Flandern, Westfront bei Ypern, April 1917
Zu ihrer Überraschung tauchte im Frühjahr ein bekanntes Gesicht bei ihnen im Schützengraben auf: Ralph Vivian Babington, achtzehn Jahre alt, der jüngste Neffe ihres Gutsherrn Jack Tremayne. Sie hatten den jungen Mann zum letzten Mal vor vier Jahren gesehen, als er noch zur Schule gegangen war. Damals war er zu Besuch in Heligan gewesen und hatte sich auch mit den Gärtnern unterhalten. Jetzt kam er als Second Lieutenant frisch von der Militärakademie und sollte sein erstes Kommando übernehmen. Er hatte unbedingt so bald wie möglich an die Front gewollt.
Auch wenn Vincent und Nicholas nur wenige Jahre älter waren als der junge Babington, war es für sie Ehrensache, auf ihn aufzupassen. Was sich als gar nicht so einfach erwies, denn Ralph Babington war kaum zu bremsen, wenn es darum ging, gegen die Deutschen zu kämpfen. Seit damals war er nicht mehr viel gewachsen, aber was ihm an Körpergröße fehlte, machte er durch Tapferkeit wett. Im Schützengraben konnten sie ihn nur mit Mühe dazu bringen, den Kopf unten zu halten, so sehr war er darauf erpicht zu sehen, was im Niemandsland vor sich ging.
»In diesem kleinen Körper steckt ein riesiges Herz«, sagte Nicholas in widerwilliger Anerkennung, nachdem er Ralph wieder einmal nur mühsam davor hatte zurückhalten können, viel zu früh loszustürmen.
Vincent nickte seufzend. »Aber es ist ein junges und naives Herz.«
*
Ralph fiel am 9. Oktober 1917 während der Schlacht von Poelcappelle gegen die deutsche Armee.
Sie erfuhren davon, nachdem sie gemeinsam mit vielen anderen Männern in einer kräftezehrenden Aktion eine schwere Kanone durch den Schlamm gezogen hatten. Das trockene und sonnige Wetter der vergangenen Wochen war vorüber, und inzwischen verdunkelten tief hängende Wolken das Schlachtfeld. Seit Tagen regnete es immer wieder. Der Boden, der durch den ständigen Beschuss schon schwer beschädigt war, verwandelte sich durch die heftigen Niederschläge allmählich in einen Sumpf – in einen »Brei aus Schlamm«, wie sie es nannten, der einem beim Laufen die Stiefel von den Füßen zog.
Seit Juli hatte es immer wieder Versuche gegeben, einen Durchbruch im Raum Ypern zu erzielen, um die von den Deutschen besetzten Häfen an der belgischen Küste, von wo aus sie britische Schiffe angriffen, zu befreien. Second Lieutenant Ralph Babington, hörten sie jetzt, hatte seine Einheit nachts bei strömendem Regen zu einem Sammelplatz geführt, um danach zur Schlacht vorzustoßen, die bei dem kleinen Ort Poelcappelle stattfinden sollte. Aber in der Dunkelheit schlug eine deutsche Granate in ihre Reihen ein – sie tötete Ralph und mehrere seiner Männer. Er wurde nur neunzehn Jahre alt.
Nicholas hatte seit der Nachricht von Ralphs Tod kein Wort mehr gesagt. Jetzt ruhten sie sich aus, verteilt im Schützengraben. Es hatte aufgehört zu regnen, aber noch immer war es kalt und feucht, das Wasser stand überall in großen Pfützen. Die nächsten Kameraden waren ein paar Schritte entfernt, suchten zusammengekauert Schutz im kalten Schlamm. Jeder von ihnen war erschöpft und ausgezehrt. Schon länger hatten sie kaum mehr geschlafen oder etwas gegessen, da die Essensträger große Schwierigkeiten hatten, bis zur Front vorzudringen.
Nicholas hatte sich eine Zigarette angesteckt – das Rauchen half, den Hunger zu vertreiben und die Müdigkeit zu bekämpfen. Er bot auch Vincent eine an, aber der schüttelte den Kopf.
Vincent beobachtete ihn, wie er rauchte. Sein Freund wirkte seltsam abwesend – als fehle nicht viel, und er könnte zusammen mit dem Rauch plötzlich verschwinden.
