Heligan Gardens, Mai 1918
Vincent hob den Stock, der ihn beim Gehen unterstützte, und klopfte sacht an einen der Bienenkörbe, so, wie es Brauch war. Seit er wieder zurück in Heligan war, kam er oft hierher, zu den Bienen. Beim ersten Mal war er sich ein wenig seltsam vorgekommen, aber inzwischen war es ihm zur Gewohnheit geworden. Die Menschen taten dies schließlich seit Jahrhunderten. Als er sicher war, die Aufmerksamkeit der Bienen zu haben, begann er, mit ihnen zu sprechen. In gedämpftem Ton erzählte er ihnen, was in den vergangenen Tagen geschehen war, welche Pflanzen gut wuchsen und was er für den heutigen Tag plante.
Auch wenn ihm natürlich niemand antwortete: Danach fühlte er sich jedes Mal ein kleines bisschen besser. Das leise Summen der Bienen, ihr unermüdliches Kommen und Gehen hatte etwas zutiefst Beruhigendes und Tröstliches. Er hätte für immer hier stehen bleiben können.
»Allein werde ich leben auf der bienenlauten Lichtung. Und ich werde etwas Frieden haben.«
So oder so ähnlich hatte Nicholas das Gedicht von William Butler Yeats einmal zitiert. Vincent hätte es gerne genauer gewusst, aber als er im Lazarett irgendwann gewagt hatte zu fragen, was aus Nicholas’ Sachen geworden sei, hieß es, die habe man an seine Angehörigen geschickt.
»Ich bin auch ein Angehöriger!«, hätte er fast ausgerufen. Aber er war noch zu schwach gewesen und hatte sich zu elend gefühlt. Und so hatte er einfach geschwiegen.
Im Juni sprossen überall Unmengen von hellroten Mohnblüten, die man wohl für immer mit den Gefallenen dieses schrecklichen Krieges verbinden würde. Sie bedeckten die Wiesen und Felder wie ein leuchtend roter Teppich, der hin und wieder durch ein paar blaue Kornblumen unterbrochen wurde. Doch so schön Heligan zu dieser Zeit auch war – auf Vincent wirkte selbst diese blühende Pracht grau und trostlos.
Er habe Glück im Unglück gehabt, hatten die Ärzte gesagt. Die Kugel hatte seinen rechten Lungenflügel durchschlagen und ihm einen massiven Blutverlust beschert, jedoch alle wichtigen Gefäße verschont. Aber konnte man das wirklich Glück nennen?
Seine Hand zitterte manchmal wie von selbst. Dann musste er für eine Weile innehalten und warten, bis es vorüber war.
Vielen ehemaligen Soldaten ging es so. Anfangs hatte man sie für Simulanten und Betrüger gehalten und ihnen gesagt, sie müssten sich einfach zusammenreißen. Inzwischen war ein wenig mehr darüber bekannt – es waren die Nachwirkungen des Krieges, die die Rückkehrer peinigten, hieß es. Vincent verbarg das Zittern, so gut es ging. Mit der Zeit, hoffte er, würde es besser werden.
Die kaum verheilte Wunde schmerzte manchmal, wenn er sich zu schnell bewegte. Aber das war nichts gegen den Schmerz in seiner Seele. Er fühlte sich wie tot, wie komplett abgestorben. Nicholas lebte nicht mehr. Seit mehr als sieben Monaten lag er begraben mit vielen anderen Kameraden auf einem Friedhof in der Nähe von Ypern.
An dem Tag, an dem Nicholas fiel, war ein Teil von Vincent ebenfalls gestorben. Und dennoch lief alles weiter wie zuvor. Die Sonne ging immer noch jeden Morgen aufs Neue auf, die Welt drehte sich weiter, die Menschen in Heligan und anderswo widmeten sich ihren Aufgaben.
Er versuchte, die Trauer mit Arbeit zu betäuben. Er war zwar für kriegsuntauglich erklärt worden und auch noch lange nicht vollständig genesen, hielt sich aber für arbeitsfähig. Sobald er aufstand – was meist sehr früh am Morgen war, weil er selten mehr als nur ein paar Stunden am Stück schlafen konnte –, machte er sich auf den Weg in den Italienischen Garten und arbeitete. Das war inzwischen sein Lieblingsplatz, denn hier war er Nicholas so nahe wie sonst nirgends.
