Heligan Gardens, April 1919
Am nächsten Tag freute Vincent sich den ganzen Vormittag über auf die Mittagspause, wenn er zu seinem Cottage zurückkehren konnte, wo das Geisterbild von Nicholas auf ihn wartete. Am liebsten hätte er es stets bei sich getragen, in seiner Hemdtasche, nah bei seinem Herzen, aber er befürchtete, es zu verlieren oder dass es bei der Arbeit Schaden nehmen könnte.
Seine Aufgaben gingen ihm besser von der Hand, es war, als wäre eine schwere Last von ihm genommen. Die Trauer war nicht verschwunden, aber sie war auf eine wundersame Weise leichter geworden. Der alles verzehrende Kummer war einer stillen, wehmütigen Traurigkeit gewichen. Am Vormittag, als er im Italienischen Garten arbeitete, hatte er das Gefühl, er müsse sich nur umdrehen, und Nicholas stünde da. Und so war es wohl auch – Colin hatte es mit seiner Fotografie bewiesen: Nicholas’ Geist, Seele oder wie immer man es nennen mochte, war nicht bei seinem leblosen Körper auf jenem belgischen Friedhof, wo man ihn begraben hatte. Er war hier, hier in Heligan, hier bei ihm.
Kaum war es Mittag und Vincent für eine Stunde zurück in seinem Cottage, holte er das Bild erneut hervor. Studierte die attraktiven Züge seines Freundes und gestattete sich ein paar wehmütige Erinnerungen. Betrachtete Nicholas’ ein wenig zerzauste dunkle Haare, sein leichtes Lächeln.
Dann fiel ihm etwas auf. Genau diesen Ausdruck, diese Kopfhaltung von Nicholas hatte er doch schon einmal gesehen! Und er wusste auch, wo.
Mr Griffin war nicht in seinem Büro, aber Vincent fand ihn bald in einem der Gewächshäuser. Der Obergärtner war ein wenig ungehalten, als Vincent seine Bitte äußerte, aber dann ließ er sich doch breitschlagen und ging mit Vincent zu seinem Arbeitszimmer, in dem es nach Holzfeuer und schwarzem Tee roch.
Mr Griffin setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete eine Schublade, dann eine weitere und kramte umständlich darin herum.
»Ah, hier ist es«, sagte er schließlich.
Er reichte Vincent die Aufnahme, die ein Fotograf vor einigen Jahren von der versammelten Gärtnermannschaft gemacht hatte. Das war vor dem Krieg gewesen, als sie noch nichts wussten von dem Verderben, das demnächst über sie alle hereinbrechen sollte. Als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Vincent hatte richtig vermutet: Mr Griffin hatte einen Abzug davon aufgehoben.
»Darf ich es mir für ein paar Minuten ausleihen?«
»Wenn es sein muss«, sagte Mr Griffin. »Geben Sie mir es morgen zurück, wenn wir uns zur Besprechung treffen. Heute Nachmittag bin ich nicht da.«
»Natürlich. Vielen Dank, Mr Griffin.«
Vincent machte sich eilig zurück auf den Weg in sein Cottage.
Er setzte sich dicht ans Fenster, damit er genügend Licht hatte, dann nahm er das Bild, das Colin gemacht hatte, in die eine Hand und das von der versammelten Gärtnermannschaft in die andere und hielt sie nebeneinander. Die beiden Aufnahmen von Nicholas waren unterschiedlich groß. Vincent schob das Geisterbild langsam über das andere, bis es nah an der kleineren, früheren Aufnahme von Nicholas zu liegen kam.
Vincent atmete scharf ein.
Es war dasselbe Bild. Nicht nur eine zufällige oder vage Ähnlichkeit. Auf der Geisterfotografie etwas unschärfer und versehen mit künstlichen nebelartigen Schlieren, aber ohne Frage ein und dasselbe Bild.
Vincent verglich jeden einzelnen Punkt genau – die Haare, die Augen, die Kopfhaltung –, aber es gab keinen Zweifel. Es gab keinen freundlichen Nicholas-Geist in seiner Nähe.
Er drängte die Tränen der Enttäuschung zurück, die in seinen Augen brannten.
*
»Sie stellen da eine ziemlich abenteuerliche Behauptung auf, Mr Payne«, sagte Ada Tremayne mit zusammengezogenen Brauen.
