Heligan House, Mai 1919
»Er ist bestimmt deinetwegen fort«, behauptete Demi eines Abends, als Hailee und sie in ihren Betten in ihrem gemeinsamen Zimmer lagen.
»Von wem sprichst du?«, fragte Hailee.
»Von diesem charmanten Fotografen, Mr Jones. Colin.«
So war es: Colin war fort. Ob für immer oder nur für einige Tage, wusste Hailee nicht. Seit jenem Gespräch mit Vincent war er jedenfalls nicht wieder aufgetaucht. Und sosehr sie ihren Bruder auch schätzte – ihr vorherrschendes Gefühl war nicht Sorge, sondern Erleichterung.
Nun ja, nicht nur.
Von der Auseinandersetzung der beiden Männer hatte sie nicht viel mitbekommen. Sie vermutete aber, dass Vincent ihm deutlich die Meinung gesagt hatte – vielleicht hatte er ihn sogar geschlagen, was sie sich bei einem so friedlichen Mann wie Vincent eigentlich nicht vorstellen konnte. Aber wer konnte schon sagen, wie der Krieg jemanden veränderte?
Wusste Vincent Bescheid über den Betrug mit den angeblichen Geisterfotografien? Und falls ja: Kannte er die ganzen Hintergründe? Für ein paar Tage hatte Hailee in der Angst gelebt, dass auch ihre Mittäterschaft aufgedeckt worden war. Aber nichts geschah. Niemand beschuldigte sie.
Demi drehte den Kopf zu ihr und sah sie an, eine Falte zwischen den Augen. »Hab ich recht, dass er deinetwegen fort ist? Ich habe euch nämlich zusammen gesehen. Und ihr habt ausgesehen, als wärt ihr sehr vertraut miteinander.«
Hailee wurde es plötzlich unangenehm warm. »Das bildest du dir ein.« Niemand wusste schließlich, dass Colin ihr Bruder war.
Demi setzte sich im Bett auf. »Dann willst du also nichts von ihm?«
»Nein, will ich nicht. Da kannst du ganz sicher sein.«
»Oh, gut.« Demi legte sich wieder hin, ganz offensichtlich erleichtert. »Findest du nicht, dass er unglaublich gut aussieht? Und er wirkt so weltmännisch.«
Hailee schwieg.
»Findest du nicht auch?«
Hailee stieß einen vagen, zustimmenden Laut aus.
»Weißt du«, fuhr Demi fort, »er hat mir gesagt, er würde auch mit mir eine Geisterfotografie machen.«
»Dafür willst du dein Geld ausgeben? Du hast doch niemanden verloren.«
Demi hob die Schultern. »Na ja, irgendjemand wird sich schon finden. Und mir geht es ja vor allem darum, mal mit ihm allein zu sein. Was meinst du – ob er noch ledig ist?«
»Keine Ahnung«, sagte Hailee, der das Gespräch immer unangenehmer wurde. »Du kannst ihn ja mal fragen.«
Demi kicherte, als hätte Hailee einen besonders guten Witz gemacht. »Das würde ich ja. Wenn ich nur wüsste, wo er steckt.« Sie drehte den Kopf in Hailees Richtung. »Ist dir aufgefallen, dass Mrs Tremayne neuerdings irgendwie komisch ist?«
»Findest du?«
»Ja, sie duldet mich seit einiger Zeit kaum noch in ihrer Nähe. Jetzt soll ich plötzlich nicht mehr in ihre Privatgemächer. Dabei habe ich doch gar nichts angestellt. Ich weiß auch nicht, was sie plötzlich hat.«
»Das hat sicher nichts mit dir zu tun. Es ist bestimmt Mrs Tremaynes Rheuma. Das macht sich in letzter Zeit immer öfter bemerkbar, und dann ist sie reizbar und vielleicht auch etwas ungerecht.«
»Ja.« Demi nickte gähnend. »Das wird’s wohl sein.«
Insgeheim ahnte Hailee allerdings den wahren Grund, weshalb Ada sich so ablehnend gegenüber Demi verhielt. Womöglich verdächtigte sie das junge, ein wenig flatterhafte Zimmermädchen, das Bild aus ihrem Zimmer genommen zu haben, mit dem Colin seine angeblichen Geisterfotografien von Master Ralph hergestellt hatte. Das schlechte Gewissen nagte an Hailee, aber natürlich konnte sie nicht sich selbst verraten.
