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VINCENT

Heligan Gardens, Ende April 1919

Vincent zog vorsichtig eine der Pflanzen mit den vielen kleinen Knollen aus der Erde. Wunderbar, die Kartoffeln wuchsen gut. Er erhaschte eine Bewegung und blickte auf: Colin stand am Rande des Gemüsefeldes und schien auf ihn zu warten.

Vincent richtete sich auf. Sein Rücken schmerzte, und er war dankbar für die Unterbrechung. Ohnehin war Zeit für die Mittagspause.

»Da ist ja der neue strahlende Stern an Cornwalls Himmel.«

»Nicht doch«, winkte Colin bescheiden ab. »Ich bin bloß ein kleiner Fotograf.«

»Ja«, sagte Vincent, »aber einer mit einer großen Gabe. Jeder spricht von dir.«

Colin fühlte sich sichtlich geschmeichelt. »Möchtest du?«, fragte er. »Ich habe mir mal wieder viel zu viel mitgenommen.«

Er reichte Vincent eines seiner in einer Blechdose liegenden Sandwiches, und dieser griff dankbar zu. Sein eigenes Mittagsmahl bestand nur aus einem Stück ziemlich trockenem Brot mit Käse. Colins Sandwiches waren weitaus appetitlicher, mit einer Mischung aus Sardinen, gehackten Oliven und hart gekochtem Eigelb bestrichen.

»Wo bist du untergekommen?«, fragte Vincent mit vollem Mund.

»In Mevagissey. Ich habe mir dort ein kleines Studio gemietet, in dem ich auch meine Bilder entwickeln kann.« Colin ließ sein Sandwich sinken. »Und du? Wohnst du hier auf dem Gelände?«

»Ja, inzwischen schon. Unten bei der Mühle. Der frühere Pächter ist gestorben, und seine Familie ist fortgezogen.«

Colin seufzte. »In diesen Tagen hat jeder irgendjemanden verloren.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Du auch?«

Vincent nickte nur.

»Was hältst du davon«, fuhr Colin fort, »wenn ich versuche, auch für dich ein Geisterbild zu erstellen? Das habe ich schon für viele gemacht.«

»Ich weiß.«

»Aber du glaubst nicht, dass es Geister gibt? Dass die Toten um uns herum sind?«

Vincent hob die Schultern. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«

»Dann lass es uns probieren. Ich mache dir auch einen Sonderpreis. Um unserer alten Bekanntschaft willen.«

Was Colin vorschlug, war vollkommen absurd. Es konnte ja nicht sein. Und doch … War es nicht Nicholas gewesen, der manchmal aus Hamlet zitiert hatte, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als man sich denken könne? Vielleicht war es ja tatsächlich möglich? Wenn nur die geringste Hoffnung existierte, dass Nicholas wenigstens als Geist anwesend war, dann würde Vincent alles dafür geben.

»Wer ist es, den oder die du zu sehen hoffst?«, fragte Colin.

In Vincent verkrampfte sich etwas. Selbst nach Nicholas’ Tod wagte er noch immer nicht, sich irgendjemandem zu offenbaren.

»Warum willst du das wissen?«

»Damit ich besser in Verbindung mit der oder dem Verstorbenen treten kann.«

Vincent sah ihn an. »Wenn es wirklich stimmt, dass du die Geister der Toten fotografieren kannst, sind sie doch immer anwesend. Und dann müsste man sie doch auch ohne Vorwissen aufnehmen können.«

Colin zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst. Aber dann mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn es nicht funktioniert.« Er erhob sich. »Ich würde vorschlagen, wir gehen zur Grotte.«

»Nein.« Vincent stand ebenfalls auf. »Ich kenne einen besseren Platz.«

Die nächsten Tage saß Vincent auf glühenden Kohlen. Für die Aufnahme waren sie im Italienischen Garten gewesen, wo Colin zwischen dem Wasserbecken und den mediterranen Pflanzen mehrere Bilder von Vincent gemacht hatte. Es würde einen oder sogar mehrere Tage dauern, hatte er gesagt, bis sie entwickelt seien und bis feststünde, ob es ihm gelungen war, einen Geist zu fotografieren.

Zwei Tage später war es dann endlich so weit. Colin entschuldigte sich damit, dass viele andere Kunden ebenfalls auf seine Dienste warteten, aber Vincent wischte das mit einer Handbewegung beiseite.

»Hat es funktioniert?«, wollte er nur wissen, und Colin nickte vielsagend.

»Hier ist es.«

Mit leicht zitternden Händen nahm Vincent den braunen Umschlag in Empfang. Sein Zittern war in den vergangenen Monaten besser geworden, aber in nervenaufreibenden Situationen wie dieser kehrte es mit Macht zurück. Er öffnete den Umschlag und zog das Bild heraus.

Es zeigte ihn selbst, mit Palmen und einem Teil der Kiwipflanze im Hintergrund. Und fast direkt über ihm das verschwommene Antlitz einer älteren Frau.

