Heligan Gardens, August
Der schmale Donnerbalken-Raum war angenehm kühl. Auf die weiß getünchte Rückwand der ehemaligen Gärtnertoilette hatten hier einst eine Reihe junger Männer, die in den Krieg ziehen würden, mit Bleistift ihre Namen geschrieben. Es war die Entdeckung dieser Namen an der Wand gewesen, mit der vor mehr als dreißig Jahren die Restaurierung der Heligan-Gärten begonnen hatte. Jetzt waren diese Unterschriften noch immer lesbar, durch eine dünne Plexiglasplatte vor Umwelteinflüssen geschützt. Dieser Teil Heligans war vom Imperial War Museum in London als »Lebende Gedenkstätte« des Ersten Weltkriegs anerkannt worden.
Lexi war im Melonenhof, einem ummauerten Teil im Herzen der Heligan-Gärten, in dem sich neben dem Donnerbalken-Raum auch mehrere Arbeitsgebäude und Gewächshäuser befanden. Sie trat ins Freie, wo sie der intensive Geruch von frischem Pferdemist empfing. Der Geruch ging von den langen Gräben aus, die sich fast über die gesamte Länge des Hofs erstreckten. Das hier war der restaurierte Ananasgraben, der inzwischen das ganze Jahr über in Betrieb war – der einzige funktionierende, mit Pferdemist beheizte georgianische Ananasgraben der Welt, wie Heligan immer wieder stolz betonte.
Daneben weitere Frühbeete, Spalierobst, das an den Ziegelmauern emporrankte, und das Melonengewächshaus selbst, das im frühen achtzehnten Jahrhundert erbaut worden war und schon damals durch einen Kessel beheizt wurde, dessen Rohre unter den Beeten verliefen. Durch die geöffnete Tür erhaschte Lexi einen Blick auf eine Reihe kugelrunder Melonen, die in hängematteartigen Netzen unter Glas ein Bad in der Sommersonne nahmen.
Hier, im Melonenhof mit seiner bewegenden Geschichte, würde der dritte Teil von Lexis Ausstellungen stattfinden. Gemeinsam mit Theo und Eliza hatte sie lange überlegt und schließlich entschieden, dass dieser Platz am besten dafür geeignet wäre.
Sie musste den Kopf einziehen, als sie den Geräteschuppen betrat, der noch den niedrigen Türsturz früherer Zeiten besaß. In diesem Gebäude gab es alte viktorianische Werkzeuge zu sehen, von denen einige während der Restaurierungsarbeiten unter Brombeerranken und Schutt gefunden worden waren. In dem Steintrog dahinter war sogar ein Baum gewachsen, hatte sie gehört.
Daneben befand sich der Pflanzschuppen, in dem es leicht muffig und nach Kompost roch, ein Geruch wie aus früheren Zeiten. Etliche Terrakottatöpfe standen säuberlich aufgereiht und nach Größe und Form sortiert an der Wand, am großen Pflanztisch gegenüber waren gerade zwei Frauen mit dem Eintopfen einiger kleinerer Pflanzen beschäftigt. Lexi grüßte sie kurz und ging dann weiter in Richtung Blumengarten.
Dort bewunderte sie die kunstvollen alten Gewächshäuser, bei denen man nur die verrotteten Balken ersetzt und das ursprüngliche Glas wiederverwendet hatte. Einige der Gewächshäuser hatten ungewöhnliche »Biberschwanz«-Fenster, die ihren Namen von der Form der charakteristischen, am unteren Ende gebogen geschnittenen Glasschindeln hatten, die den Regen in der Mitte der Scheiben und von den hölzernen Sprossen weg abfließen ließen.
Lexi beendete ihren Rundgang mit dem Besuch im ehemaligen Büro des Obergärtners. Der als begehbares Museum gedachte Raum wirkte wie in einer Zeitkapsel konserviert, als hätte der Mann es gerade erst verlassen, um seiner täglichen Arbeit nachzugehen, und würde gleich zurückkommen. Der große Kamin hatte an kalten Tagen den Raum geheizt, daneben stand ein Eimer voller Holzscheite. Uralter Rauch, noch immer zu riechen, hatte sich in den Mauern festgesetzt. Über der Werkbank gab es einige Regale voller Glasgefäße mit Pflanzensamen. Jemand hatte einen kleinen Korb mit frisch geernteten Kartoffeln auf die schmale Anrichte gestellt. Es wirkte sehr heimelig.