Sie löschte die Kerze und zog sich die Decke bis zum Kinn. »Und jetzt lass uns schlafen.«
Ein Unwetter zog auf. Im Eindösen lauschte Hailee dem Wind, der um die Ecken pfiff, und dem Regen, der an das Fenster trommelte. Es hörte sich an, als schlüge jemand von außen dagegen.
Klopf, klopf. Klopf.
Das war kein Traum. Da klopfte jemand bei ihr. Und zwar nicht an die Tür, sondern ans Fenster!
Mit einem Ruck war sie hellwach.
Das Zimmer, das Hailee und Demi gemeinsam nutzten, lag unter dem Dach im dritten, obersten Stockwerk von Heligan House. Niemand, der nicht in einer absoluten Notlage war, würde sich die Mühe machen, hier heraufzuklettern. Und nur wenige Menschen wussten überhaupt, wo sich ihre Kammer befand.
Hailee warf einen Blick auf Demi, die tief und fest schlief, und schlüpfte leise aus dem Bett. Ihr Herz schlug rasch. Ihr fiel nur ein Mensch ein, der gleichermaßen die Frechheit und die Fähigkeit besaß, nachts an ihrem Fenster zu klopfen: Colin.
Aufgeschreckt und mit steifen Fingern entzündete sie die Kerze wieder, die in einem einfachen Halter auf ihrem Nachttisch stand, und trat ans Fenster. Sie hatte recht gehabt: Durch die Scheibe sah sie ihren Bruder. Er winkte ihr zu, drängend, bedeutete ihr, sie möge das Fenster öffnen.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte, ihm stumm zu verstehen zu geben, dass er hier nicht erwünscht sei.
Im nächsten Moment presste er eine blutige Hand an die Scheibe.
Oh Gott. Er war verletzt!
Der Riegel ließ sich nicht sofort öffnen, und sie musste ein wenig dran ruckeln und ziehen, bis das Fenster aufging. Ein Schwall kalter Nachtluft und Regen kam herein, zusammen mit ihrem Bruder. Halb kletterte er, halb ließ er sich ins Zimmer fallen. Die Kerzenflamme flackerte, erlosch aber nicht.
Ein leiser Schrei aus Demis Bett ließ Hailee herumfahren. Ihre Freundin war aufgewacht und saß nun aufrecht im Bett, die Decke bis fast zur Nasenspitze hochgezogen. »Was … wer …«, stammelte sie.
Dann erkannte sie Colin, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde weicher, fast verführerisch. Sie ließ die Decke ein wenig sinken. »Colin? Was machst du denn hier?«
Dann verstummte sie: Colin hatte seine Jacke geöffnet, und der Blick auf sein durchnässtes Hemd offenbarte einen großen dunklen Blutfleck unterhalb seiner rechten Schulter.
Hailee schlug sich die Hand vor den Mund. »Um Gottes willen, Colin, was ist denn passiert?«
Er wankte zu Hailees Bett und streckte sich, zum Teil sitzend, zum Teil liegend, darauf nieder. Im schwachen Kerzenschein wirkte sein Gesicht leichenblass.
»Sagen wir … ein … unzufriedener Kunde …«, stieß er hervor. »Wir hatten … einen Disput über meine Bezahlung, und da stach er plötzlich mit einem Messer zu.«
Hailee konnte sich denken, worum es bei diesem »Disput« gegangen war. Vermutlich hatte der Kunde den Betrug mit der Geisterfotografie bemerkt, aber Colin hatte trotzdem auf seiner Bezahlung beharrt.
»Das muss versorgt werden.« Sie nahm ihr zweites Hemd von dem Haken an der Wand, wo ihre Sachen hingen. Sie zögerte nur kurz, dann riss sie kurz entschlossen einen Streifen aus dem Hemdsaum und presste den Stoff fest auf die Wunde. Colin stöhnte leise auf. Sie nahm seine Hand und legte sie über den Stoff. »Halt das fest.«
Auch Demi war jetzt aus dem Bett gestiegen.
