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HAILEE

Heligan House, Oktober 1917

Es war kurz nach dem Mittagessen. Hailee rollte gerade Verbandmaterial zusammen, als ihre Kollegin Demi, ebenfalls in der Tracht einer Hilfskrankenschwester, eintrat.

»Der Squire will, dass wir alle ins Frühstückszimmer kommen«, sagte sie. Sie sah besorgt aus, ganz anders als sonst.

Das Frühstückszimmer war jetzt der einzige größere Raum, den die Tremaynes im Erdgeschoss nutzen konnten, alle anderen Zimmer waren mit Patienten belegt.

Hailee legte die Bandagen beiseite, stand auf und folgte Demi. Dort, wo sonst Toast und Würstchen serviert wurden, hatten sich bereits die meisten aus der Belegschaft versammelt: die Köchin Mrs Hammett und die Küchenhilfen Fanny und Lizzie, der Butler Mr Pritchard, die Hausdame Mrs Appleford sowie die Hausmädchen, von denen einige jetzt auch Hilfskrankenschwestern waren. Sogar Mr Griffin, der Obergärtner, war gekommen.

Hailee biss sich auf die Lippen. Das sah nicht gut aus.

Dann betrat Mr Tremayne den Raum. Er wirkte sehr ernst und traurig. Für einen Moment sah er sie alle stumm an, dann nickte er kaum wahrnehmbar.

»Ich danke Ihnen allen, dass Sie so schnell zusammengekommen sind«, begann er. »Leider habe ich schlechte Nachrichten.«

Hailee schluckte.

»Heute Morgen«, sagte Mr Tremayne, stockte, dann fing er noch einmal an. »Heute Morgen wurden mir zwei Telegramme zugestellt. Ich habe so sehr gehofft, dass dieser Tag niemals kommen würde.« Er holte tief Luft. »Aber nun habe ich die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass einer unserer Gärtner, Mr Nicholas Barnett, im Dienst für sein Land gefallen ist.«

Hailee spürte, wie ihr die Kontrolle über ihr Gesicht entglitt. Eine lähmende Stille senkte sich über die kleine Versammlung. Lizzie schluchzte laut auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Hailee war zwar nicht bekannt, dass Nicholas eine Freundin oder gar eine Verlobte gehabt hatte, aber Lizzie trauerte offenbar um ihn.

Auch Mr Griffin wirkte bestürzt.

»Er war … er war ein guter Mann«, sagte er. »Ein sehr guter Mann. Einer meiner besten. Alle mochten ihn.«

Der Squire räusperte sich.

»Im selben Telegramm hieß es, dass ein weiterer unserer Gärtner, Mr Vincent Payne, schwer verwundet worden sei. Er befindet sich jetzt in einem Lazarett in Belgien.«

Oh nein, nicht auch noch Vincent! Jetzt liefen auch bei Hailee die Tränen. Aber wenigstens war er noch am Leben. Darüber musste man in diesen schweren Zeiten ja schon froh sein.

»Sir«, meldete sich der Butler leise. »Sie sprachen von zwei Telegrammen …«

»Ja.« Der Squire nickte langsam. »Es gab noch ein weiteres Telegramm. Wenige Tage zuvor ist auch mein jüngster Neffe gefallen. Ralph … Ralph Vivian Babington.« Beim letzten Wort brach seine Stimme, und er senkte den Kopf. Hailee glaubte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Sie verspürte den völlig unangemessenen Impuls, ihren Dienstherrn in die Arme zu nehmen und zu trösten, aber das ließ sie natürlich bleiben.

Erneut erklang leises Weinen. Die meisten von ihnen hatten den jungen Master Ralph gekannt, der immer freundlich zu allen gewesen war.

Mrs Hammett stieß einen klagenden Laut aus und schwankte. Der Butler schob ihr schnell einen der gepolsterten Stühle hin, und sie sank darauf.