Vincent und sie waren in der Bibliothek. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er so viele Bücher an einem Ort. Sie standen in hohen Regalen, die bis zur Decke reichten. Nicholas hätte diesen Platz sicher fabelhaft gefunden.
Vincent hatte vorhin all seinen Mut zusammengenommen und bei Mr Pritchard, dem Butler der Tremaynes, um eine Unterredung mit Mr Tremayne gebeten, auch wenn er damit eine Rüge wegen der überzogenen Mittagspause riskierte. »Es ist sehr wichtig«, hatte er hinzugefügt.
Pritchard, steif und würdevoll wie immer, hatte ihn ernst, aber nicht unfreundlich angesehen. Seit dem Krieg hatte Vincent das Gefühl, dass der Butler nicht mehr ganz so hochnäsig wirkte wie davor. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
»Bedaure sehr, Mr Payne, aber der Squire ist heute den ganzen Tag außer Haus.« Er zögerte nur einen kurzen Moment. »Aber Mrs Tremayne ist anwesend. Möchten Sie vielleicht mit ihr sprechen?«
Und so war es gekommen, dass Vincent nun mit Ada Tremayne hier in der Bibliothek saß, in die sie ihn gebeten hatte, jeder mit einer Tasse Tee vor sich. Vincent hätte lieber einen Brandy gehabt, aber dafür war es noch zu früh. Er fühlte sich ein wenig unwohl in dieser herrschaftlichen Umgebung, aber das hinderte ihn nicht, Mrs Tremayne zu erklären, was er herausgefunden hatte.
»Bitte, Ma’am, sehen Sie sich die Fotografien an.«
Ada Tremayne hielt die beiden Bilder in der Hand, die Vincent mitgebracht hatte.
»Nehmen Sie diese Aufnahme« – Vincent deutete auf das Bild der Gärtnermannschaft – »und achten Sie auf meinen verstorbenen Kollegen Nicholas Barnett, hier hinten, neben mir. Und dann« – er zeigte auf das angebliche Geisterbild, das Colin gestern aufgenommen hatte, »vergleichen Sie es mit diesem.«
Mrs Tremayne sah stumm von der einen Fotografie zur anderen und nickte langsam.
»Ja«, sagte sie gedehnt. »Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit.«
»Bei allem Respekt, Ma’am, das ist keine bloße Ähnlichkeit, das ist dasselbe Bild. Bitte, sehen Sie noch einmal genau hin. Das sind Fälschungen!« Vincent schluckte und verdrängte die Trauer, die bei den folgenden Worten in ihm aufstieg. »Es gibt keine Geister. Zumindest keine, die man ablichten könnte.«
»Nein«, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. »Das ist kein Beweis. Und ich muss Ihnen widersprechen: Hat man nicht erst vor einigen Jahren diese sogenannten Röntgenstrahlen entdeckt? Warum soll dann nicht auch die Technik der Fotografie die Geisterwelt sichtbar machen?«
Vincent zögerte kurz, bevor er sie offen ansah. »Nein, Mrs Tremayne, ich denke nicht, dass man es damit erklären kann.«
»Ich glaube, darüber muss ich einen Moment nachdenken.« Es war ein kurzer Moment, denn schon nach wenigen Sekunden hob sie den Blick und sagte: »Sie behaupten also, diese Bilder seien Fälschungen.«
»Ja, Ma’am, das denke ich.«
»Dann müsste das ja für alle dieser Bilder zutreffen.«
Vincent nickte. »Ja, so wird es wohl sein.«
»Lassen Sie es uns an einem weiteren Beispiel nachprüfen.« Sie zog an einer Schnur, die neben einem der Stühle befestigt war, und klingelte. Kurz darauf erschien ein junges Hausmädchen. Mrs Tremayne bat darum, in ihr Zimmer zu gehen und zwei bestimmte Bilder von dort zu holen.
Es dauerte nicht lange, und das Hausmädchen kehrte zurück, überreichte Mrs Tremayne das Gewünschte, knickste und zog sich wieder zurück.
Mrs Tremayne legte beide Fotografien auf den Tisch, sodass auch Vincent sie sehen konnte. Zum einen eine Porträtaufnahme des jungen Ralph Babington, ihres im Krieg gefallenen Neffen. Dieses Bild, erklärte sie, stünde schon seit längerer Zeit auf einer Anrichte in ihrem Zimmer. Vincent überkam tiefes Bedauern, als er an den jungen Lieutenant dachte, der viel zu früh gefallen war. Zum anderen ein vor Kurzem erstelltes »Geisterbild«, von dem Mrs Tremayne sich einen Abzug erbeten hatte. Es zeigte Ralphs Mutter Mrs Babington, über der das geisterhafte Gesicht ihres toten Sohnes zu sehen war. Jetzt hielt Mrs Tremayne beide Fotografien nebeneinander.
