Heligan Gardens, Juli 1916
Kurz nachdem die ersten Patienten eingezogen waren, kam ein Brief für Hailee in Heligan an.
Ihr Herz schien für einen Schlag auszusetzen. Briefe konnten Gutes bedeuten, sie konnten aber auch schlimme Nachrichten bringen. Mit zitternden Händen nahm sie den Umschlag an sich, auf dem sie zu ihrer Erleichterung Tommas’ Handschrift wiedererkannte. Endlich eine Nachricht von ihm! Sie setzte sich auf die Bank vor dem Gemüsegarten und öffnete den Brief.
Meine liebste Hailee, stand dort zu lesen. Die Buchstaben waren ein klein wenig zittrig, aber es war eindeutig Tommas’ Schrift. Wie gerne wäre ich jetzt bei Dir. Ich hatte bereits Heimaturlaub beantragt, und er wäre mir sicher auch gewährt worden, aber dann kam alles anders, und ein Granatsplitter traf mich. Sorge Dich nicht, ich bin nicht schwer verletzt. Und es gibt gute Nachrichten: Ich bin seit heute wieder in England. Man hat mich zur Erholung ins Trefusis House bei Falmouth geschickt, das ist gar nicht weit von Heligan. Sobald ich von den Ärzten die Erlaubnis dazu habe – was, wie ich hoffe, sehr bald sein wird –, werde ich Dich in Heligan besuchen. Ich schreibe Dir, sobald ich Genaueres weiß.
Mit tausend Küssen
Dein Tommas
Hailee ließ den Brief sinken und lächelte. Das waren gute Nachrichten!
Und gut ging es auch weiter. Mr Tremayne hatte es sich nicht nehmen lassen und für einen seiner verwundeten Kriegshelden, wie er es nannte, sogar seinen Chauffeur nach St Austell geschickt, um Tommas am Bahnhof abzuholen. Mr Cullum war vom Kriegsdienst freigestellt, da er wegen einer Lungenschwäche als untauglich für die Front galt. Jetzt wurde er vor Ort als Krankenwagenfahrer eingesetzt und auch dazu, die verletzten Offiziere zu ihren Behandlungen zu bringen.
Und dann war er da, ihr Tommas, etwas blass und abgemagert, aber immer noch der Alte.
Sie freute sich sehr, ihn zu sehen, wenn auch das anfängliche Prickeln, das sie für Verliebtheit gehalten hatte, nicht mehr da war. Es dauerte, bis er jeden begrüßt und alle Hände geschüttelt hatte. Danach lud ihn Mr Tremayne wie auch die anderen Heimaturlauber zuvor zu einem Drink in der Bibliothek des Herrenhauses ein.
Als Hailee endlich mit ihm allein auf einer Bank im Sonnenuhrgarten saß, war über eine Stunde vergangen, und Hailee fühlte sich, als säße sie auf glühenden Kohlen. Und jetzt schien er einfach kein Ende zu finden. Sie hatte Tommas so viel zu sagen – aber er ließ sie kaum zu Wort kommen und erzählte von seiner militärischen Ausbildung, seinen Kameraden und Vorgesetzten und wie es ihm an der Front ergangen war. Wie er in einer Schlacht verwundet worden war und dass sich immer noch einige Granatsplitter in seiner Brust befänden, die wohl auch dortbleiben würden. Wie langweilig es im Trefusis House war, was es dort zu essen gab und wer seine Zimmergenossen waren.