Er hob verwirrt den Kopf. »Wer ist das?«

Colin zuckte mit den Schultern. »Das darfst du mich nicht fragen, ich bin nur das Werkzeug. Erkennst du sie denn nicht?«

Vincent studierte die Aufnahme erneut. Ganz entfernt vermeinte er, eine Ähnlichkeit festzustellen.

»Nun, es könnte … womöglich meine Mutter sein. Sie ist vor einigen Jahren gestorben.«

Colin nickte nachdrücklich. »So wird es sein. Ist es nicht tröstlich zu wissen, dass der Geist deiner geliebten Mutter stets um dich ist?«

Vincent war nicht wirklich überzeugt. Seine Mutter war keine herzliche Frau gewesen und ihr Verhältnis nie sonderlich innig.

Colin bemerkte offenbar seine Enttäuschung. »Es ist nicht die Person, die du erwartet hast?«

Vincent schüttelte den Kopf, zu niedergeschlagen, um etwas zu sagen.

»Das mag damit zusammenhängen«, sagte Colin, »dass du mir nicht die Person genannt hast, die du zu sehen wünschst. Womöglich hat dieser Geist sich dadurch nicht genügend wertgeschätzt gefühlt, um auf dem Bild zu erscheinen. Das kann Probleme geben.«

Vincent stieß ein leises Schnauben aus. Nicht genügend wertgeschätzt? Er hatte Nicholas geliebt!

Colin hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. »Ist es womöglich dein Freund, den du zu sehen gehofft hast? Den, der im Krieg gefallen ist?«

»Woher …« Vincent musste sich räuspern, weil ihm das Wort in der Kehle stecken blieb. »Woher weißt du das?«

Colin zuckte mit den Schultern. »Ich habe eben gute Verbindungen zur anderen Welt«, sagte er geheimnisvoll. »Also gut. Dann lass mich dir einen Vorschlag unterbreiten: Ich mache eine neue Aufnahme, und wenn dann noch immer nicht der Geist deines Kameraden darauf zu sehen ist, dann erlasse ich dir die Hälfte des Preises.« Er grinste. »Ich habe immerhin einen Ruf zu verlieren.«

*

Es regnete seit dem Morgen. Vincent hatte an diesem Tag auf den Gemüsefeldern zu tun, und als es endlich Feierabend war, war er froh über sein warmes, trockenes Heim.

Colin kam wie verabredet. Vincent hatte Tee gemacht und ein paar Kekse aus der Küche besorgt, aber er war viel zu aufgeregt, um irgendetwas davon herunterzubekommen. Colin dagegen aß und trank mit gutem Appetit.

Vincent wollte ihn nicht drängen, aber als er die Teetasse endlich abstellte, vibrierte er vor Ungeduld.

»Und hier«, sagte Colin, während er ihm einen Umschlag überreichte, »ist dein Bild.«

Vincent versuchte, nichts zu erwarten. Er würde wieder enttäuscht werden. Vermutlich würde auf dem Bild abermals nur er und jemand, bei dem er nicht sicher war, wer es sein sollte, abgebildet sein.

Er öffnete den Umschlag und zog die Aufnahme heraus.

Auf der Fotografie, die vor zwei Tagen erneut im Italienischen Garten aufgenommen worden war, war wieder er selbst abgebildet, auf einem Stuhl sitzend, Kiwipflanze und Palmen im Hintergrund. Aber diesmal war direkt über ihm auch das leicht durchscheinende, wie von leichtem Rauch umgebene Gesicht von Nicholas – ja, es war tatsächlich Nicholas, sein Nicholas – zu sehen.

Vincents Augen brannten plötzlich.

»Ist er das?«, fragte Colin mitfühlend.

Vincent nickte, zu keiner Antwort fähig, und blinzelte angestrengt, um die Tränen zurückzudrängen. Seine Hand begann zu zittern, so stark, dass er das Bild fast fallen gelassen hätte. Er nahm die andere Hand zur Hilfe, und das Zittern ließ etwas nach.

»Danke«, murmelte er dann. »Danke. Das … das bedeutet mir sehr viel.«

Er erhob sich, holte die alte Kaffeedose, in der er sein Geld bewahrte, und entnahm ihr ein paar Scheine, die er Colin gab. Es war etwas mehr, als sie vereinbart hatten, aber das war Vincent egal.

Er konnte es kaum erwarten, bis Colin gegangen war. Dann setzte er sich auf seinen Stuhl, die Fotografie in der Hand, und strich mit dem Finger über die Abbildung des geliebten Gesichts.

Er hatte Colin unrecht getan. Es gab Geister, und man konnte sie fotografieren.

»Nick?«, fragte er zaghaft. Seine Stimme hörte sich seltsam klein und schüchtern an. »Nicholas, bist du da?«

Niemand antwortete, und doch hatte Vincent das starke, fast überwältigende Gefühl, dass Nicholas anwesend wäre.

»Oh Gott, Nick, ich habe dich so vermisst!«

Seine Stimme brach, und endlich erlaubte er sich zu weinen.

Er war nicht allein. Nicholas war immer noch bei ihm.