Sie ließ sich lange Zeit, sah immer wieder von der einen zu anderen Aufnahme.
»In der Tat«, sagte sie schließlich. »Es ist dasselbe Bild. Das ist wirklich – sehr enttäuschend.« Dennoch blieb sie skeptisch. »Aber – wie soll das gehen? Technisch, meine ich. Ich habe doch gesehen, wie Mr Jones die Aufnahmen gemacht hat.«
»Durch Doppelbelichtung«, erklärte Vincent. »Darüber habe ich neulich etwas gelesen. Man nimmt das ursprüngliche Bild« – Vincent deutete auf Ralphs Porträtaufnahme – »und montiert es per Doppelbelichtung auf das neue Bild. Dann bearbeitet der Fotograf es noch ein wenig, und schon hat man den Eindruck, es handle sich um eine geisterhafte Erscheinung.«
Mrs Tremayne schüttelte den Kopf und nahm ihre Tasse in die Hand. »Nein, das kann ich nicht glauben.« Aber sie klang schon weitaus weniger überzeugt.
»Wie erklären Sie sich dann, dass dieses Bild Ihres Neffen Ralph Babington ganz genauso aussieht wie die angebliche Geisteraufnahme? Oder dass mein …« er stockte nur kurz, »dass Mr Barnett genauso aussieht wie auf der Aufnahme, die vor Jahren von uns allen gemacht wurde?«
Mrs Tremayne schwieg eine ganze Weile. »Gut«, sagte sie schließlich und stellte ihre Tasse wieder ab. »Nehmen wir einmal für einen kurzen Moment an, Sie hätten recht.« Sie hob die Hand, als Vincent einen erleichterten Seufzer hören ließ. »Ich sagte, wir nehmen es an, und nicht, dass ich Ihnen glaube. Also gut, nehmen wir an, Mr Payne, Sie hätten recht, und diese Aufnahme ist eine Fälschung. Wie ist Mr Jones dann an die Aufnahme meines Neffen gekommen? Ich habe sie ihm nicht gegeben, und dieses Bild stand die ganze Zeit auf der Anrichte in meinen Privaträumen.«
Vincent nickte. Das war in der Tat eine gute Frage, die er sich auch schon gestellt hatte. »Er muss einen Komplizen haben. Jemand, der Zugang zu Ihren Räumen hat und so das Bild entwenden konnte.«
»Einen Komplizen?« Mrs Tremayne wirkte schockiert. »Ich habe ganz sicher niemanden Fremdes bei mir eingelassen. Nur ich und die Hausmädchen haben Zutritt zu meinen Privaträumen. Und natürlich mein Bruder. Aber Sie wollen doch nicht ernsthaft Mr Tremayne des Betrugs bezichtigen?«
»Nein«, sagte Vincent langsam. »Natürlich nicht den Squire.«
*
»Hailee!« Die Stimme erklang dicht neben ihr. Fast gleichzeitig griff eine Hand nach ihrem Arm. »Hailee, warte!«
Sie wich zurück, ihr Herz klopfte wie wild. »Du bist es! Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Entschuldige.« Colin zog sie mit sich, in die Nähe des Dienstboteneingangs. »Ich wollte nur vermeiden, dass uns jemand zusammen sieht. Und ich wollte endlich mal ungestört mit dir sein.«
Er hatte recht. Bis auf ein paar kurze, geflüsterte Sätze hatten sie bislang kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden.
Sie musterte ihn. Gut sah er aus in dem Anzug, älter, aber auch sehr weltmännisch. Ganz anders, als sie ihn von früher in Erinnerung hatte. Er war jetzt einunddreißig Jahre alt, vier Jahre älter als sie selbst.
Sie wusste nur so wenig über ihn. Für eine ganze Weile hatte sie befürchtet, er wäre wie so viele andere beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen, bis kurz nach der Ankunft der Carpathia im Hafen von New York ein Lebenszeichen von ihm gekommen war. Aber danach: nichts mehr, obwohl sie ihm geschrieben hatte, dass sie inzwischen in Heligan arbeitete. Doch dann war im vorigen Jahr ein Telegramm von ihm eingetroffen, in dem er sie über seine baldige Rückreise in Kenntnis setzte.