»Vielleicht brauchst du einen Arzt?«, schlug sie vor.
Er hatte sichtlich Schmerzen, aber er schüttelte den Kopf. »Nein. Es geht schon.« Sein Gesicht glänzte vor Schweiß oder vor Nässe. »Ich brauche nur jemanden, der mich anständig verbindet.« Er versuchte sich an einem Lächeln, das allerdings reichlich angestrengt ausfiel. »Seid ihr beide nicht Krankenschwestern? Dann kennt ihr euch doch damit aus.«
»Hilfskrankenschwestern«, berichtigte Hailee ihn. »Und wir sollten uns die Wunde zumindest mal ansehen.«
Sie half ihm, sein Jackett und seine Weste abzulegen und das Hemd zu öffnen. Kaum hatte sie den Stoffstreifen, den er auf die Wunde drücken sollte, ein wenig angehoben, quoll üppig neues Blut hervor. Der helle Leinenstoff seines Hemdes mit dem kleinen Stehkragen war blutdurchtränkt. Wo das Messer eingedrungen war, klaffte ein tiefer Riss im Stoff.
»Tut mir leid, wenn ich Ärger mache«, nuschelte Colin, der sich inzwischen ganz auf Hailees Bett ausgestreckt hatte. Er klang besorgniserregend leise.
»Du brauchst einen Arzt«, wiederholte Hailee Demis Vorschlag.
»Nein!« Er versuchte, sich aufzurichten, sank aber sofort wieder stöhnend zurück. »Das wird schon wieder. Ich brauche nur jemanden, der … der mich wieder zusammenflickt.«
»Aber dafür haben wir nichts hier oben«, wandte Demi ein, die gerade dabei war, nun die zweite Kerze in dem kleinen Kerzenhalter auf ihrem Nachttisch zu entzünden. »Das Verbandmaterial ist unten, in einem Schrank im Raucherzimmer.«
»Dann«, murmelte Colin, »sollte eine von euch dort holen, was ihr braucht.«
»Ich gehe«, sagte Demi, bevor Hailee etwas erwidern konnte. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, warf sich einen Umhang über ihr Nachthemd und griff nach dem Kerzenhalter.
Colin stieß einen zustimmenden Laut aus, stöhnte leise auf, dann war er still.
Demi warf ihm einen besorgten Blick zu. »Ich bin gleich zurück.« Und schon war sie zur Tür hinaus.
Hailee wandte sich wieder ihrem Bruder zu. »Colin?«
Er antwortete nicht.
Sie fasste nach seinem Handgelenk. Sein Puls ging schnell. Zu schnell. Er war inzwischen sehr blass, aber sein Gesicht war feucht von kaltem Schweiß.
Sie kannte die Anzeichen, schließlich war sie dafür ausgebildet worden: Er verlor zu viel Blut.
Wie lange war Demi schon weg? Warum kam sie nicht zurück?
Sie rüttelte ihren Bruder leicht. »Colin! Bitte, sag doch was!«
Keine Reaktion. Er schien zu schlafen – nein, er schlief nicht, er war bewusstlos. Und die Wunde blutete immer weiter. Inzwischen lief das Blut auch auf ihr Bett.
»Colin …« Sie flüsterte nur noch.
Eine tiefe, heftige Angst überkam sie. Selbst wenn Demi in der nächsten Minute auftauchte: Das war nicht mit ein bisschen Verband wieder aufzufangen. Ohne fachmännische Behandlung würde Colin sehr wahrscheinlich sterben.
Sie musste Hilfe holen. Und dafür kam ihr nur eine Person in den Sinn.
Hailee erhob sich, zog sich ihren Mantel über und trat aus dem Zimmer in den Gang. Am Eingang zur Dienstbotentreppe zögerte sie. Hier würde sie womöglich gleich Demi begegnen, die wieder heraufkam, und Hailee wollte eine mögliche Auseinandersetzung vermeiden. Entschlossen drehte sie um und nahm die große Innentreppe.
Im ersten Stock wandte sie sich in den Westflügel und eilte durch den breiten Mittelgang bis zu Adas Zimmer. Dort angekommen, verharrte sie kurz und atmete tief durch.
»Tut mir leid, Colin«, murmelte sie. Dann klopfte sie an Adas Tür.