30

LEXI

Heligan Gardens, Anfang September

Das ältere Paar betrachtete das Foto, das als Teil der dritten Heligan-Ausstellung an einer Wand im Melonenhof hing. Es zeigte die Schwarz-Weiß-Aufnahme mit der geisterhaften Erscheinung im Hintergrund, die bei Lexi einen kleinen gruseligen Schauer verursacht hatte, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte.

»Das ist ein Trick«, stellte der Mann fest. »Gut gemacht, aber ein Trick.«

Lexi, die ganz in der Nähe stand, lächelte in sich hinein. Das war ihr nach dem anfänglichen Schrecken auch klar geworden.

»Die sogenannte Geisterfotografie war eine beliebte Betrugsmasche.« Der ältere Mann war einen Schritt näher an das Bild getreten und las seiner Frau jetzt den begleitenden Text vor. »Durch Doppelbelichtung und Fotomanipulation wurde der Eindruck eines Geistes auf der Aufnahme erweckt. Etliche Gutgläubige fielen darauf herein. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Nachfrage, da sich viele Angehörige ein letztes Zeichen ihrer im Krieg gefallenen Verwandten erhofften.«

Seine Frau studierte das Bild erneut. »Also ich finde es sehr überzeugend.« Sie lachte. »Vermutlich wäre ich auch darauf hereingefallen.«

Der letzte Teil von Lexis Ausstellungen trug den Titel »Boten des Sturms. Heligan um die Zeit des Ersten Weltkriegs«. Er war vor einigen Tagen eröffnet worden. Jetzt waren alle Ausstellungen zu Heligans Geschichte komplett – die ersten beiden waren weiterhin im Steward’s House zu sehen, während die dritte ihren Platz im Melonenhof gefunden hatte.

In einer geschützten Ecke des ummauerten Hofs war eine Fotowand aufgebaut worden, geschmückt mit ein paar gepressten Mohnblüten zur Erinnerung an die Gefallenen. Neben der Geisterfotografie, die Lexi kurzerhand noch hinzugefügt hatte, gab es dort unter anderem eine vergrößerte Ansicht aus dem Donnerbalken-Raum zu sehen, auf dessen Rückwand alle Gärtner unterschrieben hatten, die damals in den Krieg gezogen waren. Außerdem ein Foto der Original-Dienstmarke aus dem Ersten Weltkrieg von Bens Vorfahr, Vincent Payne, sowie eine Reproduktion des alten Fotos der versammelten Gärtner von Heligan, aufgenommen vor der Holztür, die in den Blumengarten führte.

Diese Aufnahme betrachtete Lexi jetzt noch einmal intensiver. Zwölf zumeist junge Männer, die in ihren besten Kleidern für den Fotografen posierten. In der hinteren Reihe standen Vincent, Bens Vorfahr, und sein Kollege und Freund Nicholas nebeneinander.

Viele Gärtner und Arbeiter Heligans waren in den Krieg gezogen. Für jeden dieser späteren Soldaten hatte Lexi die Lebensdaten verzeichnet. Inzwischen wusste sie, dass Nicholas im Oktober 1917 gefallen war. Aber wie erklärte sich dann seine Ähnlichkeit zu Ben? War Nicholas vielleicht Vater eines Kindes gewesen, das bei Vincent aufgewachsen war?

Trotz intensiver Suche hatte sie nichts darüber finden können, dass Nicholas verheiratet gewesen war. Aber auch in früheren Zeiten musste man ja nicht unbedingt verheiratet gewesen sein, um sich fortzupflanzen. Natürlich drängte sich sofort die Vermutung auf, dass Nicholas mit Vincents Frau oder Freundin ein Kind gezeugt hatte. Aber so eng befreundet, wie Vincent und Nicholas offenbar gewesen waren, konnte Lexi sich das nicht vorstellen – das wäre schließlich eine Form von Verrat an ihrer Freundschaft gewesen.

Vielleicht könnte Richard, Bens Großvater, da Licht ins Dunkel bringen. Sie würde ihn noch einmal genauer dazu befragen.

Es roch nach frisch gemähtem Gras. Die große Rasenfläche von Flora’s Green füllte sich allmählich mit Besuchern. Viele von ihnen hatten dicke karierte Decken unter dem Arm, die es am Eingang zu leihen gab, und manch einer gönnte sich ein kleines Picknick aus mitgebrachten Sandwiches. Etliche Vögel, vor allem Rotkehlchen und Spatzen, waren eifrig damit beschäftigt, zwischen den Besuchern nach Futter zu picken.