Niemand hatte Zeit gehabt, sich um diesen Gartenteil zu kümmern, dem man die Vernachlässigung anmerkte. Das kleine Wasserbecken war fast zugewuchert, und die Pflanzen wuchsen ungezügelt.
Den Italienischen Garten zu pflegen und ihn so schön und prächtig zu gestalten, wie es ihm möglich war, war jetzt sein einziger Lebenszweck. Das hatte er Nicholas versprechen müssen, und dieses Versprechen würde er halten. Er schnitt die ausufernde Kiwipflanze zurück, entsorgte die alten Kräuter, pflanzte neuen Thymian und Rosmarin zwischen die Steinplatten und setzte Oleanderbüsche, Lorbeersträucher und Olivenbäumchen.
Manchmal, vor allem am frühen Nachmittag, kam auch Mr Tremayne hierher, der sich dann auf seiner Bank niederließ und Vincent bei der Arbeit zusah oder einfach nur auf das kleine Becken mit dem wasserspeienden Putto schaute.
»Wie geht es Ihnen, Mr Payne?«, fragte der Squire ihn bei einer solchen Gelegenheit.
»Recht gut, danke, Mr Tremayne. Die Wunde heilt.«
»Das freut mich.« Der Squire lehnte sich zurück.
»Und dennoch …« Vincent richtete sich auf und zog die Gartenhandschuhe aus. »Ich fühle mich schuldig.«
»Schuldig?«
Vincent nickte. »Dass ich überlebt habe. Dass ich nach Hause gekommen bin, wo so viele andere sterben mussten und noch immer sterben. Das ist nicht gerecht.«
»Das habe ich schon von vielen Kriegsheimkehrern gehört«, gab Mr Tremayne nachdenklich zurück.
Vincent knetete seine Finger. »Ist es das alles wert?«
Das war die Frage, die auch Nicholas umgetrieben hatte.
»Ich weiß es nicht, Mr Payne. Das frage ich mich auch immer wieder. All die vielen, vielen Toten, auch aus Heligan. Ich habe oft das Gefühl, ihre Geister würden mich anklagend ansehen, wenn ich durch mein Anwesen gehe. Womöglich«, sagte er leise und wie zu sich selbst, »werde ich eines Tages diesen Ort verlassen. Aber«, fuhr er etwas lauter wieder fort, »solange der Krieg andauert, Mr Payne, müssen wir stark sein. Für unser Land und unsere Lieben.« Er lächelte ein trauriges Lächeln. »Auch wenn ich zugeben muss, dass mir das in diesen Tagen ebenfalls sehr, sehr schwerfällt.«
*
Die Monate vergingen, der Sommer ging in einen nassen Herbst über. Es war ein trüber Montagnachmittag im November, als Vincent hörte, dass sich alle Angestellten im Frühstücksraum versammeln sollten.
In Vincent regte sich Sorge, als er nicht nur das gesamte Hauspersonal und alle Gärtner, sondern auch Mrs Tremayne, die Schwester des Hausherrn, dort erblickte. Er warf Hailee, die bereits vor ihm da war, einen fragenden Blick zu, aber sie hob lediglich die Schultern. Sie sah gut aus in ihrer Krankenschwestertracht mit dem gestärkten blauen Kleid und der weißen Schürze.
Als alle versammelt waren, betrat der Squire den Raum. Alle Blicke wandten sich ihm zu – erwartungsvoll, besorgt, ängstlich.
»Eine schwere Zeit liegt hinter uns«, begann Mr Tremayne. »Umso mehr freue ich mich, Ihnen verkünden zu dürfen, dass der Krieg endlich vorbei ist. Sie werden es ab morgen überall in den Zeitungen lesen: Der Frieden wurde offiziell erklärt.«
Kein Jubel erklang, kein Freudenschrei ertönte, und doch ging ein kollektives, tiefes Aufatmen durch die Gemeinschaft. Vincent spürte, wie ihm die Knie schwach wurden. Frieden, endlich Frieden! Er musste sich für einen Moment am gemauerten Kamin festhalten, sonst hätten die Beine unter ihm nachgegeben.
Zur Feier des Tages gab der Squire jedem der Anwesenden ein Glas Brandy aus.
