens, März 1916
Ende März zogen schwere Stürme über Cornwall und weitere Teile Südenglands hinweg. Zudem schneite es fast ununterbrochen. Die Kombination von nassem und klebrigem Schnee, der an den Ästen gefror, und den kalten Winden brachte viele Bäume zu Fall. Auch in Heligan stürzten etliche Bäume um, vor allem im Dschungel.
Seit Jahresanfang gab es ein neues Gesetz, das alle alleinstehenden Männer zwischen achtzehn und einundvierzig Jahren zum Kriegsdienst verpflichtete. Der Squire, Mr Griffin und der Butler Mr Pritchard waren davon nicht betroffen, da alle drei schon Mitte vierzig waren. Aber mit jedem weiteren Monat, der verstrich, verließen mehr Gärtner und Arbeiter Heligan. Inzwischen waren nur noch acht Männer da, die sich um die Außenanlagen kümmerten. Acht Männer – und Hailee.
Ein paar der verbliebenen Gärtner beseitigten die größten Schäden im Dschungel: Ein Baumstumpf nach dem anderen wurde mit großen Zwei-Mann-Sägen zerteilt und zu Feuerholz verarbeitet, und Mr Tremayne sorgte dafür, dass viele junge Bäume als Ersatz gepflanzt wurden.
Viel Zeit zum Aufräumen blieb jedoch nicht, schließlich mussten sich die wenigen Arbeitskräfte auch noch um sämtliche anderen Außenanlagen kümmern. Ein Ding der Unmöglichkeit, wie bald feststand. Daher entschied der Squire, dass sich das Gärtnern fast ausschließlich auf den Gemüse- und Blumengarten beschränken sollte. Alle anderen Bereiche mussten warten.
Kurz danach hallten erneut Axtschläge durch Heligan. Kriegsminister Lord Kitchener hatte zu Spenden von Eichenholz zum Schiffsbau aufgerufen, und so hatte sich der Squire entschlossen, die großen Eichen am östlichen Windschutzgürtel fällen zu lassen. An ihre Stelle ließ er immergrüne Monterey-Kiefern setzen, die er genau wie die jungen Eichen aus einer Baumschule bezog.
Es tat Hailee weh zu sehen, wie die wunderbaren hohen Laubbäume einer nach dem anderen unter der Axt fielen, aber, so sagte der Squire, der diesen Schritt ebenfalls sichtlich bedauerte, jeder habe in dieser schweren Zeit Opfer zu bringen.
Aber das war nicht alles, was sich änderte. Jack Tremayne hatte beschlossen, Heligan House in ein Genesungsheim für Offiziere des Royal Flying Corps, der Fliegertruppe des britischen Heeres, umzuwandeln. Es hieß, dass die Krankenhäuser allmählich überfordert waren von der großen Zahl verletzter Soldaten, die von der Westfront zurückkehrten. Heligan dagegen hatte den nötigen Platz zu bieten, und die frische Landluft war gut für die Genesung.
Inzwischen waren alle fünf Neffen von Mr Tremayne im Krieg oder zumindest in einer entsprechenden Ausbildung. Master Ralph, der jüngste Neffe des Squire, hatte zu Ostern die Schule beendet und war jetzt auf der Militärakademie in Sandhurst, wo er zum Offizier ausgebildet wurde. Hailee hatte den Squire halb besorgt, halb amüsiert sagen hören: »Ralph kann es gar nicht erwarten, endlich auch an die Front zu kommen.«
*
Seit Sukeys Geburt waren zwölf Monate vergangen. Der Große Krieg, wie alle ihn nannten, ging in diesem April ins zweite Jahr, und noch immer war kein Ende abzusehen.