Es war bereits später Nachmittag, und die gespannte Erwartung unter den Besuchern war förmlich zu greifen. Die Ankündigung zu Heligans Outdoor-Theateraufführung hatte anscheinend halb Cornwall angelockt. Auch das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite, kaum eine Wolke war zu sehen, und der Himmel strahlte in freundlichem Blau.

Lexi freute sich, als sie unter den Besuchern ein bekanntes Gesicht entdeckte.

»Mr Woods!« Sie steuerte auf den älteren Mann mit der karierten Kappe zu. Vor wenigen Tagen hatte sie mit den Woods telefoniert und ihnen auch von ihrer Aufgabe bei der Aufführung erzählt. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten!«

»Ah, Lexi, wie schön, Sie zu sehen!« Er zwinkerte ihr zu. »Aber Sie sollten doch Edwin sagen.«

Edwin und Millicent Woods betrieben die Bed-and-Breakfast-Pension, in der Lexi in den ersten Wochen gewohnt hatte, als sie vor eineinhalb Jahren nach Cornwall gekommen war. Edwin Woods hatte sie damals in seinem alten Ford vom Bahnhof in St Austell abgeholt. Und seine Frau Millicent hatte Lexi mit gutem Essen und viel herzlicher Fürsorge bedacht, was ihr in jenen ersten Wochen nach ihrer Flucht aus London sehr gutgetan hatte.

»Lexi! Wie wunderbar!«

Jetzt erschien auch Millicent, die Lexi ohne große Umstände in die Arme schloss, wobei sie eine blumige Wolke von Parfüm umhüllte.

»Wie geht es Ihnen, Millicent? Wie laufen die Geschäfte? Haben Sie genügend Gäste?«

»Oh, wir können nicht klagen, mein Vögelchen.«

Mein Vögelchen. So nannte Millicent die meisten ihrer weiblichen Gäste, hatte Lexi herausgefunden, die anfangs von diesem speziellen Kosewort etwas irritiert gewesen war. »Für die nächsten Wochen sind wir tatsächlich fast bis aufs letzte Zimmer ausgebucht. Aber wir wollten es uns nicht nehmen lassen, zu dieser heutigen Aufführung zu kommen. Ich glaube, alle unsere Gäste sind momentan auch hier. Aber im Oktober steht dann ein erneuter Dreh fürs Fernsehen bei uns an.«

Millicent war zu Recht stolz darauf, dass ihr wunderschöner großer und gepflegter Garten immer wieder für diverse Verfilmungen genutzt wurde, oft für Produktionen aus Deutschland. »Aber reden wir nicht von uns. Wie geht es Ihnen, Lexi? Sie sehen gut aus. Viel entspannter als damals.«

»Na ja.« Lexi lachte. »Wirklich entspannt werde ich wohl erst sein, wenn die heutige Vorstellung über die Bühne gegangen ist und niemand eine wichtige Requisite vermisst hat – aber ja, es geht mir viel besser.«

Sie wechselte noch ein paar Worte mit den Woods, dann verabschiedete sie sich, um weitere Zuschauer zu begrüßen.

Leider würden ihre Eltern die Aufführung nicht sehen können. Ihre Anreise von den Malediven verzögerte sich um ein paar Tage, da sie keinen passenden Flug mehr bekommen hatten. Nun würden sie erst in einer knappen Woche kommen. Sobald sie in London gelandet wären, hatten sie vereinbart, sollten sie Lexi anrufen, die ihnen dann erst die genaue Adresse mitteilen würde. Vermutlich war sie inzwischen leicht paranoid, fürchtete Lexi, aber sie wollte einfach sichergehen, dass Rob nicht doch noch durch einen dummen Zufall an ihre Adresse kam.

Umso mehr freute sie sich jetzt, Bens Mutter Anett und seinen Großvater Richard zu sehen. Richard hatte einen tragbaren kleinen Klappstuhl mitgebracht, den er gerade auf der gepflegten Rasenfläche aufbaute.

»Mum hat extra mit einer Kollegin getauscht, damit sie kommen kann«, sagte Ben. Seine Mutter arbeitete im Schicht- und Wochenenddienst in einem Costcutter-Supermarkt – eine Arbeit, die sie nicht gerade liebte, wie sie sagte, die aber getan werden musste.