»Dies«, sagte er, während er sein Glas hob, »ist ein Tag der Freude. Aber lassen Sie uns auch dankbar sein für all das Gute, was wir geschaffen haben. Und lassen Sie uns unserer Toten gedenken, die in diesem Krieg ihr Leben gaben. Zehn von unseren besten Männern.«
Vincent schluckte schwer. Schweigend tranken sie auf den Frieden und auf die Gefallenen Heligans.
Es mochte noch eine Weile, womöglich sogar noch Wochen dauern, erklärte der Squire, bis alle Soldaten aus dem Krieg zurückkehren würden, aber bis dahin war genug für alle zu tun.
»Und nun«, sagte er mit einem Lächeln und nickte Hailee und den anderen Hilfskrankenschwestern zu, »gehen Sie und verkünden die frohe Botschaft unseren Patienten.«
*
Die kleine Kirche von St Ewe war voll an diesem Märzsonntag des Jahres 1919, wie fast immer in diesen Wochen nach dem langen Winter. Der Gottesdienst war noch nicht zu Ende, als Vincent sich von der hintersten Bankreihe, in der er saß, erhob und leise in Richtung Ausgang ging. Es war ihm zu voll und stickig, er musste nach draußen, brauchte Luft und Licht um sich herum. Früher hatte er nicht solche Probleme gehabt, aber seit dem Krieg war er empfindlicher geworden.
Es war angenehm frühlingswarm, und es tat Vincent gut, überall die Natur erwachen zu sehen: Vor der Kirche wuchs ein großer Strauch voller rosa Kamelienblüten, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstreckte sich ein prächtiger gelber Teppich aus Narzissen. Neues Leben, neue Hoffnung.
Und noch etwas war neu: Ein paar Schritte seitlich von der Kirche entfernt hatte ein Mann einen Tisch und einen Stuhl aufgebaut. Gerade legte er einige gedruckte Blätter aus.
Vincent trat näher – und traute seinen Augen kaum: Dort stand der Mann, den Nicholas und er vor sieben Jahren, lange vor dem Krieg, am Hafen von Southampton getroffen hatten. Derselbe Mann, der sie damals davor gewarnt hatte, dass sie womöglich einem Betrüger aufgesessen waren, der ihnen gefälschte Tickets für die Atlantiküberquerung verkauft hatte.
Derselbe, von dem sie die ganze Zeit angenommen hatten, er wäre wie so viele andere beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen.
Colin. Richtig, das war sein Name. Was hatte er damals noch gesagt, was er sei? Weltreisender und Fotograf. Im Gegensatz zu jenem Tag trug er jetzt einen dreiteiligen Anzug mit gestreifter Weste. Nur die Schiebermütze war geblieben.
»Colin?«, fragte Vincent in freudigem Erstaunen. »Colin Jones? Bist du das wirklich?«
Der Angesprochene hob den Kopf, und zuerst war da nichts außer freundlichem Interesse. Dann veränderten sich seine Züge, und Erkennen setzte ein.
»Wir kennen uns«, sagte er höflich. »Aber ich könnte beim besten Willen nicht mehr sagen, woher.«
»Aber ich.« Vincent lächelte. »Von der Kneipe im Hafen in Southampton. Wir wollten genau wie du mit der Titanic nach Amerika reisen, aber wir sind einem Betrüger aufgesessen, der uns falsche Tickets verkauft hat. Vincent Payne.«
Colin schlug sich auf die Stirn. »Natürlich! Die beiden jungen Kerle, die auch ihr Glück in Amerika versuchen wollten.« Er reichte ihm die Hand, die Vincent schüttelte, dann sah er sich um. »Ist dein Freund auch hier? Der Dunkelhaarige, mit dem du damals nach Amerika wolltest. Wie hieß er noch gleich?«
»Nicholas«, murmelte Vincent. »Nein. Er ist … gefallen. Im Oktober siebzehn, in der Schlacht bei Passchendaele.« Er sprach so emotionslos wie möglich. Alles andere hätte ihn zu sehr aufgewühlt.
»Tut mir sehr leid«, gab Colin zurück. »Es sind so viele gestorben in diesem verdammten Krieg.«
Vincent nickte nur. Aus dem Kirchenschiff drangen die letzten Töne des Schlusschorals.