Hailee hatte sich an den überall herrschenden Mangel gewöhnt. Auch was bislang als Unkraut gegolten hatte, wurde in der Küche verarbeitet. Statt dicker Fleischeintöpfe gab es für die Dienstboten jetzt immer öfter eine trübe Brennnesselsuppe zu essen, und auch die Portionen waren nicht mehr so üppig. Sehr selten las sie in den Zeitungen, die Mr Griffin ihr überließ. Zum Teil waren die Nachrichten darin schon Wochen alt, weil sie immer erst spät dazu kam, sie zu lesen. Und vieles wollte sie auch gar nicht wirklich wissen. Nichts, was mit dem Krieg auf dem Festland zu tun hatte, wo Tommas und all die anderen Soldaten noch immer in den Schützengräben ausharren mussten.
Auch ihr Heimatland Irland war in Aufruhr. Dort hatte es zu Ostern einen Aufstand von militanten Befürwortern der irischen Unabhängigkeit gegeben. Etliche Menschen hatten sich im großen Gebäude der Hauptpost von Dublin verschanzt und sich einen tagelangen Straßenkampf mit der britischen Armee geliefert. Unter den Aufständischen, so hatte sie gelesen, waren auch einige Frauen gewesen. Inzwischen waren etliche der Meuterer tot. Die restlichen waren festgenommen worden und saßen im Gefängnis.
Aber ein paar gute Nachrichten gab es doch: Im Mai, als die Erdbeeren reif wurden, zeigten sich an dem kleinen Taschentuchbaum im Sonnenuhrgarten zum ersten Mal weiße Knospen, und als sich wenige Tage später die kleinen Köpfchen zu großen weißen, flügelförmigen Blüten öffneten, wurden sie von allen begeistert begrüßt. Noch größer war die Freude, als die Nachricht in Heligan eintraf, dass endlich einige der Gärtner, die bis dahin an der Front gekämpft hatten, auf Heimatbesuch kommen durften.
Hailees Enttäuschung war grenzenlos, als sie hörte, dass Tommas nicht dabei sein würde. Dennoch freute sie sich, als sie die bekannten Gesichter von Charles und William, Vincent und Nicholas sah, die an einem sonnigen Mittag in Heligan eintrafen. Sie hatten nur zehn Tage Urlaub bekommen, zu denen auch die Hin- und Rückreise zählte, weshalb sie nur eine Woche bleiben konnten. Aber in dieser Woche waren sie eine wertvolle Unterstützung im Garten.
Leider konnte ihr auch keiner der Heimaturlauber sagen, wo Tommas sich aufhielt – lediglich, dass er inzwischen einer anderen Einheit zugeteilt worden war.
Hailee redete wenig mit ihnen, sie kannte sie ja kaum. Am ehesten noch Vincent, der einer der Ersten gewesen war, den sie in Heligan kennengelernt hatte. Die Männer halfen überall dort aus, wo sie gebraucht wurden – im Gemüsegarten, im Dschungel, im Sonnenuhrgarten. Manchmal taten sie auch einfach gar nichts und saßen nur stumm zusammen, jeder gefangen in seinen persönlichen Erinnerungen.
Kaum waren die vier Heligan-Gärtner nach ihrem Heimaturlaub wieder zurückgekehrt an die Front, fuhren mehrere große Automobile vor. Sie lieferten Feldbetten, Bettzeug und Sanitätsmaterial für das Genesungsheim, das im Erdgeschoss des Herrenhauses entstand, persönlich überwacht von Mr Tremayne. Er und Mrs Tremayne stellten zudem einige Krankenschwestern ein, die im Haus wohnen durften.
Hailee half, einen Teil der Räume im Erdgeschoss – den Salon, das rote Zimmer sowie das Raucherzimmer – komplett freizuräumen und Betten hineinzustellen. Napoleon, der Papagei, kam mit seinem Käfig in den Frühstücksraum. Die Eingangshalle mit dem Treppenhaus wurde zum Speisesaal für die Patienten. Für die Tremaynes und mögliche Gäste blieben die Bibliothek, das Frühstückszimmer sowie der gesamte obere Stock.
Ende Juni 1916 übergab Mr Tremayne das Haus formell an das Kriegsministerium, damit es als Genesungsheim genutzt werden konnte. Schon wenige Tage später trafen die ersten verletzten Offiziere des Royal Flying Corps ein.