»Sir«, sagte er, »das … das tut uns allen unglaublich leid.«

Mr Tremayne blinzelte und schluckte, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Danke, Pritchard. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Der arme Junge!«, murmelte Mrs Hammett. »Der arme Junge. Und seine arme Mutter.«

In einer einzigen verheerenden Schlacht waren zwei Männer aus Heligan gefallen und ein dritter schwer verwundet worden. Viele Tausend weitere Soldaten – Brüder, Söhne, Ehemänner, Freunde – waren ebenfalls gestorben. Wann würde das alles ein Ende haben?

Nach der Nachricht von Master Ralphs Tod herrschte Trauer in Heligan House. Alle gingen mit leiseren Schritten umher und sprachen gedämpfter, niemand wagte, laut zu lachen. Dennoch musste die Arbeit im Haus und vor allem im Genesungsheim getan werden.

Am folgenden Sonntag gab es in St Ewe einen Gottesdienst zu Ehren der Gefallenen. Alle Anwesenden trugen schwarze Armbinden, und sogar das Pferd, das die Kutsche der Herrschaft zog, bekam ein paar schwarze Bänder in die Mähne geknotet. An diesem Tag sah Hailee auch Ada Tremayne zum ersten Mal seit der schlimmen Nachricht wieder. Sie trug schwarz und schien irgendwie geschrumpft zu sein, ihre rotgeränderten Augen zeigten, dass sie viel geweint hatte.

Dass der junge Master Ralph gefallen war, war schrecklich, aber Hailee setzte der Tod des jungen Gärtners, Nicholas Barnett, mehr zu. Sie hatte ihn zwar nicht gut gekannt, aber sie wusste, dass er ein Freund von Vincent gewesen war, der jetzt verwundet im Lazarett lag. Vincent mochte sie sehr gerne, und sie musste oft an ihn denken. Ob er wohl wieder gesund werden würde? Und ob er dann zurückkehren würde nach Heligan?

Regelmäßig tauchte auch der Gedanke an Tommas auf, dabei wollte sie gar nicht an ihn denken, schließlich hatte er sie schmählich vor der Hochzeit sitzen gelassen. Wo war er? Warum war er nicht vor dem Traualtar erschienen? War er wirklich vor dem Militärdienst geflohen? Warum meldete er sich nicht? Wenigstens einen Brief hätte er ihr doch schreiben können. War sie ihm völlig egal? Es half nicht, dass sie sich sagte, dass es nun mal nicht zu ändern war und dass sie sich damit abfinden musste – diese Fragen kreisten unaufhörlich in ihrem Kopf.

Dabei hatte sie insgeheim gehofft, ihre kleine Tochter zu sich nehmen zu können, sobald sie und Tommas verheiratet wären. Aber all diese Gedanken führten zu nichts. Abgesehen davon konnte Hailee sich nicht vorstellen, dass Ada ihre Ziehtochter einfach so hergegeben hätte. Sukey war jetzt eine Tremayne – alle kannten sie als die kleine Miss Susannah, und als solche würde sie auch aufwachsen. Sosehr sich Hailee jedes Mal freute, ihre Tochter zu sehen, sosehr schmerzte es sie. Ada war nun ihre Mutter, und es gab Hailee jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn die kleine, bald dreijährige Sukey Ada mit »Mummy« anredete.

An einem Vormittag kurz vor Weihnachten nutzte Hailee eine Arbeitspause, um in den Sonnenuhrgarten zu gehen, der jetzt von einer feinen, glitzernden Frostschicht überzogen war. Die Beete, in denen im Sommer herrliche Stauden blühten, lagen brach, und die dunklen, kahlen Zweige des kleinen Taschentuchbaums ragten in die kühle Winterluft.

Sie wusste, dass Ada und Sukey um diese Zeit manchmal hierherkamen, und sie hatte sich nicht getäuscht: In ein warmes Mäntelchen eingepackt, beobachtete Sukey in kindlichem Staunen, wie eine Amsel zwischen verrottendem Laub raschelnd nach Futter pickte. In ihrer kleinen Hand hatte sie ein paar Körner, die sie dem Vogel hinwarf.

