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LEXI

Heligan Gardens, Anfang September

Rob. Er war es, da gab es keinen Zweifel: die fast schwarzen leicht gegelten Haare, die Lederjacke, der hungrige Ausdruck in den dunklen Augen.

Er hatte sie schließlich doch noch entdeckt.

Lexis Herzschlag, der für einen Moment stehen geblieben war, beschleunigte sich, wurde zu einem hektischen Flattern, als sei ein Vogel in ihrer Brust gefangen.

Aber sie war doch immer so vorsichtig gewesen. Hatte niemandem, nicht einmal ihren Eltern, ihren genauen Aufenthaltsort verraten …

»Hallo, Em«, sagte er.

Em. So hatte er sie immer genannt, als Abkürzung von Emilia, ihrem richtigen Namen. Er lächelte mit dieser für ihn so typischen Mischung – verwegen und ein wenig wölfisch. »Endlich habe ich dich gefunden.«

»So heiße ich nicht mehr«, brachte sie mühsam hervor.

»Ich weiß. Du nennst dich jetzt Lexi. Aber das macht nichts. Für mich wirst du immer meine Em bleiben.« Er näherte sich ihr langsam. Sie wich zurück. »Du hast dich für sehr schlau gehalten, nicht wahr, Em? Hast einen anderen Namen angenommen und so getan, als würdest du auf die Malediven zu deinen Eltern reisen. Und eine neue Haarfarbe hast du auch. Gefällt mir übrigens sehr, dieses Silbergrau! Macht dein Gesicht irgendwie weicher.« Er lachte kurz auf. »Aber ganz so schlau warst du dann doch nicht.«

Die Laternen, die am Rand des Feldes angezündet worden waren, blendeten sie, sie erkannte kaum, was dahinterlag. Ben war nirgends zu sehen – vermutlich war er noch am Fuß des Hügels bei den anderen Darstellern. Und die Zuschauer begannen, sich langsam zu zerstreuen. Ihr letzter schwacher Schutz war dahin.

Schwarze Flecken erschienen an den Rändern ihres Gesichtsfeldes, das sich allmählich zusammenzuziehen schien. Aber ein Teil von ihr funktionierte offenbar völlig losgelöst von ihrer Angst. Der Teil, der ihr sagte, das Handy in ihrer rechten Hosentasche hervorzuholen.

»Komm schon, Em, ich will nur mit dir reden.«

Sie nickte langsam. Reden war gut. Solange er redete, war er berechenbar. Gefährlicher wurde es, wenn er nicht mehr redete.

»Wie hast du mich gefunden?«, presste sie hervor. Wo war das verdammte Handy?

»Über eine Gesichtserkennungssoftware. Die brachte mich zu einem Facebook-Eintrag, auf dem du und dein neuer Stecher zu sehen waren. Ihr habt Bäume geschmückt oder so einen Scheiß.«

Das Bild, das Orlando aufgenommen hatte und das kurz darauf auf Heligans Facebook-Seite zu sehen gewesen war. Aber das hatte sie doch löschen lassen, sobald sie es entdeckt hatte. Konnte es ein so unglücklicher Zufall gewesen sein, dass Rob sie genau in dieser Zeit, als das Bild für wenige Stunden online gewesen war, gefunden hatte?

»Irgendein hilfreicher Idiot hatte einen Screenshot von dem Beitrag gemacht, solange der noch online war«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Er hat es dann auf seinem Twitter-Account gepostet und noch einen bescheuerten Kommentar daruntergestellt. Keine Ahnung, warum die Leute so was machen. Aber das war mein Glück, denn so hab ich dich gefunden.«

Diese Möglichkeit hatte Lexi nicht bedacht. Sie hatte nur daran gedacht, das Bild auf Facebook löschen zu lassen. Dass es Leute gab, die von solchen Einträgen Screenshots machten, hatte sie einfach nicht in Erwägung gezogen.

