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LEXI

Heligan Gardens, Anfang August

Der August fuhr noch einmal sein ganzes sommerliches Angebot an Farben und Formen auf. Im Sonnenuhrgarten summten Hummeln und Bienen zwischen den lilafarbenen Kugeln des Zierlauchs, daneben wuchsen leuchtend weißer Baummohn und rosafarbene blattartige Watsonien. Im Nutzgarten erfreuten sich die Besucher – mit und ohne Flügel – an der Farbenpracht der Zinnien, und bei der jährlichen Dahlienschau gab es spektakuläre Exemplare zu sehen.

Lexi war – mit Elizas mal mehr, mal weniger tatkräftiger Hilfe – mit den letzten Vorbereitungen für die zweite Ausstellung beschäftigt, die in wenigen Tagen eröffnet werden sollte. Dieser zweite Teil trug den Titel: »Ruf der Fremde. Heligan im Zeitalter der Pflanzenjäger« und konzentrierte sich vorrangig auf das, was Lexi über Avery Harrington und seine Reise nach Asien hatte herausfinden können. Dafür hatte sie ein weiteres Plakat gestalten lassen, auf dem ein paar exotische Pflanzen, eine fernöstliche Pagode und der Auszug einer altertümlich gestalteten Landkarte von Indien und Nepal zu sehen war.

Diese Ausstellung würde, zusätzlich zur schon bestehenden, ebenfalls im Steward’s House stattfinden. Dafür sollten erneut die Wände des Cafés sowie der Gang und das Treppenhaus genutzt werden. Allerdings würden Lexi und Eliza einige der bisherigen Schaustücke entfernen und andere enger zusammenhängen müssen, da jetzt nicht mehr viel Platz übrig war.

Lexi hatte wie bei der ersten Ausstellung einige große Schautafeln und etliche kleinere gerahmte Exponate anfertigen lassen, die sie jetzt zusammen mit Eliza für eine erste Probe arrangierte.

»Wie sieht das an dieser Stelle aus?«

Lexi kniff die Augen zusammen und warf einen langen, kritischen Blick auf die Collage, die Eliza aus den Fotos einiger alter Briefe aus dem Archiv von Kresen Kernow zu einer ansprechenden Bildersammlung zusammengesetzt hatte.

»Ich bin nicht sicher. Probier mal die andere.«

Eliza ließ die Collage sinken und hielt die andere Schautafel hoch, eine mit einigen Bildern illustrierte Zusammenstellung über 1816, das »Jahr ohne Sommer«, in dem ein Vulkanausbruch im fernen Indonesien in halb Europa zu einem Kälteeinbruch mit Ernteausfällen und Hungersnöten geführt hatte.

Lexi begutachtete auch diese Tafel kritisch, dann nickte sie.

»Die passt besser.«

Nach und nach reihten sie auch die anderen großen Schautafeln an den Gängen und Zimmerwänden auf.

Zum einen den Brief von Damaris an ihre Schwägerin, in dem von Averys Flucht die Rede war. Inzwischen wusste Lexi, dass es Avery nach Indien verschlagen hatte und dass er dort ein Leben als Abenteurer und Pflanzensammler geführt hatte, bevor er – zumindest vorübergehend – wieder zurück nach Heligan gekommen war.

Eine Tafel zeigte eine kurze Auflistung der Pflanzenjäger des neunzehnten Jahrhunderts mit besonderem Augenmerk auf den dänischen Botaniker und Arzt Nathaniel Wallich. Vermutlich – so nahm Lexi an – war es Wallich gewesen, der Avery auf den Geschmack am Pflanzensammeln gebracht hatte. Gemeinsam waren sie mit einer kleinen Expedition bis ins ferne Nepal gereist, wo sie etliche Monate geblieben waren.

Des Weiteren gab es ein Foto eines getrockneten Cornus-capitata-Zweiges nebst handschriftlicher Notiz aus Wallichs Herbarium-Sammlung, die sich inzwischen in den Kew Gardens befand. Die Pflanze war im Juni 1817 in Nepal von Nathaniel Wallich und Avery Harrington entdeckt worden. Avery hatte sie später mit nach Heligan gebracht, wo viele Jahre lang eine Allee der prachtvollen gelbblühenden Bäumchen die lange Auffahrt von Heligan House gesäumt hatte. Inzwischen gab es in Heligan leider nur noch ein einzelnes trauriges Exemplar des exotischen Gewächses.

Und zuletzt präsentierten sie einen Auszug aus dem Buch Der bengalische Nachruf, wo Lexi die Bekanntgabe von Averys Tod im Jahr 1838 nach einem Leben voller Abenteuer gefunden hatte. Lexi hatte sich so lange und intensiv mit Avery und seinem Leben befasst, dass diese Nachricht sie schmerzte, als hätte sie ihn wirklich gekannt.