Als sie Hailee sah, ließ Sukey den Rest der Körner auf die Erde fallen.

»Hailee!« Sie lief auf sie zu, und Hailees Herz hüpfte vor Freude.

»Guten Morgen, Su- Miss Susannah«, berichtigte sie sich. Fast hätte sie die Kleine Sukey genannt, aber das stand ihr nicht zu: Für sie war sie Miss Susannah. Um nichts falsch zu machen, vermied Hailee es nach Möglichkeit, sie mit dem Namen anzureden. »Guten Morgen, Ada.«

Die Schwester des Squire saß, in einen dicken Wintermantel gehüllt, auf einer Bank am hinteren Ende des Sonnenuhrgartens.

»Guten Morgen, Hailee. Setzen Sie sich doch ein wenig zu mir«, sagte Ada. Obwohl sie Hailee lächelnd zunickte, wirkte sie ein wenig angeschlagen.

»Wieder das Rheuma?«, wagte Hailee zu fragen, während sie neben Ada auf der kalten Bank Platz nahm.

Ada nickte seufzend. »Es wird jedes Jahr schlimmer. Inzwischen spüre ich es fast täglich in meinen Knochen. Ich brauche Wärme, dann geht es mir gut. Aber ich fürchte, das ist in Englands Winter ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Das tut mir sehr leid«, murmelte Hailee, die nicht wusste, was sie darauf sagen sollte.

»Hailee!« Die kleine Sukey zupfte sie am Ärmel. »Weißt du, was der Weihnachtsmann mir bringen wird?«

Hailee schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht. Verrätst du es mir?«

»Ein Äffchen! Und ich weiß auch schon, wie ich es nenne. Willst du es wissen?«

»Natürlich will ich das wissen.«

Sukey setzte ein wichtiges Gesicht auf. »Mr Pepper!«

»Das ist ein sehr schöner Name. Hast du dir den ganz allein ausgesucht?«

Die Kleine sah sie strahlend an. »Ja!«

»Sukey.« Ada hatte sich von der Bank erhoben und kam näher. »Es wird allmählich zu kalt hier draußen. Komm, Kleines, wollen wir in die Küche gehen und uns von Mrs Hammett eine schöne warme Tasse Kakao machen lassen?«

Das Mädchen nickte begeistert. Es griff nach Adas Hand, dann drehte es sich noch einmal um. »Kommt Hailee auch mit?«

Ada zögerte kurz und sah Hailee an.

»Das würde ich gern«, sagte Hailee. »Aber ich muss noch arbeiten.«

Das reichte Sukey als Erklärung, und sie zog mit Ada ab.

*

Ada bat Hailee in diesem Winter 1917/1918 öfter zu sich, und dann vertrieben sie sich die Zeit mit Zeitunglesen und Kartenspielen, vor allem aber mit Gesprächen über die allgemeine Weltlage. Der Kampf um das Wahlrecht für Frauen ging momentan nur im fernen Amerika weiter. In England dagegen ruhten sämtliche Suffragettenaktionen – solange Krieg herrschte, hatten sie sich wie so viele andere englische Frauen der Unterstützung der Soldaten verschrieben.

Als im Frühjahr die Natur nach der winterlichen Ruhe allmählich wieder erwachte und die Magnolien ihre ganze Pracht entfalteten, wäre es Zeit gewesen für eine tief greifende Pflege der Gärten. Aber da die meisten Gärtner und Arbeiter Heligans an der Front waren, hatte kaum jemand Zeit, sich darum zu kümmern. Die Tremaynes hatten beschlossen, die Sträuße in den Zimmern nur noch alle zwei Tage auszuwechseln. Aber Blumen waren jetzt ohnehin nicht wichtig. Nur die Gemüsebeete, die Heligan mit Nahrungsmitteln versorgten, wurden noch gepflegt. So gut wie alle anderen Flächen wurden sich selbst überlassen und verwilderten allmählich.

