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HAILEE

Heligan House, April 1919

Hailee nahm das blau karierte Taschentuch in die Hand, das noch immer schwach nach Rasierwasser roch. Dieses Tuch war das Einzige, was sie von Angus – Captain Hayford – besaß. Er hatte es ihr geschenkt, als ihr bei einem ihrer Spaziergänge etwas ins Auge geraten war.

Zehn Monate war es jetzt her, seit er abgereist war. Und auch wenn es ihr schier das Herz gebrochen hatte: Es war richtig gewesen, seinen Antrag abzulehnen.

Seit dem Ende des Krieges war die Arbeit im Genesungsheim der Offiziere immer mehr zurückgegangen. Inzwischen waren die wenigen verbliebenen Patienten nur noch im roten Zimmer und dem Raucherzimmer untergebracht, sodass der Salon sowie die Bibliothek den Tremaynes wieder zur Verfügung standen.

Als wäre der Große Krieg mit seinen entsetzlich vielen Toten nicht genug gewesen, war im vergangenen Jahr eine weitere Geißel in Form einer ungewöhnlich heftigen Grippeepidemie dazugekommen. Zum Glück war niemand in Heligan davon betroffen, aber im ganzen Land waren viele zumeist junge Menschen daran gestorben.

Aber jetzt war jemand Neues in Heligan aufgetaucht: ein Mann, der den vielen Trauernden auf ganz neue Weise Zuspruch und Trost versprach.

Auf einem der Flugblätter, die er nach dem Gottesdienst großzügig verteilt hatte, konnte Hailee seine Versprechen lesen:

»Haben auch Sie einen geliebten Menschen verloren?

Wollen Sie wissen, ob sein oder ihr Geist noch immer bei Ihnen ist?

Finden Sie es heraus, und wenden Sie sich noch heute an den Mann, der den Untergang der Titanic auf wundersame Weise überlebt hat:

Mr Colin Jones, Geisterphotograph.«

Es war nicht verwunderlich, dass Mr Jones sich vor Aufträgen kaum mehr retten konnte, und natürlich kam er bald auch nach Heligan. Hier ließ sich eines Tages sogar Mrs Babington, Master Ralphs Mutter, von ihm ablichten.

Hailee wurde manchmal gebeten, bei diesen Sitzungen ein paar kleinere Hilfsdienste zu erledigen – einen weiteren Stuhl herbeizuschaffen, etwas zu trinken zu bringen oder sich um aufgeregte Angehörige zu kümmern. Gern wurde dafür der frühe Vormittag gewählt, wenn der Nebel noch über Wiesen und Büschen hing und die Verbindung zur Geisterwelt zum Greifen nah schien. Der Kunde sollte sich auf einen Stuhl setzen, und dann, nach ein wenig Vorbereitung, wurden die Aufnahmen gemacht.

Diese Fotositzungen fanden an unterschiedlichen Stellen statt, oft vor der Grotte oder in einer Ecke des Blumengartens, manchmal einzeln, manchmal auch in kleinen Gruppen von bis zu vier Leuten. Stets mussten die Porträtierten dann für ein paar Sekunden ruhig und ernst in die Kamera blicken und dabei, so die Aufforderung, intensiv an ihre Verstorbenen denken.

»Ich kann nichts versprechen«, hörte Hailee den Fotografen jedes Mal sagen, wenn er vor diesen Sitzungen gefragt wurde, ob auch bestimmt der gefallene Sohn oder die verstorbene Mutter auf dem Bild zu sehen sein würde. »Aber ich tue mein Bestes.«

*

Eine Vase mit frischen Schnittblumen in der Hand, klopfte Hailee an Adas Zimmertür. Niemand antwortete, aber das hatte sie auch nicht erwartet – soweit sie wusste, war Ada an diesem Vormittag unterwegs. Leise öffnete sie die Tür, schlüpfte ins Zimmer und schloss die Tür ebenso leise wieder hinter sich.