*
Das Heligan-Archiv lag in den Empfangsgebäuden nahe dem Eingang und bestand aus einem einzigen Raum. Deckenhohe Regale voll mit alten Büchern und Unterlagen, zumeist Kopien historischer Dokumente, standen an den Wänden. In der Mitte gab es einen Tisch, an den Lexi sich nun setzte. Die meisten Stücke für die dritte Ausstellung hatte sie bereits zusammen, aber mit einer Sache musste sie sich noch näher befassen.
In diesem Archiv hatte sie schon vor geraumer Zeit einige alte Alben und Fotosammlungen gefunden, die auch die Zeit umfassten, als Heligan während des Ersten Weltkriegs als Genesungsheim für Offiziere genutzt worden war. Jetzt zog sie ein Paar weißer Baumwollhandschuhe über, die sie stets trug, wenn sie alte Originale ansah, und begann, die Fotos zu sichten.
Manche der Schwarz-Weiß-Fotografien hatten handgeschriebene Unterschriften. Verschiedene Aufnahmen zeigten verletzte Offiziere, einige mit Verbänden an Armen oder Beinen, zuweilen in Gesellschaft einer oder mehrerer Frauen in der Tracht einer Krankenschwester. Manchmal waren die Namen der Offiziere vermerkt, leider aber nie die der Schwestern.
Auf einem der Bilder sah man eine kleine Gruppe vor der hoch mit Efeu bewachsenen Fassade von Heligan House: vier namentlich erwähnte Offiziere und eine mit »Schwester« bezeichnete Frau in Krankenschwestertracht, die fröhlich beisammensaßen.
Dann einige offenbar wieder genesene Patienten, alle mit altertümlichen Fotoapparaten in den Händen, daneben die Aufschrift: Kamerabegeisterte!
Ein Offizier in lässiger Pose neben einem großen Palmfarn im Dschungel, eine Zigarette in der Hand.
Ein Mann im Rollstuhl, umringt von – vermutlich – seinen Angehörigen, die fröhlich in die Kamera lächelten. Die Frau an seiner Seite trug lange weite Hosen.
Für die Offiziere war Heligan augenscheinlich ein geselliger Ort gewesen, an dem sie sich von ihren Verletzungen erholen konnten. Dazu kamen der noch immer prachtvolle Garten, das angenehme Klima, die nahe gelegene Küste – und wahrscheinlich auch die ungewöhnlichen Haustiere, die in Heligan umherstreiften. Einige Fotos zeigten Affen und Emus, die offenkundig an Menschen gewöhnt waren. Einer der Affen wurde der Bildunterschrift zufolge Betty genannt.
Lexi stutzte. Moment, so ein Äffchen hatte sie doch schon auf einem anderen Bild aus jener Zeit gesehen. Ja, auf dem Foto, das ihre Großtante Filly ihr vor einigen Wochen gezeigt hatte: ein Bild, das 1920 in Heligans Italienischem Garten aufgenommen worden war und auf dem ein Mann, eine Frau und ein kleines Kind mit einem lebenden Affen abgebildet waren. Laut Filly handelte es sich dabei um Fillys Mutter Susannah mit ihren Eltern, zusammen mit Susannahs zahmem Äffchen. »Mr Pepper« hatte Susannah es genannt.
Und dann gab es ja auch noch den Silberknopf mit dem Wappen der Tremaynes, der sich in Tante Fillys Besitz befand. Filly hatte behauptet, der Knopf habe ihrer Mutter Susannah gehört.
Über Susannahs wahre Eltern hatte Lexi noch immer nichts herausfinden können. Vor einigen Wochen hatte sie in einem Online-Taufregister Ada Tremayne als Susannahs Mutter eingetragen gefunden, aber das war höchst unwahrscheinlich bei Adas Alter. Und Filly hatte ja auch behauptet, Susannah sei lediglich die ersten fünf Jahre ihres Lebens eine Tremayne gewesen.