»Und warum bist du jetzt hier? Arbeitest du in der Gegend?«
»Ja. Wir sind – ich bin als Gärtner in Heligan untergekommen«, sagte Vincent. »Aber was machst du an diesem Ort? Hast du es auch nicht an Bord der Titanic geschafft?«
Colin verzog das Gesicht zu einer vielsagenden Grimasse. »Oh doch, ich war auf dem Schiff.«
Das Geräusch der sich öffnenden Kirchentür unterbrach ihn. Die ersten Gottesdienstbesucher strömten heraus.
»Perfekt«, sagte Colin und warf Vincent einen Blick zu. »Entschuldige bitte. Aber was ich jetzt zu sagen habe, sollen alle hören.«
Er stellte den Stuhl vor sich, stieg darauf, sodass er gut zu sehen war, und rief: »Meine Damen und Herren, gute Leute von St Ewe, Heligan und Mevagissey, wenn Sie so freundlich wären, mir für eine Minute Ihr Ohr zu leihen. Ich habe etwas von größter Wichtigkeit zu verkünden.«
Das ließen die Leute sich nicht zweimal sagen. Neugierig kamen die Ersten näher. Colin wartete kurz, bis noch ein paar mehr dazukamen, dann hob er an zu einer kurzen Rede, die er sicherlich nicht zum ersten Mal hielt, so eloquent, wie er sie vortrug.
»Ich nehme an«, begann er, »Sie haben alle von der Titanic und ihrem Untergang gehört.«
Jetzt strömten noch mehr Leute heran. Der Untergang der Titanic, dieses angeblich unsinkbaren Schiffes, war jedem ein Begriff.
Colin berichtete von dem Tag, an dem er sich eingeschifft hatte, beschrieb die Abfahrt von Southampton, seine Unterkunft und das Leben an Bord des luxuriösen Passagierdampfers. Alles änderte sich, als es an jenem verhängnisvollen Abend des 14. April 1912 mit einem Eisberg kollidierte und kurz darauf zu sinken begann. Auch Colin wurde in das eisige Wasser gezogen. Er erzählte, wie er um sein Leben kämpfte – und wie er schließlich merkte, dass seine Kräfte nachließen. Wie er in den eiskalten Fluten langsam nach unten sank, keine Luft mehr bekam und wie Wasser seine Lungen füllte.
»Und dann«, sagte er und machte eine kleine theatralische Pause, in der die Zuhörer wie gebannt an seinen Lippen hingen, »bin ich gestorben.«
Bestürztes Aufseufzen, schreckgeweitete Augen. Weitere Zuhörer drängten sich um ihn.
»Aber«, stellte jemand aus den hinteren Reihen die zu erwartende Frage, »wieso stehen Sie dann hier?«
»Das werde ich Ihnen erzählen«, sagte Colin. Er wartete einen kurzen Moment, dann sprach er weiter. »Als ich dort im eiskalten Wasser trieb, dem Tode näher als dem Leben, konnte ich für einen Augenblick meinen Körper von außen sehen. Und ich nahm fremde, aber freundliche Wesen wahr, die um mich herum schwebten. Geistwesen, so schön, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie waren es wohl, die mich aus einem unerfindlichen Grund zurück an die Oberfläche brachten, wo mich die Passagiere eines der Rettungsboote fanden und zu sich ins Boot zogen. So habe ich es zumindest gehört. Ich erwachte erst wieder an Bord der Carpathia, dem einzigen Schiff, das nach Stunden zur Rettung kam.«
Erstaunte Ausrufe waren zu hören. Die Leute drängten noch näher. Fast wurde der Tisch umgeworfen, auf dem einige abgedeckte Blätter lagen.
»Und seitdem«, fuhr Colin fort, »kann ich die Geister von Verstorbenen sehen. Nein, nicht nur sehen«, er hob eine Hand, und auch das letzte Murmeln verstummte, »ich kann sie auch fotografieren.«
Jetzt gab es kein Halten mehr, alles drängte nach vorne, um einen Blick auf diesen erstaunlichen Menschen zu werfen. Aber Colin war noch nicht fertig.
»Warten Sie, meine Damen und Herren, warten Sie.« Er stieg von seinem Stuhl herunter. »Lassen Sie sich sagen, dass ich diese Fähigkeit, die Geister der Toten zu fotografieren, während meiner Zeit in Amerika weiter ausgebildet und, wenn ich so sagen darf, zur Perfektion gebracht habe. Und nun bin ich hier, um Ihnen meine Dienste anzubieten.«