»Was ist los?«, fragte Vincent schließlich.
Nicholas atmete aus. Rauch stieg über seinem Kopf auf.
»Ist es all das wert?«, fragte er. »All dieses verdammte, sinnlose Sterben, und wozu?«
Vincent schwieg. Auf eine solche Frage gab es keine Antwort. Oder zumindest keine, die er geben konnte.
Nicholas nahm einen letzten Zug, dann ließ er die Zigarette in den Schlamm fallen und trat sie aus.
»Ich bin so müde, Vince.« In seiner Stimme lagen all die Wut und das Elend der vergangenen Tage. »Ich bin es leid zu kämpfen. Ich will einfach nur noch nach Hause. Zurück nach England. Nach Heligan.«
»Und das werden wir auch«, gab Vincent mit einer Zuversicht zurück, die er nicht wirklich empfand. Er rückte ein kleines Stück näher zu Nicholas und stieß ihn leicht in die Seite. »Hey, wir schaffen das schon. Bald ist dieser Krieg vorbei. Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten. Und dann geht es für uns beide nach Hause.«
Nicholas schenkte ihm das traurigste Lächeln, das Vincent je gesehen hatte.
»Ich glaube, ohne dich wäre ich verloren, Vince. Du bist das einzig Gute in all diesem Schlechten. Der Bessere von uns beiden.«
»Der Bessere? Was redest du da für einen Mist, Nick? Du bist ein genauso guter Mensch.«
Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Nicht so wie du.« Er sah auf einen unbestimmten Punkt irgendwo in der Ferne. »Ich habe hier meine dunkle Seite kennengelernt, und das hat mich erschreckt. Aber du, Vincent, du warst schon immer ein guter Mensch, und das bist du geblieben. Du kümmerst dich um jeden, der Hilfe braucht. Ich weiß noch, wie du in Heligan deinen Kuchen, den es zum Nachtisch gab, immer an die Vögel verfüttert hast. Du bist nicht zum Soldaten gemacht. Du gehörst nicht hierher.«
»Niemand von uns gehört hierher«, erwiderte Vincent, aber Nicholas reagierte nicht darauf.
»Versprichst du mir etwas?«
»Alles, was du willst«, sagte Vincent, während sich ein flaues Gefühl in seiner Brust breitmachte.
»Wenn es schiefgeht, dann …«
»Was meinst du mit schiefgehen?«, unterbrach Vincent ihn. Ein eisiges Gewicht schien ihn zu Boden zu ziehen.
»Du weißt genau, was ich meine, Vince. Und falls es so sein sollte, dann möchte ich, dass du dich um meinen Italienischen Garten in Heligan kümmerst. Um all die schönen Oliven- und Zypressenbäumchen. Sorge dafür, dass immer frische Kräuter zwischen den Steinplatten wachsen.«
»Sag mir nicht, wie man einen Garten pflegt!« Heftige, irrationale Angst überflutete Vincent, sodass er mit ungewohnter Aggressivität antwortete. »Das wirst du gefälligst alles selbst erledigen, du Idiot!«
Nicholas ging nicht auf seinen Ton ein und sah ihn nur an.
Es war nicht nur die feuchte Kälte, die Vincent frösteln ließ. Er schwieg, wandte seinen Blick ab und starrte auf den schlammigen Boden vor sich.
»Vince? Kannst du mir das versprechen?«
Vincent schluckte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sah auf. »In Ordnung«, sagte er, seine Stimme war heiser. »Ich verspreche es.«
*
Der Himmel schien jede Farbe verloren zu haben außer einem fahlen Graublau. Selbst die Morgendämmerung war nur ein helleres Grau, die Welt verschwamm im Dunst. Das kleine Gemüsefeld, das sie angelegt hatten, war längst verschwunden – niedergetrampelt und begraben unter Bergen von feuchter Erde. Die Welt bestand nur noch aus Nässe und Schlamm. Überall grollte und blitzte es, als befände man sich im Schlund der Hölle.