Auf dem Tisch in der Mitte des Raums standen in einer Vase die Schnittblumen von vorgestern. Hailee setzte die neue Vase daneben ab, dann ging sie mit ein paar schnellen Schritten zu der Anrichte an der Wand. Anschließend kümmerte sie sich um den Austausch der Blumen und beeilte sich, das Zimmer wieder zu verlassen.

Der Salon, der für viele Monate als Krankenzimmer genutzt worden war, war inzwischen wieder für die Familie hergerichtet worden. Obwohl es nicht wirklich kalt war, knisterte ein kleines Feuer im Kamin. Die Flammen warfen zuckende Schatten auf die gepolsterten Stühle, die Gemälde an den Wänden und die mit Frühlingsblumen üppig bestückten Vasen. An diesem Abend sollte hier die Präsentation eines Geisterbildes stattfinden.

Mr Tremayne war schon da, und nun kam noch seine Schwester Ada dazu. Auf Adas Wunsch war Hailee an diesem Tag auch dabei. Sie sollte sich für alle Fälle mit Riechsalz und Brandy im Hintergrund bereithalten, falls jemand der Anwesenden von seinen Gefühlen überwältigt werden und in Ohnmacht fallen sollte.

Kurz nach sechs Uhr trafen die Babingtons ein. Mrs Grace Babington, eine Schwester von Ada und Jack Tremayne, bemühte sich sichtbar um Fassung. Jeder ihrer fünf Söhne war im Krieg gewesen. Zwei von ihnen waren gefallen, darunter auch Ralph, der jüngste.

Hailee sah auf, als kurz darauf der Fotograf als Letzter den Raum betrat. Selbstsicher, gut aussehend, gut angezogen und keine Spur von eingeschüchtert angesichts seiner wohlhabenden Kunden.

Noch einmal erzählte er, allerdings in Kurzfassung, wie er auf wundersame Weise den Untergang der Titanic überlebt hatte und dass er seitdem in der Lage sei, die Geister der Toten zu fotografieren. Dann präsentierte er das Bild, und sämtliche Familienmitglieder rückten näher zusammen, um es sich anzusehen. Ein allgemeines Aufseufzen war zu hören.

Ein, zwei Sekunden vergingen, dann ertönte lautes Schluchzen von Ralphs Mutter. Selbst die meist so besonnen wirkende Ada Tremayne weinte.

»Ralph!«, stieß Mrs Babington hervor. »Mein guter, lieber Ralph!«

Angesichts der Trauer und Bestürzung dieser Menschen kamen auch Hailee die Tränen. Sie streckte sich ein wenig, und es gelang ihr, einen Blick auf das Bild zu erhaschen.

Auf der schwarz-weißen Fotografie war Ralphs Mutter zu sehen. Sie saß vor einigen großen Farnen und weiteren exotischen Pflanzen – Hailee erkannte die steinernen Stufen in der Nähe der Grotte –, ein leichter Nebel lag um alles und verstärkte den Eindruck von etwas Übersinnlichem. Und schräg über Mrs Babingtons Gestalt schwebte das leicht verschwommene, geisterhafte Gesicht des jungen Master Ralph.

Die Frauen weinten leise, und Hailee sah, dass auch Mr Babington sich verstohlen ein paar Tränen fortwischte, aber niemand fiel in Ohnmacht.

»Danke«, sagte Mrs Babington immer wieder. »Danke, Mr Jones.«

Ihr Mann stimmte mit ein. »Vielen, vielen Dank, Mr Jones. Sie glauben ja gar nicht, welche Freude Sie uns damit gemacht haben. Zu wissen, dass der Geist unseres geliebten Sohnes unter uns weilt – das ist mehr, als wir jemals zu hoffen wagten.«

Er erhob sich und drückte dem Fotografen einige Scheine in die Hand. »Doch, nehmen Sie das auch noch, das steht Ihnen zu«, hörte Hailee ihn leise sagen.

Als Mr Jones sich abwandte, erhaschte sie einen Blick in sein hochzufriedenes Gesicht. Dieser Abend hatte sich offenbar gelohnt.

Hailee blickte zu Boden. Niemandem war aufgefallen, dass Ralphs verschwommenes Gesicht auf der Abbildung haargenau der Fotografie glich, die auf Adas Anrichte stand.