»Ist es wahr?«, fragte sie ihn. »Bist du wirklich fast gestorben bei diesem schrecklichen Schiffsunglück? So, wie du es immer erzählst?«
Colin winkte ab. »Ach was. Aber es hört sich einfach besser an, wenn man die Sache ein bisschen ausschmückt. Gut, ich gebe zu, es war schon ziemlich dramatisch, und als das Schiff zu sinken begann, habe ich tatsächlich für einige Minuten um mein Leben gefürchtet. Die meisten Plätze in den Rettungsbooten waren nämlich schon besetzt. Aber dann sah ich Ellen, das Dienstmädchen der Straus …«
»Die Straus waren deine Arbeitgeber, nicht wahr?« Das hatte er ihr vor Jahren geschrieben: Er würde ein reiches deutsch-amerikanisches Ehepaar auf ihrer Reise nach Amerika begleiten und Aufnahmen von der Überfahrt machen.
Er nickte. »Ja. Sie besaßen ein Kaufhaus in Amerika. Jedenfalls sah ich Ellen dort in einem der Rettungsboote sitzen, gehüllt in einen Pelzmantel. Ich winkte ihr zu, und sie winkte zurück. Ich habe dem zuständigen Offizier erzählt, ich sei Ellens Mann, und sie sei schwanger und brauche mich. Da hat man mich als große Ausnahme noch an Bord des Rettungsboots gelassen.«
»Du hast also gelogen und vermutlich jemandem den Platz im Rettungsboot weggenommen?«
Colin zuckte mit den Schultern. »Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich wirklich ertrunken wäre? Wenn ich jetzt auf dem Grund des Ozeans liegen würde?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Hailee. »Und die Straus? Haben sie ein anderes Boot genommen? Und warum trug das Dienstmädchen einen Pelzmantel?«
»Ellen hat mir erzählt, dass sie mit Mr und Mrs Straus zu diesem Rettungsboot, in dem wir beide saßen, gegangen waren. Aber dort wollte man keine Männer einsteigen lassen. Und Mrs Straus weigerte sich, ihren Mann zu verlassen. Sie bestand allerdings darauf, dass Ellen in das Boot stieg, und gab ihr noch ihren Pelzmantel. Den brauche sie jetzt nicht mehr, habe sie dabei gesagt, und dass er Ellen sicher nützen würde. Dann blieb sie mit ihrem Mann auf der Titanic zurück.« Er hielt kurz inne, in Gedanken versunken. »Eine wirklich großartige Frau.«
»Wie auch immer«, fuhr er dann fort. »Jedenfalls verhilft mir diese Geschichte zu allen möglichen Kunden. Der alte Babington war ausgesprochen freigiebig, als ich ihm das Bild seines gefallenen Sohnes präsentiert habe. Und die meisten anderen Kunden sind auch nicht eben geizig.«
Hailee spürte Abscheu in sich aufsteigen. »Schämst du dich gar nicht? Du machst Geld mit der Trauer dieser armen Leute.«
Er zuckte mit den Schultern. »Arm? Die meisten von ihnen haben genug Geld.«
»Du weißt genau, was ich meine. Du bist ein Betrüger. Mein eigener Bruder ist ein Betrüger!«
»Ich schenke ihnen Hoffnung und Trost. Ist das wirklich so verwerflich, Schwesterchen?«
»Nein«, murmelte sie. »Das ist es nicht.«
Sie hatte noch nie gegen ihn ankommen können. Schon früher, als sie noch Kinder waren. Stets war es ihr Bruder Colin gewesen, der sie von der Wichtigkeit irgendeiner Sache überzeugt oder zu einer Dummheit überredet hatte.
»Ich bin kein schlechter Mensch, Hailee«, sagte er. »Ich will nur auch ein Stück vom Kuchen abhaben. Und dafür gebe ich den Menschen Hoffnung zurück. Hoffnung, die sie bislang vermisst haben. Du solltest das Strahlen in ihren Augen sehen, wenn sie ihre geliebten Toten auf den Bildern erblicken. Da könnte man glatt selbst anfangen, daran zu glauben.«
»Und was willst du jetzt von mir?«, fragte Hailee, obwohl sie es natürlich wusste.