Die Eröffnung der zweiten Ausstellung fand einen Monat nach der ersten statt, und das um einiges leiser als ihr Vorgänger, was Lexi mehr als recht war. Diesmal gab es keine großen Ansprachen oder prominenten Besuch, nur einen kleinen Umtrunk mit Theo, Eliza und einigen anderen Beteiligten. Aber natürlich freute Lexi sich, dass wiederum zahlreiche Besucher gekommen waren, die sich für die alte und die neue Ausstellung interessierten.

Am frühen Mittag trieb es sie in die Cafeteria im Eingangsbereich. Zum einen brauchte sie dringend Koffein und etwas zu essen, zum anderen hoffte sie, dass auch Ben Zeit für eine kurze Pause an diesem Ort finden würde.

Sie nahm eine Brokkoli-Kartoffel-Suppe mit einer dicken Scheibe Landbrot, dazu einen Kaffee.

Cait stand auch an diesem Tag hinter der Theke. Sie wartete, bis sie zwei weitere Kunden abkassiert hatte, auf deren Tablett sich die gesammelten Zutaten für kornischen Cream Tea – Scones, Marmelade, Clotted Cream und schwarzen Tee mit Milch – fanden. Dann wandte sie sich an Lexi.

»Und, wie ist es gelaufen?« Das silberne Piercing unter Caits Oberlippe blitzte kurz auf.

»Sehr gut«, gab Lexi zurück. »Aber ich muss gestehen, dass ich schon manchmal den Tag herbeisehne, an dem auch die letzte Ausstellung unter Dach und Fach ist.«

»Kann ich mir vorstellen.« Cait deutete zum Eingang der Cafeteria. »Schau mal, da kommt ja auch schon dein Herzensmann.«

Ben hatte Glück: Obwohl es schon Mittag war, bekam er noch ein üppiges warmes Frühstück mit Würstchen, knusprigem Speck, gebratenen Champignons und Tomaten, gebackenen Bohnen, Rösti, Spiegeleiern und Toast.

»Hattest du kein Frühstück?«, fragte Lexi mit Blick auf sein Essen.

»Doch, aber das ist ja schon ewig her. Und von so einer kleinen Suppe«, er deutete auf Lexis Wahl, »wird man doch nicht satt.«

Mit ihren Tabletts suchten Lexi und Ben sich einen der wenigen noch freien Tische, auf denen ein paar gelbe Löwenmäulchen in kleinen Vasen standen.

Einige Minuten aßen sie schweigend. Lexi war schnell gesättigt und schaute Ben zu, der sich sein Essen in Hochgeschwindigkeit einverleibte.

»Wie war deine Führung?«, fragte sie, als sein Teller fast leer war.

Ben hatte an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Leben eine Besucherführung gemacht, bei der er eine Gruppe von Interessierten in die Magie und Geheimnisse des Lost Valley einführte, wie es vollmundig in der Ankündigung hieß. Dabei ging es, so hatte er ihr erzählt, vor allem um die Techniken früherer Waldbearbeitung.

Er nickte und spießte einen gebratenen Champignon auf. »War okay.«

»War okay? Geht es etwas ausführlicher?«

Er schob sich den Pilz in den Mund und hob die Schultern. »Es war schön, aber anstrengend«, sagte er, nachdem er geschluckt hatte. »Ich hatte gedacht, ich muss nur erzählen, was ich schon weiß. Aber die haben mir Löcher in den Bauch gefragt. Und am Ende hatte ich Mühe, mich von ihnen loszueisen. Ich frage mich, wie Orlando das mehrmals am Tag machen kann.«

Orlando war Besucherguide und manchmal auch Kinderunterhalter. »Seine Führungen sind kürzer und haben andere Themen«, sagte Lexi, die selbst am Anfang ihrer Tätigkeit in Heligan einmal mit Orlando unterwegs gewesen war. »Die konzentrieren sich schließlich nur auf die zentralen Sachen. Melonenhof und so was.«

»So wird es wohl sein. Isst du das noch?« Ben deutete auf die halbe Brotscheibe, die Lexi übrig gelassen hatte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nimm nur.«

Von ihrem Platz aus konnte sie ein junges Paar beobachten, das sich an einen der Tische draußen gesetzt hatte und das nun immer wieder erschrocken zusammenzuckte, weil einige Spatzen auf der Suche nach Futter dicht über seinen Köpfen hinwegflatterten. Schließlich gaben die beiden entnervt auf und suchten fluchtartig das Weite, während die versammelte Spatzenschar sich über die Krümel auf dem Tisch hermachte.

Lexi grinste. Damit musste man hier rechnen – Heligan förderte schließlich aktiv die Vermehrung von Wildtieren, zu denen auch diese possierlichen Vögel zählten.