»Als ich vorhin im Herrenhaus war«, sagte er irgendwann, »habe ich ein kleines Kind schreien gehört. Und Mr Tremayne sagte daraufhin, seine Schwester habe das Kind einer Verwandten zu sich genommen hat, dessen Mutter gestorben sei. Das finde ich sehr anständig von ihr.«
Jetzt konnte sie sich nicht länger zurückhalten. »Ich muss dir etwas sagen, Tommas«, platzte es aus Hailee heraus. »Etwas sehr Wichtiges. Aber du darfst es niemandem erzählen.«
»Ein Geheimnis?« Er grinste. »Natürlich. Ich schweige wie ein Grab.«
Hailee holte tief Luft. »Es ist mein Kind«, sagte sie dann. »Unser Kind.«
»Unser Kind?«, wiederholte Tommas begriffsstutzig. »Aber – nein, Hailee, es ist das Kind von einer verstorbenen Verwandten der Tremaynes. Das hat mir doch Mr Tremayne gerade erklärt.«
»Das hat er nur gesagt, weil das die offizielle Version ist. Und um mich und das Kind zu schützen. Aber es stimmt nicht. Mr Tremayne und seine Schwester wissen Bescheid. Und sie waren so großzügig, die kleine Sukey bei sich aufzunehmen und als Kind einer Verwandten auszugeben.«
Tommas wirkte, als hätte er immer noch nicht begriffen. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Verstehst du nicht, Tommas? Es ist mein Kind. Von dir. Ich war schwanger, als du in den Krieg gezogen bist.«
»Schwanger? Aber – du hast nie etwas davon geschrieben.«
»Weil ich nichts davon wusste! Es hat sich irgendwie – in mir versteckt. Ich habe es erst gemerkt, als ich schon in den Wehen lag. Sie fingen an, als ich gerade im Garten war. Es war schrecklich. Ich dachte, ich sterbe, so schlimm waren sie.«
Tommas sah aus, als hätte er Zahnschmerzen. Von Sachen wie Wehen wollte er offenbar nichts hören.
»Ich bin wirklich Vater? Ich habe ein Kind?«
Hailee nickte, ein kleines Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. »Ja. Eine Tochter. Sie heißt Susannah. Sukey.«
»Sukey …«, wiederholte er langsam. »Aber …« Er schien Schwierigkeiten zu haben, die Nachricht nach und nach zu verarbeiten. »Aber wieso ist sie jetzt bei Mrs Tremayne?«
Hailee schluckte und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Und dann erzählte sie ihm von Ada Tremaynes Vorschlag.
»Ich wusste nicht weiter. Ich hätte sie weggeben müssen oder meine Stelle verloren. Du warst ja nicht da, und wir sind nicht verheiratet, und – und alles ist gerade so schwierig.« Jetzt begannen die Tränen doch zu fließen. »Ich … ich vermisse die Kleine so sehr.«
Tommas setzte sich plötzlich kerzengerade auf – und verzog das Gesicht, weil ihm seine Wunde offenbar Schmerzen bereitete. »Das wird jetzt alles anders«, sagte er mit fester Stimme. »Du weißt noch, was ich dich vor dem Krieg gefragt habe? Im Wald, bei dem alten Tempel?«
Hailee nickte.
»Dann sag es.«
»Du hast mich gefragt, ob ich dich heiraten will«, flüsterte sie.
»Und was hast du geantwortet?«
»Ich habe ja gesagt.«
Tommas lächelte. »Dann ist es klar: Wir heiraten. So schnell wie möglich.« Er zog sie an sich. »Alles wird wieder gut, Hailee, das verspreche ich dir.«
*
Hailee war glücklich. Tommas hatte vor seiner Rückkehr nach Falmouth noch einmal mit Mr Tremayne gesprochen, und der Squire hatte sich um alles gekümmert. Seit Kurzem stand es fest: Am kommenden Samstag würden Tommas und Hailee in der kleinen Kirche von St Ewe heiraten.
Danach würde Tommas erst einmal wieder an die Front müssen. Bis er aus dem Krieg zurückkäme, würde alles so weitergehen wie bisher: Ada Tremayne würde sich zusammen mit der Amme um die kleine Sukey kümmern, und Hailee würde vorerst weiter im Haus und im Garten arbeiten. Aber wenn der Krieg endlich vorbei und Tommas zurück wäre, würde alles anders – nein, besser – werden.