»Du musst mir weitere Bilder besorgen. Am besten eine gute Aufnahme vom Vater des Squires. Ich glaube, er hieß John Tremayne. Könnte mir vorstellen, dass der jetzige Squire und seine Schwester gut dafür bezahlen würden.«
Hailee schüttelte nur stumm den Kopf. In ihr gärte es.
»Und am besten auch etwas von den Offizieren. Die Patienten, die noch im Genesungsheim sind. Einer von ihnen hat mich nämlich schon angesprochen und wollte Geisterfotografien von seinen verstorbenen Eltern haben. Ich habe ihn vorerst damit hingehalten, indem ich ihm erzählte, dass das nicht so einfach sei, wie er hoffte. Dass es am besten dort funktioniere, wo die Verstorbenen gewohnt oder sich zumindest gerne aufgehalten haben. Das hat er fürs Erste geschluckt, aber er war schon mächtig enttäuscht. Und dann sagte er noch, dass es am Geld nicht scheitern solle. Ich glaube, er würde ganz schön was dafür springen lassen.«
Hailee schwieg.
»Die Offiziere sind doch ohnehin meist draußen und sitzen zusammen«, sagte Colin. »Du musst also nur in ihre Zimmer gehen, ein bisschen in ihren Sachen nachschauen und mir dann die Bilder ihrer Verwandten oder Freunde bringen.«
Hailee antwortete nicht.
»Ich kann ja nicht immer die Aufnahme irgendeiner älteren Person nehmen und behaupten, es sei ein verstorbener Verwandter. Vincent hat mir das beim ersten Mal auch nicht wirklich abgekauft. Aber mit deiner Hilfe läuft es richtig gut.«
Es war leicht gewesen, das Bild der Gärtnermannschaft aus dem Büro von Mr Griffin zu entwenden und wieder zurückzubringen. Genauso leicht, wie es gewesen war, das Bild von Master Ralph aus Adas Zimmer zu holen.
Hailee sah auf, sah in seine tiefdunklen Augen, die den ihren glichen. Ihr Herz schlug laut, aber sie hatte sich entschieden.
»Nein, Colin. Ich mache da nicht mehr mit.«
»Wie bitte?«
»Du wirst in Zukunft ohne meine Hilfe auskommen müssen.«
»Verdammt, Hailee, das geht nicht! Ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich das nicht allein tun kann.« Er holte ein paar Scheine aus der Innentasche seiner Jacke und wollte sie ihr in die Hand drücken. »Hier, das ist für dich. Dein Anteil.«
Sie zog die Hand zurück. »Ich will es nicht.«
»Du willst es nicht? Was ist denn mit dir los? Beim ersten Mal hast du es noch mit Freuden genommen.«
»Und das war ein großer Fehler. Ich wünschte, ich hätte mich nie darauf eingelassen.« Sie rieb sich mit der Hand über die Schläfe, wo sich ein leichter Schmerz festgesetzt hatte. »Als du gesagt hast, du brauchst Fotografien, dachte ich, sie wären für einen guten Zweck.«
»Das sind sie ja auch. Sie bringen den Menschen Hoffnung.«
Ihr Herz klopfte wie wild, aber sie fühlte sich trotzdem gut. Stark. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
»Wie ich schon sagte: Ich mache nicht mehr mit. Und ich … ich möchte nicht mehr, dass wir uns sehen.«
Seine Augen wurden schmal. »Doch, Hailee, das wirst du. Du kannst jetzt nicht mehr aussteigen. Du steckst nämlich genauso drin wie ich. Sollte ich je auffliegen, bist du genauso dran wie ich.«
Sie starrte ihn an, fassungslos. Meinte er das ernst? Erpresste er sie gerade – ihr eigener Bruder?
»Das ist …«
Sie verstummte, als Schritte zu hören waren. Gleich darauf bog Vincent um die Ecke. Als er Colin erblickte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck – Hailee hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen.
»Was will der denn jetzt?«, murmelte Colin so leise, dass nur Hailee es hören konnte. Laut sagte er: »Vincent, mein Freund, was kann ich für dich tun?«
»Colin«, sagte er und kam auf ihn zu. »Colin Jones, ich muss mit dir reden!«
Hailee machte ein paar Schritte rückwärts, dann drehte sie sich um und ging. Was immer die Männer miteinander zu bereden hatten – es war wohl besser, wenn sie nicht dabei war.