Sie zog die rechte Hand zurück und suchte in der linken Hosentasche. Ihre Finger schlossen sich um die vertrauten Kanten, endlich hatte sie ihr Handy gefunden. Aber sie hatte es während der Vorführung ausgeschaltet und musste es erst wieder einschalten.

»Ist er auch hier?«, fragte Rob.

»Wer?«

»Na, wer wohl? Dein neuer Stecher.«

»Ich habe keinen neuen Freund.« Im Stillen bat sie Ben um Vergebung, dass sie ihn verleugnete. Aber Rob war zu allem fähig, das wusste sie schließlich nur zu gut.

»Ach nein? Und wer war dann der Kerl, der auch auf dem Bild drauf war? Der an deiner Seite, der dich anschaut, als wolle er gleich mit dir in die Kiste springen?«

»Das war nichts. Nur ein Kollege.«

Fast fühlte Lexi sich wieder zurückgeworfen in jene Zeit vor knapp zwei Jahren, als Rob und sie noch ein Paar gewesen waren. Damals hatte er ihr auch bei jeder kleinsten Verspätung, jedem winzigen Fehler unterstellt, sie würde ihn betrügen. Und irgendwann hatte er ihr gesagt, sollte sie ihn je verlassen, dann würde er sie töten.

»Ich glaube dir nicht, Em. Du hast mich schon zu oft belogen.«

In ihrem Kopf war nur ein Gedanke: Sie musste weg von hier. Weg von ihm.

Sie wich ein paar weitere Schritte zurück, drehte sich um und begann zu laufen. Über die Wiese mit dem hohen Gras, das bei jedem Schritt laut raschelte. Am Ende der Weide angelangt, bog sie auf den leicht abschüssigen Weg am Waldrand ein, der zur Seilbrücke und zum Dschungel führte.

Im Laufen drückte sie auf den Einschaltknopf ihres Handys. Aber um den PIN-Code einzugeben, hätte sie anhalten müssen. Und das war natürlich undenkbar.

Unter ihren Sohlen spürte sie den kompakten Boden des Weges, in der zunehmenden Dämmerung wirkte der Wald zu ihrer Linken fast unheimlich.

Lexi rannte weiter. Kopflos, panisch. Lauf, trommelten ihre Füße, lauf, lauf, lauf. Dieses Tempo könnte sie länger durchhalten. Aber Rob war hinter ihr, sie konnte ihn hören. Er war früher Soldat gewesen und mindestens genauso sportlich wie sie. Es war ein Leichtes für ihn, ihr zu folgen.

Die Angst ließ sie kaum einen klaren Gedanken mehr fassen. Nur vorwärts, vorwärts …

Da, endlich, die Seilbrücke. Wie ein riesiges exotisches Insekt spannte sie sich hoch über das dicht bewachsene Tal. Bei Tag waren hier meist viele Besucher. Jetzt, in der beginnenden Dunkelheit, war die Brücke verlassen. Sie wirkte fast ein wenig unheimlich, und doch war sie ihre Rettung.

Auf der anderen Seite ging es in den Dschungel. Dort wäre Lexi sicher. Dort würde sie sich zwischen den riesigen Baumfarnen und Palmen verstecken können, bis ihr jemand zu Hilfe kam. Vielleicht könnte sie auch, wenn es dunkel genug war, durch den Dschungel zurück zum Eingang gelangen und sich dort selbst in Sicherheit bringen.

Atemlos betrat Lexi die Brücke. Hier musste sie langsamer machen.

Die Brücke schwang bei jedem ihrer hastigen Schritte. Sie bestand aus einer Vielzahl miteinander verknoteter Seile, die rechts und links bis fast auf Kopfhöhe reichten, und einem schmalen, geknüpften Laufsteg. Wie eine Art sehr langer Hängematte.

Sie schrie auf, als eine Hand sie von hinten packte: Rob hatte sie eingeholt, sein eiserner Griff umklammerte ihr Handgelenk.