Nicht weit entfernt konnte Vincent die Schreie eines Sterbenden hören. Er konnte schon nicht mehr zählen, wie viele ihrer Kameraden gefallen waren. Und immer wieder diese verdammten Explosionen, die nie nachzulassen schienen. Mörserfeuer, Granaten, Bomben. Alles stank nach Blut und Tod.
Seit Tagen waren sie in Alarmbereitschaft, schliefen, wenn sie überhaupt dazu kamen, mit dem Gewehr in der Hand. Es hieß, die Deutschen planten einen weiteren Vorstoß, und der durfte auf keinen Fall Erfolg haben. Um endlich den deutschen Verteidigungsgürtel auf dem Westflandrischen Bergrücken zu durchbrechen, musste das Dorf Passchendaele bei Ypern erobert werden.
Der Befehl zum Angriff erscholl, und wie alle anderen seiner Kameraden kletterte auch Vincent die wackeligen Leitern aus dem Schützengraben hinauf und stürmte vorwärts, das Gewehr in der Hand. Rannte über das Niemandsland, brüllte, schoss, rannte weiter, schoss erneut – ganz so, wie er es schon so oft getan hatte.
Nicholas. Wo war er? Wo zum Teufel war Nicholas?
Er zwang sich zum Stehenbleiben, keuchend und mit rasendem Herzen.
Das Schlachtfeld war übersät mit Toten und Verwundeten. So weit er sehen konnte, war der Boden vernarbt von Granattrichtern, kreisrunden Mulden, in denen sich das Wasser sammelte. Die zerfetzten Stümpfe dort hinten waren einst Bäume gewesen. Jetzt ragten ihre Gerippe wie unheimliche Mahnmale in die von Pulverdampf erfüllte Luft.
Irgendwo hörte er Schüsse, Schreie, dann Stille.
Er rannte wieder los, in Richtung der Schüsse.
Dann sah er Nicholas. Er lag ausgestreckt auf dem schlammigen Boden und versuchte verzweifelt, nach seinem Gewehr zu greifen, das sich gerade außerhalb seiner Reichweite befand. Drei deutsche Soldaten lagen tot neben ihm. Sein Gesicht war blass und glänzte vor kaltem Schweiß. Ein Geschoss hatte ihm den Bauch aufgerissen.
Vincent fiel neben ihm auf die Knie, entsetzliche Angst schnürte ihm die Kehle zu. Kaltes Wasser drang durch seine Hose, aber er spürte es kaum.
Er war selbst schon einmal angeschossen worden, vor ein paar Monaten. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn der Schmerz den Schock der Schlacht einholte, wie es war, wenn sich die ganze Welt auf diese gottverdammten Qualen konzentrierte. Und das war damals eine vergleichsweise harmlose Schusswunde im Oberarm gewesen.
»Nein. Nein! Bitte nicht. Nicholas!«
Verzweifelt versuchte Vincent, die Blutung mit seinen bloßen Händen zu stoppen, drückte auf die Wunde und spürte das warme Blut. Aber das Blut floss durch seine Finger und durchtränkte Nicholas’ Uniform, immer mehr, immer mehr …
Nein. Nein, nein, nein!
»Hilfe! Hierher!«
Aber niemand hörte ihn. Niemand kam.
Das Schlachtengemetzel um sie herum, der Donner der Geschütze, die Kugeln, die dicht über ihn hinwegpfiffen – all das schien zu verschwinden, und es gab nur noch sie beide.
Nicholas sah ihn an, ruhig, ohne Angst. Der Schmerz war aus seinen Zügen verschwunden. Seine Augen waren sehr blau. »Es ist gut, Vince. Alles ist gut.«
»Nein …« Vincent schüttelte den Kopf und nahm Nicholas’ Gesicht in seine zitternden Hände. »Nein …!«
Aber es half nichts. Ohnmächtig musste Vincent mit ansehen, wie er ihm entglitt. Wie das Leben langsam aus Nicholas schwand und sein Körper erschlaffte.
Ein einzelner Schuss hallte durch die dunstige Luft, durchschlug seinen Brustkorb, und Vincent nahm den Schmerz hin wie eine Erlösung. Langsam sank er über dem Körper seines toten Freundes zusammen.
Das ist es, war sein letzter Gedanke. Das Ende.
Jetzt waren sie beide zu Hause.