Es waren nicht viele Leute, die sich an diesem Samstag vor der kleinen Kirche von St Ewe eingefunden hatten. Neben den Hausmädchen Demi und Jenna sowie den Küchenhilfen Fanny und Lizzie waren zu ihrer Freude sogar der Obergärtner und Mrs Hammett, die Köchin, erschienen. Hailee trug ihr bestes Kleid und hatte sich von Demi einige Blumen in ihr hochgestecktes dunkles Haar flechten lassen. In ihrer Hand trug sie einen Strauß aus bunten Sommerblumen, den sie selbst gebunden hatte. Als sie sich vorhin im Spiegel angeschaut hatte, hatte sie sich recht hübsch gefunden. Mit den hochgesteckten Haaren und den dunklen, mandelförmigen Augen sah sie fast ein bisschen exotisch aus.
Sie war gerührt, als sie sah, dass Mr Griffin sich zur Feier des Tages eine rote Nelke ins Knopfloch seiner Jacke gesteckt hatte. Die vielen Aufgaben, die jede und jeder von ihnen zu erledigen hatte, erlaubten es eigentlich nicht, dass jemand der Arbeit fernblieb, aber für diesen Tag hatte man offenbar eine Ausnahme gemacht.
Und so wartete Hailee an diesem sonnigen Julivormittag vor der Kirche auf ihren zukünftigen Ehemann. Bald würde sie Mrs Tommas Quinn sein und nicht mehr Miss Hailee O’Connor.
Sie wartete. Tommas ließ sich Zeit. Das war durchaus verständlich, schließlich musste er erst von Falmouth zum Bahnhof, um von dort nach St Austell zu fahren. Und dort stand Mr Tremaynes Chauffeur bereit, um Tommas abzuholen und mit dem Automobil zu seiner Trauung zu bringen.
Es dauerte. Nach und nach verabschiedeten sich einige der Wartenden, weil sie nicht länger bleiben konnten und die Arbeit rief. Als nach über einer Stunde endlich das Automobil von Mr Tremayne um die Ecke bog, seufzte Hailee erleichtert auf. Aber es war nur der Chauffeur, der im Wagen saß. Kein Tommas.
Der Zug aus Falmouth, erklärte er, sei gekommen, habe gehalten und sei dann weitergefahren. Niemand sei ausgestiegen, obwohl er noch lange am Bahnsteig gewartet habe. Und der nächste Zug aus Falmouth käme erst wieder am Folgetag, er habe deswegen mit dem Bahnwärter gesprochen.
Wo blieb Tommas nur?
Allmählich wandelte sich Hailees Vorfreude in Enttäuschung. Und schließlich in Verzweiflung.
Hatte Tommas womöglich kalte Füße bekommen? Hatte er sie sitzen gelassen?
Eine letzte, schwache Hoffnung blieb ihr noch: Vielleicht hatte er den Zug verpasst und war jetzt zu Fuß unterwegs. Oder er hatte sich eine andere Mitfahrgelegenheit gesucht. Sie würde einfach noch etwas länger warten.
Aber eine weitere Stunde später war Tommas noch immer nicht aufgetaucht. Inzwischen waren bis auf Demi alle anderen Angestellten zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. In Demis Begleitung lief auch Hailee zurück nach Heligan und nahm dort stumm wieder ihre Arbeit auf. Sie wollte mit niemandem reden, wollte niemanden sehen.
Als es Zeit für das Abendessen der Hausangestellten war, nahm Mr Pritchard, der Butler, sie beiseite.
»Mr Tremayne möchte Sie sehen«, sagte er. »In der Bibliothek.«
In Hailee wurde es kalt. Drohte ihr jetzt Ärger? Würde man sie womöglich entlassen, weil sie den gesamten Vormittag gefehlt hatte? Aber die Tremaynes wussten doch, dass sie heiraten wollte. Sie hatten doch sogar alles dafür organisiert.
Der Squire empfing sie in der Bibliothek. Hier war sie noch nie gewesen. In einer anderen Situation hätte sie vermutlich die vielen, deckenhohen Regale mit den Unmengen von Büchern darin bewundert, aber jetzt hatte sie keinen Blick dafür.
