Heligan Gardens, Juli 1916
Tommas tauchte nicht mehr auf. Mr Tremayne bemühte sich auch in den folgenden Tagen, mehr über seinen Verbleib herauszufinden. Die anfängliche Vermutung, Tommas habe sich vermutlich nur vor der Hochzeit drücken wollen, erhärtete sich nicht. Der Squire machte sogar Tommas’ verwitwete Mutter ausfindig, aber auch die war ratlos – und ebenso untröstlich, denn ihr Sohn hatte sich bei ihr ebenfalls nicht gemeldet. Auch bei seiner Einheit, bei der er sich nach seiner Genesung hätte melden müssen, war er nicht erschienen. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Für die Armee war die Sache klar: Tommas hatte die Truppe unrechtmäßig verlassen. Und so erklärten sie den Gefreiten Tommas Quinn zum Deserteur und seine Familie für ebenfalls entehrt. Was das bedeutete, erklärte ihr Mr Tremayne: Wenn man Tommas jetzt aufgreifen würde, würde man ihn vor ein Kriegsgericht stellen und dann vermutlich im Morgengrauen erschießen.
Hailee hörte sich diese Erklärung, die ihr Mr Tremayne mit ernster Miene darlegte, ungläubig an.
»Aber Tommas würde doch nicht desertieren!«, sagte sie ein ums andere Mal.
Dennoch kamen ihr Zweifel. Wie gut kannte sie Tommas wirklich, diesen jungen Mann mit dem lustigen roten Haarschopf, der sich so gerne reden hörte? Konnte sie wirklich sicher sein, dass er sich nicht doch dem Kriegsdienst entzogen hatte?
In gewisser Weise war es sogar besser, dass sie noch nicht mit ihm verheiratet war. Für die Angehörigen von Deserteuren gab es keine Kriegsrente, nur Schande. Als seine Frau wäre sie so mittellos gewesen wie zuvor.
Neben ihrer Sorge und Verzweiflung wegen seines unerklärlichen Verschwindens gab es noch einen weiteren Punkt, der Hailee zu schaffen machte: Mit der Heirat und nach Tommas’ Rückkehr aus dem Krieg hätten sie die kleine Sukey zu sich genommen. Aber diese Hoffnung hatte sich jetzt endgültig zerschlagen.
*
Hailee hatte nicht lange Zeit, ihren trüben Gedanken nachzuhängen. In diesen schweren Zeiten wurde jede Hand gebraucht, und als Ada Tremayne sie fragte, ob sie sich vorstellen könnte, sich zur freiwilligen Hilfskrankenschwester ausbilden zu lassen, sagte sie kurzerhand zu.
Schon wenige Tage später reisten Hailee, Demi und ein weiteres Hausmädchen mit vielen anderen Frauen jeden Alters und aus allen Gesellschaftsschichten nach Launceston im Norden Cornwalls. In dem zehntägigen Kurs lernte sie viel über Erste Hilfe und Krankenpflege, wie man Wunden verband und Essen reichte. Zudem erhielt sie eine neue Dienstkleidung.
Hailee liebte ihre neue, adrette Uniform, die sie als Hilfskrankenschwester zu tragen hatte. Jeden Morgen kleidete sie sich sorgfältig an, so, wie man es ihr und ihren Kolleginnen gezeigt hatte. Zuerst die langen schwarzen Strümpfe und das leichte, vorne gebundene Korsett. Dann der Unterrock, über den das gestärkte Kleid aus blauer Baumwolle gestreift wurde. Darüber die lange weiße Schürze mit zwei großen Taschen und zwei ebenfalls weiße Ärmelschoner. Über das Haar kam ein weißes Kopftuch, das im Nacken geschlossen wurde. Den Abschluss bildeten ein gestärkter weißer Kragen und flache schwarze Schuhe.
Zurück in Heligan fühlte Hailee sich damit sehr viel wichtiger als in der einfachen schwarzen Tracht eines Hausmädchens. Sobald sie sich in den Krankenzimmern aufhielt, war sie nicht mehr Hailee, die Küchenhilfe, sondern Schwester Hailee.
Außer ihr selbst gab es in Heligan noch drei weitere Hilfskrankenschwestern und zwei ausgebildete Krankenschwestern. In den freigeräumten drei Räumen des Erdgeschosses standen jetzt sechzehn Betten, und fast alle waren schon belegt. Anfangs hatte Hailee noch Hemmungen gehabt, sich zwischen all den Männern zu bewegen, aber bald wurde sie selbstbewusster.