Dabei hätte Hailee einige dieser Aufgaben nur zu gerne übernommen – Unkraut gejätet, wuchernde Triebe gekürzt, all diese Dinge –, aber das war zurzeit nicht möglich. Sie war jetzt Hilfskrankenschwester, und ihre Arbeitskraft wurde im Genesungsheim gebraucht.

Es war nicht immer leicht. Fast jeden Morgen stand sie mit den anderen Krankenpflegerinnen vor dem Haus und wartete auf die Ankunft weiterer Patienten, die an diesem Tag eintreffen sollten. Manche der zumeist noch jungen Männer waren schwer verletzt worden, und einige würden vermutlich nie wieder ganz gesund werden.

Wer noch nicht wieder laufen konnte, bekam das Essen ans Bett gebracht. Für die anderen Patienten wurde das Essen, das in der Küche von Heligan House gekocht wurde, in der großen Eingangshalle, dem Esszimmer der Patienten, serviert. Hierher war inzwischen auch der Käfig mit Napoleon, dem Papagei, zurückgekehrt, der mit seinem Geplapper die genesenden Gäste beglückte. Patienten, die nicht im Bett liegen mussten, saßen bei schönem Wetter draußen und vertrieben sich die Zeit mit Rauchen, Reden und Fotografieren. Es wurden etliche Bilder gemacht; auch Hailee wurde mehrfach gebeten, sich dafür zu ihren Patienten zu stellen.

*

»Und dann haben die Deutschen angefangen, auf mich zu schießen«, sagte Captain Hayford, ein gut aussehender Offizier des Royal Flying Corps. Hailee hatte ihn an diesem Morgen kennengelernt, als er mit dem Krankentransport angekommen war.

Sein rechter Arm und sein linker Fuß waren durch Kugeln schwer verletzt worden. Nach einem Aufenthalt in einem französischen Krankenhaus war er zur weiteren Genesung nach Heligan geschickt worden.

Die Wunde an seinem Fuß war noch nicht verheilt, und er hatte nach wie vor Probleme, den Arm anzuwinkeln, was tägliche Übungen nötig machte. Hailee war dazu bestimmt worden, ihn dabei zu unterstützen.

Während sie ihm half, seinen Arm zu heben und im Ellbogen langsam zu beugen, berichtete er ihr, wie es zu seiner Verletzung gekommen war. Die Deutschen, erzählte er, hätten auf sein Flugzeug gefeuert und ihn dabei getroffen. Trotz seiner Schussverletzungen hatte er beidrehen und das Flugzeug gerade noch auf einem Acker landen können, relativ unbeschädigt.

»Aber«, wandte Hailee schüchtern ein, »warum sind Sie denn nicht mit dem Fallschirm abgesprungen?«

Captain Hayford lächelte freundlich. »Britische Piloten erhalten keine Fallschirme«, sagte er. »Dieser Luxus ist unseren französischen und deutschen Kollegen vorbehalten. Unsere Armee dagegen ist der Meinung, Fallschirme würden die Piloten im Ernstfall dazu verleiten, ihr Flugzeug eher aufzugeben, als bis zum Schluss zu kämpfen.«

Captain Hayford wurde schnell zu ihrem Lieblingspatienten. Sie konnte den Offizier, der ursprünglich aus Schottland stammte, sehr gut leiden. Seit er in Heligan war, freute sie sich jeden Morgen aufs Neue auf die Arbeit. Captain Hayford war aufmerksam und freundlich, und nie kam ein böses Wort über seine Lippen, auch wenn die Schmerzen in Arm und Fuß sicher nicht immer leicht zu ertragen waren.

Trotz aller Anstrengungen konnte er seinen rechten Arm noch immer nicht richtig bewegen, was unabdingbar beim Fliegen war. Auch seine Fußverletzung machte noch Sorgen, und auf Anweisung des Arztes sollte er tägliche kurze Spaziergänge unternehmen. Hailee, so hatte die Oberschwester es verfügt, sollte ihn dabei begleiten. Das war eine Aufgabe, die Hailee gern übernahm. Nicht nur, weil sie so endlich wieder Gelegenheit hatte, nach draußen zu kommen, sondern auch, weil ihre Zuneigung für Captain Hayford mit jedem Tag wuchs. Sie mochte alles an ihm: seine warmen blauen Augen, seinen schon leicht zurückgehenden Haaransatz, seinen kleinen schottischen Akzent.