Mit aller Kraft versuchte sie, sich ihm zu entwinden, aber er war viel stärker als sie und hielt sie mühelos fest.

»Wenn du nicht sofort aufhörst zu strampeln, werfe ich dich von der Brücke!«

Augenblicklich hielt sie still. Robs Worte waren keine leere Drohung, das wusste sie. Er war durchaus – körperlich wie moralisch – in der Lage zu tun, was er da sagte. Und unter ihnen ging es mehr als zehn Yards in die Tiefe.

»Lass mich los! Bitte, Rob. Du tust mir weh!«

Natürlich ließ er sie nicht los.

»Warum hast du mich verlassen, Em? Warum bist du gegangen? Hatten wir es nicht schön miteinander?«

»Warum?« Für einen Augenblick überflügelte grenzenlose Wut ihre Angst. »Weil du mich keinen Atemzug allein hast machen lassen. Weil du ein kontrollsüchtiger Freak bist. Und weil du gedroht hast, mir was anzutun!«

»Stimmt«, sagte Rob, plötzlich ganz ruhig.

Mist. Nicht gut. Gar nicht gut.

»Hilfe!«, schrie sie, so laut sie nur konnte. Ganz langsam versuchte sie, weiter zurückzuweichen auf der wackeligen Brücke, hin in Richtung Dschungel. Sich umzudrehen wagte sie nicht.

Schritt für Schritt folgte er ihr. Und zog sie schließlich erneut an sich. An ihrer Hüfte spürte sie einen harten Gegenstand. Hatte er etwa seinen Revolver mitgebracht? Den, den er ihr früher einmal so stolz präsentiert hatte?

Angst flutete über sie hinweg, sie wurde schlaff in seinen Armen.

»Rob, bitte. Ich … ich verspreche dir, ich komme zurück zu dir. Ich ziehe zu dir, so, wie du es immer wolltest. Und dann machen wir uns ein schönes Leben.« Sie plapperte einfach weiter. Versprach ihm das Blaue vom Himmel, um ihn zu besänftigen.

Er drückte sie noch enger an sich. »Weißt du, Em«, sagte er, ganz dicht an ihrem Ohr, »ich bin nicht sicher, ob ich dich zurückhaben will.«

Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen.

»Weißt du noch, was genau ich gesagt habe, was ich tun würde, wenn du mich verlässt?«

Sie antwortete nicht. Ihr Herzschlag setzte wieder ein, laut und hämmernd.

»Ich sagte«, fuhr er fort, ohne auf ihre Antwort zu warten, »dann würde ich dich umbringen.«

In blinder Panik warf sie sich herum. Es gelang ihr, sich aus seiner Umklammerung zu befreien und die Brücke zurückzulaufen. Aber sie kam nur zwei wackelige Schritte weit, da griff er erneut nach ihr.

Sie schrie auf, schlug auf ihn ein, aber er hielt sie fest und hob sie mühelos hoch.

Er will mich hinunterwerfen!, fuhr ihr durch den Kopf.

Mit beiden Händen klammerte sich Lexi an die stabilen Seile der Brücke – der einzige Schutz, der sie vor dem Sturz bewahrte.

Ab Taillenhöhe aufwärts waren die Abstände zwischen den miteinander verknüpften Seilen größer – groß genug, dass eine schlanke Person hindurchpasste. Rob umfasste sie wie einen sperrigen Gegenstand und begann, sie durch eine der quadratischen Öffnungen zu schieben.

Wenn ihm das gelingen sollte, wäre sie verloren.

Lexi schrie und strampelte und hielt sich an den Seilen fest, aber gegen Rob kam sie nicht an.

Die Brücke schwankte, mehr noch als zuvor.