Die Soldaten – ausschließlich verletzte Offiziere des Royal Flying Corps – waren zuvorkommend und ausnahmslos dankbar für die Pflege und Fürsorge, die man ihnen angedeihen ließ. Hailee maß ihnen den Puls und trug den Wert auf dem Krankenblatt ein, sie säuberte Urinflaschen und Bettpfannen, verband Wunden neu und half beim Essenverteilen, wusch und fütterte Männer, die das noch nicht selbst konnten – sie tat all das, wofür Hilfsschwestern vorrangig eingesetzt wurden. Und wenn die Zeit es erlaubte, setzte sie sich auch zu ihren Patienten und unterhielt sich mit dem ein oder anderen.
Die verletzten Offiziere, die zu ihnen kamen, waren größtenteils auf dem Weg der Genesung. Meist mussten sie nur zu Anfang noch das Bett hüten. Wenn es ihnen später besser ging und sie aufstehen konnten, gingen sie gerne in Heligans Gärten spazieren oder saßen in der Sonne.
Es gab Verletzte mit Schusswunden, mit Knochenbrüchen oder mit amputierten Gliedmaßen, Verletzte, die giftiges Gas eingeatmet hatten, und welche mit Schädelverletzungen. Einer der Offiziere war bei einem Flugzeugabsturz schwer am Kopf verletzt worden. In einem Londoner Krankenhaus hatte man ihm eine Stahlplatte in den Schädel eingesetzt, und jetzt ging es ihm schon wieder viel besser.
Immer mehr Patienten kamen. Im September trennte man mit einem Paravent auch noch einen Großteil der Bibliothek als Krankenstation ab, sodass für die Tremaynes nur ein kleiner Eckbereich zwischen den Büchern übrig blieb.
Hailee kam jetzt fast gar nicht mehr in den Garten, aber sie mochte auch die Tätigkeit im Genesungsheim. Der anstrengende Dienst lenkte sie ab und half ihr, nicht schwermütig zu werden. Anfangs hatte sie noch gehofft, dass Tommas wieder auftauchen und eine Erklärung für sein rätselhaftes Verschwinden abgeben würde. Aber als immer mehr Zeit verstrich, begrub sie diese Hoffnung und stürzte sich noch eifriger in die Arbeit.
*
Der kurze Heimaturlaub in Heligan war viel zu schnell vorübergegangen. Vincent hatte es sehr genossen, endlich wieder üppiges Grün und blühende Blumen zu sehen und etwas Sinnvolles mit seinen Händen zu tun.
Jetzt waren sie wieder zurück an der Front, und alles war wie vorher. Oft vertrieben er, Nicholas und die anderen Kollegen sich die endlosen Stunden in den Unterständen damit, über Heligan zu reden. Was jetzt wohl im Gemüsegarten wuchs oder wie sie den Italienischen Garten weiter gestalten würden.
Selten einmal hörte man den trillernden Gesang einer Feldlerche. Die einzigen Tiere, die sie zu sehen bekamen, waren Ratten und gelegentlich eine der Brieftauben, mit denen Nachrichten übermittelt wurden.
Dicht neben dem Schützengraben hatten sie einen kleinen Gemüsegarten mit ein paar kümmerlichen Pflanzen angelegt, die sie von einem belgischen Bauern erhalten hatten. Daneben gab es, der Schönheit wegen, auch noch ein Beet, in dem jetzt ein paar bunte Wildblumen blühten.
Die Essensrationen waren weiter gekürzt worden. Was in Heligan und anderswo als Unkraut galt, wurde hier notgedrungen verwendet: Unkraut und Brennnesseln wanderten in den Topf und ergaben eine nicht gerade wohlschmeckende Suppe.
Und doch war Vincent inmitten all dieser Entbehrungen so glücklich wie schon lange nicht mehr. Endlich gab es zwischen ihnen keine Geheimnisse mehr: Er liebte Nicholas, und Nicholas liebte ihn.
Dennoch durfte niemand wissen, dass sie mehr verband als nur Freundschaft. Soldaten, die sich zu ihresgleichen hingezogen fühlten, wurden geächtet und ihren Vorgesetzten wegen Anstößigkeit gemeldet. Einige waren dafür sogar schon vor ein Kriegsgericht gestellt worden und ins Gefängnis gekommen.