Ihr erster Gang führte sie durch den weitläufigen, ummauerten Blumengarten voller Frühlingsblumen. Dabei schauten sie sich auch das gläserne Paxton-Gewächshaus an, das an die südliche Wand des Gartens gebaut worden war und in dem Zitronenbäumchen und Trauben gezogen wurden.

»Oh, sehen Sie nur, Schwester Hailee, ein Affe!«

Er deutete auf einen umgedrehten Pflanztopf direkt neben dem Weg zwischen den Blumenbeeten, wo ein kleiner Affe mit stämmigem Körper und kräftigen Gliedern saß. Das dichte Fell war graubraun, das haarlose Gesicht mit den eng zusammenstehenden Augen vollständig umrahmt von einem dichten weißen Bart, sodass es fast wirkte wie das eines kleinen alten Mannes.

»Das ist Betty«, sagte Hailee lächelnd, »einer unserer zahmen Affen. Sie ist sehr zutraulich.«

Mühsam verdrängte sie den Gedanken an ihre Tochter, die zu Weihnachten ein ganz ähnliches Äffchen geschenkt bekommen hatte, und griff in ihre Schürzentasche. Sie zog ein paar Erdnüsse heraus, die sie vorhin eingesteckt hatte, und hielt sie dem Tier hin. Betty kletterte furchtlos von ihrem niedrigen Podest herunter, kam auf Hailee zu und nahm die dargebotenen Nüsse aus ihrer Hand.

»Möchten Sie das Tier auch füttern?«, fragte Hailee den Captain.

»Nur zu gerne.« Als er die Nüsse aus ihrer Hand nahm, spürte sie ein kleines, aufgeregtes Flattern in ihrer Mitte. Sie senkte den Blick. Sicher waren ihre Ohren ganz rot geworden, so warm, wie ihr plötzlich war.

Als es keine Nüsse mehr gab, trollte sich das Affenweibchen und verschwand zwischen den Blumenbeeten.

»Faszinierend«, sagte Captain Hayford. »Gehen wir noch ein Stückchen?«

Ihre Schritte führten sie am Büro des Obergärtners vorbei weiter in Richtung Gemüsegarten, wo jetzt Mangold, Bohnen und etliche Kräuter wuchsen.

»Was ist denn das?« Er deutete auf die gemauerte Wand mit den bogenförmigen Nischen. »Das sieht ja fast aus, als wären es Miniatur-Grabkammern.«

Aus der Ferne wirkten die in die Mauer eingebauten Vertiefungen tatsächlich wie kleine Grabkammern, ganz ähnlich denen, die Hailee einmal in einem Zeitungsartikel über ägyptische Ausgrabungen gesehen hatte.

»Das sind Bienenstöcke«, erklärte sie, während sie langsam der sonnenbeschienenen Wand näherkamen. »Ich glaube, diese Wand gibt es schon recht lange.«

In jeder Vertiefung stand eine Art umgedrehter Korb aus Weidengeflecht. Jetzt nahm man auch die vielen Bienen wahr, die mit leisem Summen unermüdlich starteten und landeten. Hailee und Captain Hayford blieben ein paar Schritte entfernt stehen, um nicht gestochen zu werden, und beobachteten die geflügelten Gartenhelfer.

»Das ist ja wie Heligan in klein«, sagte Captain Hayford mit seinem weichen Edinburgher Akzent, den Hailee inzwischen so sehr liebte.

»Wie meinen Sie das?«

»Alles summt und brummt vor Arbeit, niemand ist untätig, alle arbeiten zusammen.« Er lächelte. »Ich könnte mir wirklich keinen schöneren Ort zur Genesung denken.«

Hailee hätte ewig so neben ihm dastehen können. Captain Hayford war so klug und freundlich und weltgewandt. Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft. Sehr wohl. Womöglich war sie sogar ein bisschen verliebt in ihn.