Ben hatte sich schon für das Theaterstück umgezogen und war jetzt gekleidet wie einer der Gärtner aus dem Jahr 1914, mit einer Weste über dem Hemd und einer Schiebermütze. Fremd sah er für Lexi aus, aber auch irgendwie passend – und seinem Fast-Ebenbild Nicholas Barnett von vor über einhundert Jahren, das sie noch vor wenigen Stunden so eingehend studiert hatte, noch ähnlicher. Er hatte sich sogar einen Dreitagebart wachsen lassen.

»Hätten Sie nach der Aufführung noch etwas Zeit?«, wandte Bens Großvater Richard sich an Lexi. »Ich habe nämlich etwas für Sie, was ich Ihnen zeigen möchte.«

»Ja, natürlich. Sehr gern.«

Er nickte, dann räusperte er sich. »Ich hatte überlegt, ob ich Sie schon früher kontaktiere, damit Sie es noch für Ihre Ausstellung verwenden können. Aber dann war es mir doch zu persönlich.«

»Jetzt machen Sie mich aber neugierig«, sagte Lexi. »Was halten Sie davon, wenn wir – Sie, Ben und Anett – uns nach der Vorstellung noch treffen und etwas trinken gehen? Ich wollte Sie nämlich auch noch etwas fragen.«

»So machen wir das«, nickte Richard. Sie verabredeten sich für den Abend in einem nahe gelegenen Pub.

Dann ertönte auch schon ein laut hallender Gong: das Signal zum Sammeln für die Schauspieler und die sonstige Crew.

»Auf geht’s«, sagte Ben.

»Hals- und Beinbruch«, wünschte Richard.

Ben nickte. »Wird schon schiefgehen.«

Richard und Anett waren etwas enttäuscht, dass auch Lexi nicht bei ihnen bleiben würde, um das Stück zu genießen. Aber sie war für einen Teil der Requisiten zuständig, die im Lauf des Stücks benötigt wurden.

Auch dank ihrer Hilfe hatte sich eine Ecke von Flora’s Green in die Kulisse für das Freilicht-Theaterstück verwandelt. Aufgetürmte Heuballen und alte Arbeitsgeräte vermittelten den Eindruck, sich am Anfang des vorigen Jahrhunderts zu befinden.

Es gab ein paar professionelle Theaterschauspieler und viele Laiendarsteller, darunter nicht nur Ben, sondern auch Eliza, die eine der Dorffrauen spielte, und Orlando, der einen Zeitungsboten darstellte. Das Stück, das an verschiedenen Stellen der Heligan-Gärten aufgeführt werden sollte und bei dem die Zuschauer mitlaufen würden, würde bis zur Abenddämmerung gehen.

Bislang hatte Lexi nur kurze Auszüge aus den Proben mitbekommen, aber jetzt sah sie zum ersten Mal, wie echt alles wirkte. Ein paar Frauen wuschen Wäsche und sangen dabei, dann hielten sie inne: Die Nachricht vom Kriegsbeginn verbreitete sich. In der Ferne war eine Trommel zu hören. Kurz darauf tauchte eine Blaskapelle auf, die zur Einberufung spielte. Die jungen Männer, unter ihnen auch Ben, wurden aufgefordert, ihre Pflicht als Soldaten zu erfüllen.

Als Nächstes hielt ein Schauspieler in Priesterornat einen kurzen Abschiedsgottesdienst für die Männer, die für den baldigen Abmarsch bereitstanden. Die Dorfbewohner erschienen, um den Männern Lebewohl zu sagen.

Auch wenn Ben kein geborener Schauspieler war, so machte er seine Sache gut. Er und seine Kollegen wirkten recht überzeugend als einfache Arbeiter, die sich auf den Krieg freuten. Man hörte, wie die zukünftigen Soldaten sich unterhielten. Es werde ein kurzer Feldzug sein. Bis Weihnachten werde alles vorbei sein.

Lachen und Rufe ertönten, als sich die jungen Männer in Bewegung setzten. Einige Dorfbewohner folgten ihnen mit Fahrrädern, andere liefen zu Fuß hinterher. Die Frauen blieben zurück, manche stimmten ein Lied an oder winkten mit Taschentüchern.

Lexi ging es wie wahrscheinlich den meisten Zuschauern: Sie hatte nicht das Gefühl, ein Stück zu sehen, sie war ein Teil davon. Langsam folgten die Zuschauer den Darstellern auf einer Reihe von gewundenen Wegen bis zu einer nahe gelegenen, ordentlich gemähten Weide.