Aber es konnte doch nicht sein, dass Susannah, Lexis Urgroßmutter, nirgends sonst eine Spur hinterlassen hatte!
Vielleicht sollte sie an dieser Stelle noch etwas weiterforschen.
Sie fuhr ihren Laptop hoch, ging ins Internet, rief eine Online-Suchmaschine auf und tippte den Namen Susannah Tremayne ein.
Es gab zwei Treffer, und im ersten Moment wollte Lexi triumphieren. Aber nein, »Susannah Tremayne« war lediglich der Name einer Romanfigur. Einmal in einem Thriller und einmal in einer seichten Schmonzette. Das Internet war dann doch nicht immer die beste Quelle für Vergangenheitsrecherchen.
Aber noch war nicht alles verloren – wozu gab es denn diese ganzen Internet-Portale, in denen man nach möglichen Verwandtschaftsbeziehungen suchen konnte?
Sie rief eine der gängigen Genealogie-Plattformen zur Ahnenforschung auf, gab Susannahs Namen und Cornwall ein und klickte auf Suchen. Ein paar Ergebnisse poppten auf. Auch hier fanden sich ein paar Frauen dieses Namens, aber keine passte auch nur annähernd: Eine war nur eine verheiratete Tremayne und bereits 1802 verstorben. Der nächste Treffer führte in einer Volkszählung von 1851 eine siebenjährige Susannah Tremayne auf. Das war mehr als ein halbes Jahrhundert zu früh. Also auch Fehlanzeige. Als Letztes gab es noch eine Susannah Tremayne Williams, aber auch sie war viel zu früh – nämlich 1865 – geboren.
Und wie wäre es mit Abkürzungen? Lexi gab nacheinander die Namen Susan, Susie, Suzie, Suzanna und Sue Tremayne ein. Nichts. Sie recherchierte ein wenig weiter und stieß schließlich auch noch auf die in früheren Tagen gebräuchliche Abkürzung Sukey. Aber auch hier: kein einziger Treffer.
Seufzend gab sie die Suche nach Susannah für diesen Tag auf und wandte sich den restlichen Fotos zu, die auf sie warteten.
Eine Gruppe von Offizieren, die ein altes Automobil umringten, womöglich das von Jack Tremayne. Er hatte einen Chauffeur gehabt, hatte Lexi herausgefunden, und war wohl nicht selbst gefahren.
Ein Mann, der einfachen Kleidung nach vermutlich einer der Gärtner, neben einem riesigen Gunnera-Blatt, das er vor einem der Gewächshäuser aufgestellt hatte und das größer war als er selbst. Es sah aus, als hätte ein Zwerg ein riesiges Rhabarberblatt geerntet.
Einige Ansichten des mit Efeu bewachsenen Heligan House.
Ein bärtiger Mann im »Neuseeland«-Teil Heligans, der zwischen den hohen Baumfarnen und anderen exotischen Pflanzen fast verschwand.
Jack Tremayne auf einer Bank im Italian Garden, im Vordergrund war das rechteckige Wasserbecken mit dem Putto zu sehen.
Als sie die nächste Fotografie in die Hand nahm, stockte Lexi der Atem.
Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte einen weiteren Teil Heligans, der Umgebung nach in der Nähe der Grotte. Im Vordergrund war die auf einem Stuhl sitzende Gestalt einer älteren Frau in einem vornehmen Kleid zu sehen. Es gab keine Bildunterschrift oder sonstige Erläuterung, um wen es sich bei ihr handelte.
Lexi war eine aufgeklärte Person des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Sie glaubte nicht an Übersinnliches wie Gespenster oder andere Spukgestalten. Und dennoch lief ihr ein eisig kalter Schauer über den Rücken, als sie das Bild ansah.
Was Lexi so fassungslos machte, war nicht die Ansicht von Heligan und auch nicht die der Frau, die einen Hut mit schmaler Krempe trug. Es war das leicht verschwommene Gesicht eines jungen Mannes, das ein wenig durchscheinend schräg hinter der Frau schwebte.
Die Aufnahme eines Geistes.