»Setzen Sie sich, Hailee.« Mr Tremayne deutete auf einen vornehmen Stuhl in einer Sitzecke, und Hailee ließ sich ganz vorne auf die Sitzfläche nieder, wo sie sofort wieder aufspringen konnte. »Ich habe gehört, was passiert ist. Dass Mr Quinn, Ihr zukünftiger Ehemann, nicht erschienen ist.«
»Es … es tut mir leid, Sir«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Ich wollte bestimmt keinen Ärger machen.«
Der Squire sah sie erstaunt an, dann schüttelte er leicht den Kopf. »Nein, Hailee, Sie haben ganz sicher keinen Grund, sich zu entschuldigen.«
Er legte die Fingerspitzen zusammen und beugte sich leicht vor. Dann erzählte er ihr, dass ihm die Sache mit Tommas keine Ruhe gelassen habe, und so sei er an diesem Nachmittag mit seinem Chauffeur nach Falmouth gefahren.
Hailee öffnete schon den Mund, um sich dafür zu bedanken, ließ es dann aber, weil er so ernst war, und schaute ihn nur verzagt an.
»Ich war im Trefusis House, wo Mr Quinn seit seiner Ankunft in England versorgt wurde. Dort habe ich mit dem Hospitalvorsteher sprechen können.«
Hailee wartete atemlos. Vermutlich würde er ihr gleich erzählen, dass Tommas ihm gesagt habe, er wolle Hailee doch nicht heiraten.
Aber Mr Tremayne schüttelte den Kopf. »Das Ganze ist wirklich sehr rätselhaft. Mr Quinn, hieß es, sei seit gut zwei Wochen Patient im Trefusis House. Er habe sich gut erholt und sollte morgen entlassen werden. Heute früh sei er sehr gut gelaunt gewesen und habe den ganzen Morgen über gepfiffen und gelacht. Und schon seit Tagen habe er überall erzählt, wie sehr er sich auf seine heutige Hochzeit freue.«
Hailee runzelte die Stirn. Das hörte sich nicht so an, als hätte Tommas kneifen wollen. »Und dann?«
»Der Vorsteher sagte, Tommas sei früh am heutigen Morgen aufgebrochen, angetan mit seiner Uniform. Seine Sachen habe er im Trefusis House gelassen, um sie morgen dort abzuholen. Bis zu meinem Erscheinen war der Vorsteher davon ausgegangen, dass Tommas inzwischen glücklich verheiratet sei und sich in den nächsten Tagen zum Militärdienst zurückmelden würde.«
Hailee nickte. Genauso war es geplant gewesen.
»Aber?«, fragte sie, als Mr Tremayne nicht weitersprach.
»Nichts mehr.« Mr Tremayne hob die Schultern. »Niemand hat ihn danach gesehen. Alle haben angenommen, er wäre mit dem Zug nach St Austell gefahren und dann weiter nach St Ewe, um dort zu heiraten.«
»Aber das hat er nicht«, rief Hailee verzweifelt. »Ich verstehe das nicht!«
»Ich auch nicht«, gab der Squire zu. »Womöglich hatte er einfach Angst bekommen. Angst vor der Verantwortung, Angst vor dem, was alles auf ihn zukommen würde.« Er beugte sich ein wenig vor und sah ihr ins Gesicht. »Und, Hailee, wir können mit offenen Karten spielen. Tommas weiß doch inzwischen, dass die kleine Sukey in Wirklichkeit sein Kind ist. Vielleicht traute er es sich einfach nicht zu, so plötzlich nicht nur Ehemann, sondern auch Vater zu sein.«
Hailee nickte langsam. Oder, schoss es ihr durch den Kopf, Tommas bezweifelte, dass das Kind von ihm war.
»Aber das ist doch noch lange kein Grund, einfach zu verschwinden!«
Mr Tremayne seufzte, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Es gibt noch eine Möglichkeit, aber die wird Ihnen nicht gefallen. Niemandem von uns.«
»Welche?«, fragte Hailee beunruhigt.
»Dass er sich dem weiteren Kriegsdienst entziehen wollte und desertiert ist.«