»Ist Ihnen schon einmal aufgefallen«, fragte er, »dass Heligan ein Anagramm für Healing, also Heilung, ist?«

»Was ist ein Anagramm?«, musste sie nachfragen.

»Ein Wort, das durch Umstellung von Buchstaben ein neues ergibt. Heligan und Healing haben dieselben Buchstaben, nur in anderer Reihenfolge.«

Hailee überlegte kurz, um sich die beiden Wörter vorzustellen, dann nickte sie. »In der Tat, das ist wirklich erstaunlich.«

Wenn sie durch Heligan spazieren gingen, hakte Hailee sich meist bei Captain Hayford ein, um ihn notfalls zu stützen. Seine Fußverletzung wurde langsam besser, und auch die Beweglichkeit seines Arms machte Fortschritte.

Einmal kamen sie am Eastern Ride vorbei, wo Hailee vor einiger Zeit die alte Buche mit dem Herz und dem eingeritzten Namen entdeckt hatte. Natürlich sagte sie ihm nichts davon – er hätte es sicher für eine mädchenhafte romantische Schwärmerei gehalten –, aber für einen Moment hatte sie das starke Bedürfnis, Captain Hayfords Vornamen – Angus – ebenfalls in die Rinde eines Baumes zu ritzen.

Seltsam. Sie lauschte in sich hinein. War es so, wenn man verliebt war? Bei Tommas hatte sie nie den Wunsch gehabt, seinen Namen irgendwo hineinzuritzen. Captain Hayford dagegen kam Hailee manchmal vor wie ein Ritter aus einem Märchen, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Und manchmal, ganz selten nur, gestattete sie sich, davon zu träumen, in seinen Armen zu liegen.

Aber diese Gefühle durfte sie sich nicht erlauben. Er war einer ihrer Patienten und zudem ein Offizier, der sich sicher nicht mit einem ehemaligen Küchenmädchen einlassen würde. Und, was noch viel schlimmer war: Hailee war die ehemalige Verlobte eines Deserteurs. Eine Verbindung zwischen ihm und ihr würde es nie geben.

*

Hailee hatte den Dschungel, wie das lang gezogene, tief eingeschnittene Tal genannt wurde, schon immer geliebt, und sie freute sich, dass Captain Hayford an diesem Tag dorthin wollte.

Die dicht bewaldete Senke war von seltsamen Baumfarnen mit dickem Stamm übersät, die diesen Ort wirken ließen, als wäre er aus der Zeit gefallen – in ein Zeitalter weit vor dem der Menschen. Langsam gingen sie bis zum oberen der insgesamt vier Teiche. Hier waren hohe Nadelbäume zu sehen, und rund um den kleinen See wuchsen jetzt im Mai dunkelrot blühende Rhododendren. Ein Paar weiße Höckerschwäne glitt träge über das Wasser, ohne sich an ihnen zu stören.

»Ein wundervoller Ort«, sagte Captain Hayford, sichtlich beeindruckt. »Ich habe gehört, dass Heligan einer der ersten Gärten war, in denen Rhododendren gezüchtet wurden.«

Hailee nickte. »Ja, das hat mein Großvater mir auch erzählt. Er hat früher hier gewohnt.«

»In Heligan? Tatsächlich?«

»Ja. Er hat mit Samen und Pflanzen aus allen Teilen der Welt gehandelt.« Sie lächelte bei der Erinnerung an den geliebten Großvater. »Als ich klein war, hat er mir manchmal Geschichten aus Indien erzählt.«

»Aus Indien?«, wiederholte Captain Hayford. »Warum das?«

»Weil er als kleines Kind dort gelebt hat. Er hat immer behauptet, seine Mutter sei eine indische Prinzessin gewesen.« Sie lachte. »Ich habe ihm das sogar geglaubt. Immerhin hatte er sogar einen indischen Namen. Er hieß Naveen.«