»Und bei dir?«, fragte Ben. »Wie lief die Eröffnung zu Ausstellung Nummer zwei?«

»Gut, wirklich. Aber nachher geht es übergangslos mit den Vorbereitungen zu Ausstellung Nummer drei weiter. Ich freue mich schon auf den Moment, wenn auch das vorüber ist. Dann werde ich mich zurücklehnen und den Rest der Feierlichkeiten endlich so richtig genießen.«

»Geht mir ähnlich. Ich muss gleich zu den Proben fürs Theaterstück.« Ben wischte den Rest Ei mit Lexis Brot auf. »Ich bin übrigens gerade Theo über den Weg gelaufen. Sie dreht ziemlich am Rad.«

»Wirklich? Heute Morgen wirkte sie noch recht entspannt.«

»Ja, da wusste sie ja noch nicht, dass Dawson aussetzen muss.«

»Dawson? Hilf mir mal – das ist wer?«

»Der Typ, der momentan für die Requisite bei unserem Stück zuständig ist. Fällt jetzt aber leider für die nächsten Wochen aus, weil er sich bei einem Fahrradunfall den Arm und mehrere Rippen gebrochen hat.«

»Oh, das ist natürlich blöd.« Sie überlegte nicht lange. »Könnte ich nicht einspringen? Ich hab so was schon mal bei einem Firmenevent gemacht.«

»Für die Requisite? Natürlich, aber hast du nicht gerade gesagt, du hättest genug mit deiner nächsten Ausstellung zu tun?«

Sie hob die Schultern. »Das schaffe ich schon. Wir können schließlich nicht riskieren, dass die Aufführung an so was Simplem scheitert.«

Ben nickte, dann sah er sie an. »Was wirst du eigentlich tun, wenn – na ja«, er machte eine Bewegung, die ganz Heligan einschloss, »wenn das alles vorbei ist? Wenn dein Projektvertrag nach den Jubiläumsfeierlichkeiten ausläuft?«

»Darüber muss ich unbedingt mit Theo reden.« Lexi strich sich eine ihrer in hellem Grau gefärbten Haarsträhne zurück. »Ich würde nämlich sehr gerne hierbleiben. Wegen Heligan … und wegen dir.«

Ein Lächeln ging über sein Gesicht. »In dieser Reihenfolge?«

Lexi grinste zurück. »Das kannst du dir aussuchen.«

*

Bevor Lexi mit ihren Vorbereitungen weitermachte, wollte sie noch etwas anderes erledigen. Wieder einmal führte ihr Weg sie zur Mud Maid am Waldrand. Dieser Ort, an dem die aus Erde geformte überlebensgroße Figur einer schlafenden Frau auf der Seite lag, verströmte noch immer jenen Hauch von träumerischem Schwebezustand, in dem ganz Heligan einst gelegen haben musste. Hier erinnerte alles noch sehr an den Garten, der darauf wartete, aus seinem langen, verwunschenen Schlaf geweckt zu werden und zu neuem Leben zu erwachen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach zwölf. Auf den Malediven war es fünf Stunden später, also fünf Uhr am Nachmittag. Ein guter Zeitpunkt für einen Anruf.

Sie setzte sich auf einen Baumstamm in der Nähe des Schildes, das darum bat, die Absperrung zu respektieren und die Mud Maid nicht zu wecken, zückte ihr Handy und wählte. Sie hörte den Ton, der die Verbindung ins Ausland anzeigte, zwei kurze Töne hintereinander, dann eine Pause, dann wieder die beiden Töne.

Während sie wartete, stellte sie sich ihre Eltern vor: ihre Mutter im leichten Sommerkleid, die hellbraunen Haare locker hochgesteckt; ihren Vater mit kurzem Bart, den drahtigen Körper tief gebräunt, der gerade womöglich mit einem Touristen redete.

Dann ein Knacken in der Leitung, und die vertraute Stimme meldete sich: »Tauchschule Andrews.«

Das Gespräch drehte sich um wichtige und weniger wichtige Dinge – es tat Lexi gut, wieder einmal länger mit ihrer Mutter zu reden.

»Wir planen übrigens, demnächst für ein oder zwei Wochen nach England zu kommen«, sagte Constance Andrews dann. »Wir haben ein paar Behördengänge zu erledigen, und vielleicht besuchen wir auch ein paar Freunde.«

Sie machte eine kurze Pause, als würde sie sich nicht ganz trauen, dann gab sie sich einen Ruck. »Es wäre wunderbar, Liebes, wenn wir uns dann endlich wieder einmal sehen könnten. Du musst uns ja nicht verraten, wo genau du dich aufhältst, aber vielleicht könntest du nach London kommen, und wir treffen uns dort. Was hältst du davon?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« Lexi hatte in der Tat einige Tage darüber gegrübelt und schließlich entschieden, dass sie das Risiko eingehen konnte. Außerdem hatte sie schreckliche Sehnsucht nach ihren Eltern. »Und ich habe eine noch bessere Idee. Was haltet ihr davon, wenn ihr nach Cornwall kommt?«