Hier war Lexi gefordert. Gemeinsam mit einigen anderen Helfern unterstützte sie die Schauspieler am Rand des Spielfelds dabei, die Zivilkleidung auszuziehen und sich die Uniformen überzustreifen. Ben sah darin ziemlich sexy aus, fand Lexi.

Es gab ein paar Trainingseinheiten für die neuen Soldaten mit ein wenig Marschieren und viel Gelächter. Als die Soldaten danach an ihnen vorbeizogen, folgten die Zuschauer abermals. Weiter ging es zum Westrasen, zur großen Wiese unterhalb von Heligan House, nicht weit vom Dschungel entfernt. Hier war noch nicht gemäht worden, das Gras und die Wildblumen standen hoch.

Jetzt waren sie an der Front, hier fand eine Schlacht statt. Lexi und die anderen Helfer wurden gebraucht, um Gewehre zu reichen sowie Gesichter und Uniformen mit Schmutz und roter Farbe einzureiben.

Es gab eine Handvoll kleinerer Explosionen in der Nähe des Gebüschs am Fuße des Hangs, die Männer rückten vor. Etliche fielen in das hohe Gras und waren nicht mehr zu sehen.

Es wurde still, bis der Rauch sich auflöste.

Auf der anderen Seite des Feldes tauchten einige Krankenschwestern mit Tragen auf, überquerten die Wiese und eilten zu den Verwundeten. Ein paar Männer wurden auf die Tragen geladen und abtransportiert, um behandelt zu werden.

Fast unbemerkt hatte die Abenddämmerung eingesetzt. Es war noch hell genug, um alles zu erkennen, dennoch gab es jetzt eine kurze Pause, in der einige Laternen am Rand des Feldes entzündet wurden. Unter den Zuschauern, die am Saum der Wiese standen, herrschte fast komplette Stille. Kaum jemand sprach, und wenn, dann im Flüsterton, niemand machte Fotos.

Als alle Laternen brannten, begann ein Schauspieler, langsam und mit volltönender Stimme Namen und ein paar Hintergründe vorzulesen. Einige dieser Informationen hatte Lexi beigesteuert.

»Samuel Warren. Er war einer von sieben Geschwistern. Ein hart arbeitender junger Mann, der eine große Unterstützung für seine Familie war. Er fiel mit zwanzig Jahren.«

Weit draußen auf dem Feld erhob sich der junge Mann, der Samuel darstellte, aus dem hohen Gras und blieb dort mit in die Ferne gerichtetem Blick stehen.

»George Moore, gefallen mit einundzwanzig. Seine junge Frau fand irgendwann eine neue Liebe, hat ihn aber nie vergessen.«

Georges Darsteller tauchte aus dem Gras auf und stand dann reglos da.

Mit jedem Namen, der aufgerufen wurde, erhob sich ein weiterer Darsteller aus dem Gras, in dem er gelegen hatte, und blieb stumm dort stehen.

»Nicholas Barnett, Gärtner in Heligan. Zog gemeinsam mit seinem besten Freund Vincent Payne in den Krieg. Er fiel mit fünfundzwanzig Jahren in Belgien.«

Jetzt erschien Ben im hohen Gras.

»Charlie Ball, Gärtner in Heligan. Gefallen mit siebenundzwanzig Jahren.«

»Percy Carhart, Gärtner in Heligan. Gefallen mit neunzehn Jahren.«

Als alle Namen aufgerufen waren, gingen die Darsteller der Gefallenen mit langsamen Schritten den Hügel hinab.

Und obwohl Lexi natürlich wusste, dass das Stück so enden würde, hatte sie bei diesem feierlichen Defilee Tränen in den Augen. Wie alle anderen Zuschauer stand sie ergriffen da und sah zu, wie die Geister der Gefallenen ihre letzte Reise antraten. Sie verspürte ein leises Prickeln im Hinterkopf, als würde sie jemand beobachten, aber sie war zu gebannt von dem Geschehen vor ihr, um darauf zu achten.

Die Darsteller begaben sich in Richtung Tal, vorbei an den angezündeten Laternen, die durch die zunehmende Dunkelheit schienen. Auch wenn das Stück jetzt vorbei war, wagte niemand zu klatschen. Das hätte einfach nicht gepasst.

Lexis Blick glitt über die Zuschauer, die nur sehr langsam auseinandergingen.

Dann erstarrte sie.

Am Rand der Menge stand ein dunkelhaariger Mann in einer Lederjacke und sah sie unverwandt an.

Rob.