Aber wenn sie sicher waren, dass niemand es mitbekam, wurde aus ihren Berührungen mehr, Küsse und Liebkosungen, die meist damit endeten, dass sie ihr ersticktes Stöhnen so gut wie möglich unterdrückten, während sie beide sich das nahmen, was sie so dringend brauchten.
Seit der letzten Ablösung waren über zwanzig Tage vergangen. Inzwischen war es ein Glücksfall, wenn es gelang, für ein paar Tage freizubekommen. Meist verbrachten sie jetzt Wochen um Wochen im Schützengraben. Um so froher war Vincent, als sie nach langer Zeit endlich wieder für ein paar wertvolle Tage zur Erholung hinter die Front durften.
Am letzten Abend, bevor sie wieder zurück in die Schützengräben mussten, saßen er und Nicholas an einem kleinen Weiher in der Nähe ihrer Unterkunft. Es war angenehm warm, die Abendsonne warf einen goldenen Glanz auf das Wasser, und Blumenduft erfüllte die Luft. In einer der vielen leuchtend roten Mohnblüten sah Vincent zwei Hummeln, die darin zusammen Pollen sammelten. Es war ein rührender Anblick. Kaum zu glauben, dass nur wenige Meilen entfernt der Krieg tobte.
Nicholas schwieg und sah reglos vor sich hin. Vincent war von geheimem Stolz erfüllt: Sein Freund war vor Kurzem zum Unteroffizier ernannt worden und trug jetzt den doppelten Winkel eines Corporals auf beiden Jackenärmeln.
Nicholas nickte. »Ich denke nur nach.«
»Überanstrenge dich nur nicht. Nicht dass du noch Kopfschmerzen bekommst.«
Nicholas verzog das Gesicht zu einem leichten Grinsen. »Dummschwätzer«, sagte er und stupste ihn mit der Schulter an. Bei dieser Geste wurde Vincent ganz warm ums Herz.
»Erinnert dich das nicht auch an den Italienischen Garten in Heligan?«, fragte Nicholas. »Mr Tremaynes sonniges Plätzchen?«
»Ja, ein bisschen schon. Allerdings fehlen die Frösche.«
Nicholas hatte den Kragen seiner Uniformjacke geöffnet, darunter war das Hemd in verwaschenem Graublau zu sehen. Vincent hätte gern den Arm um ihn gelegt, aber nicht hier, wo jeder zufällige Beobachter sie sehen könnte.
»Weißt du«, sagte Nicholas, »ich stelle mir manchmal vor, wie es sein wird, wenn der Krieg vorüber ist und wir wieder in Heligan sind. Vielleicht könnten wir uns zusammen ein Zimmer nehmen?«
Vincent nickte beglückt. Doch dann kamen ihm Zweifel. »Ein Zimmer? Zwei Männer zusammen?«
»Wir könnten behaupten, wir wären Brüder«, sagte Nicholas mit einem Schulterzucken.
»Oder wir mieten uns ein kleines Cottage, so wie Charles mit seiner Familie«, schlug Vincent vor.
»Ja, ein kleines Cottage wäre sogar noch besser. Ich würde mich um die Blumen kümmern. Und du um das Gemüse. Und dort werden wir leben auf der bienenlauten Lichtung.«
»Bienenlaute Lichtung? Sehr poetisch. Wie kommst du nur immer auf solche Formulierungen?«
Nicholas schloss die Augen und schien einen Moment zu überlegen.
»›Ich werde‹«, begann er dann leise und in getragenem Rhythmus, als würde er etwas rezitieren, »›nach Innisfree gehen, und dort will ich eine kleine Hütte bauen, aus Lehm und Flechtwerk; neun Reihen Bohnen werde ich haben, einen Korb für die Honigbiene, und allein werde ich dort leben auf der bienenlauten Lichtung. Und ich werde etwas Frieden haben.‹« Er öffnete die Augen.
»Das ist wunderschön«, sagte Vincent leise. »Hast du das geschrieben?«
»Ich?« Nicholas schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich bin kein Dichter. Das ist von William Yeats. Ich habe vergessen, wie es weitergeht.« Er sah ihn an. »Vincent?«
Die Art und Weise, wie er seinen Namen sagte, ließ Vincent einen wohligen Schauer das Rückgrat hinablaufen. Ob Nicholas an dasselbe dachte wie er?
»Ja?«
»Lass uns noch mal auf den Heuboden gehen.«
Vincent erhob sich mit vor Vorfreude und Aufregung klopfendem Herzen. »Aye, Sir.«