»Lass sie sofort los, du Schwachkopf!«

Das war Ben. Er trug noch immer die kakifarbene Soldatenuniform von der Theateraufführung. Erleichterung durchflutete Lexi und gleich darauf eine ganz neue Form der Angst – um ihn.

»Ah, der verlässliche Retter, der unserer Jungfrau in Nöten zu Hilfe kommt.« Rob machte keine Anstalten, Lexi loszulassen. Er war nicht einmal sonderlich außer Atem. »Ist er das, dein neuer Freund?«

Sie schluchzte nur.

»Antworte mir, Em, ich hab dich was gefragt!«

»Nein, das ist er nicht!«, schrie sie. Wenn sie schon sterben musste, dann sollte wenigstens Ben überleben.

»Doch, das bin ich«, sagte Ben, und Lexis Herz sank. »Und du lässt sie jetzt augenblicklich los.«

Rob lachte auf. »Na klar. Ich lass mir doch von dir dahergelaufenem Wicht nicht wegnehmen, was mir gehört!«

Ganz entfernt glaubte Lexi, den jaulenden Ton einiger Polizeisirenen zu hören. Aber vermutlich bildete sie sich das nur ein.

»Hörst du es?« Ben nahm den Blick nicht von Rob. »Die Polizei ist schon unterwegs. Du hast keine Chance.«

Rob grinste höhnisch. »Weißt du, wie egal mir das ist? Bis die hier sind, bin ich längst wieder verschwunden. Hierher kann man nicht mit dem Auto fahren.«

Da hatte er leider recht. Mit den Autos kam die Polizei nur bis zum Parkplatz, ab da ging es in Heligan nur noch zu Fuß weiter. Und der Dschungel lag etwa zwanzig Minuten Fußmarsch vom Eingang entfernt.

Dann ging alles ganz schnell. Ben machte ein paar Schritte auf sie beide zu. Lexi wusste nicht, was genau er getan hatte, aber es gab ein kurzes Gerangel, und dann stand sie wieder mit beiden Beinen, am ganzen Körper zitternd, auf der Brücke. Rob kniete vornübergekrümmt da – hatte Ben ihm einen Tiefschlag versetzt?

»Na los, komm mit, Lexi!« Ben zog sie mit sich, über die schwankende Seilkonstruktion der Brücke, die unter ihr wie verrückt wackelte. Weg, nur weg, und nach wenigen Schritten hatten sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen.

Dann durchdrang Robs schneidende Stimme die Geräusche des Dschungels. »Du wirst nirgends mehr hingehen, Em!«

Er stand in der Mitte der Seilbrücke und klammerte sich mit einer Hand an die geknüpften Seile. In der anderen Hand hielt er einen Revolver, mit dem er nun auf Lexi zielte.

Blut rauschte in ihren Ohren.

Der Revolver. Er hatte ihn tatsächlich mitgebracht.

Das war es. Sie hatte sich zu früh gefreut. Gleich wäre es vorbei.

Ein Schuss hallte durch den Dschungel, unnatürlich laut. Ein Nachttier kreischte auf, ein Vogel erhob sich mit wildem Flügelschlag in die Dämmerung.

Lexi erwartete den Schmerz, erwartete zu spüren, wie das Leben aus ihr wich, aber da war nichts.

»Shit«, stieß Ben an ihrer Seite hervor.

In der Mitte seiner Uniformjacke breitete sich rasch ein dunkelroter Fleck aus. Dann knickten seine Beine ein, und er fiel lautlos um.

Lexi sank neben ihm auf die Knie, fassungslos, von einer Angst erfüllt, die sie kaum atmen ließ.

Nein! Nein nein nein!

Ben rührte sich nicht. In den Schatten, die die tief hängenden Farne auf den Weg warfen, konnte sie sein Gesicht kaum noch sehen.

Sie begann, aus vollem Hals um Hilfe zu schreien.

Plötzlich war der Dschungel, der Weg und das Feld daneben erfüllt von Rotorengeräusch und gleißend hellem Licht.