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HAILEE

Heligan House, Mai 1919

Obwohl es mitten in der Nacht war, waren einige Räume im Erdgeschoss von Heligan House hell erleuchtet und voller Menschen.

Ada Tremayne hatte den Butler angewiesen, mit dem Telefonapparat, der seit Kurzem in der Eingangshalle hing, Dr. Ashley zu rufen. Außerdem hatte sie Colin von zwei männlichen Bediensteten in das Raucherzimmer bringen lassen, wo sie ihn vorsichtig auf den Tisch in der Mitte legten. Natürlich war auch Mr Tremayne informiert worden, der nun ebenfalls, einen Morgenrock über seinem Nachtgewand, anwesend war.

Der Arzt sah noch genauso aus, wie Hailee ihn von Sukeys Geburt vor vier Jahren in Erinnerung hatte: im dunklen Anzug, den üppigen Schnauzbart trotz der nächtlichen Stunde ordentlich getrimmt.

Hailee war versucht, Colins Hand zu halten, aber sie musste dem Arzt assistieren, der die tiefe Messerwunde in seiner Schulter gesäubert hatte und jetzt nähte. Colins ganzer Körper zuckte immer wieder zusammen, und er stöhnte laut, während Dr. Ashley ungerührt Stich um Stich tat. Colin hatte viel Blut verloren, und es war richtig gewesen, den Arzt zu holen. Dennoch schien seine Verletzung nicht ganz so besorgniserregend zu sein, wie Hailee befürchtet hatte.

Als Dr. Ashley die Behandlung beendet und Colin verbunden hatte, standen im Raucherzimmer etliche Leute herum. Offenbar befand niemand es für nötig, sie hinauszuschicken.

»Kann ich etwas tun?«, fragte Demi, die blass und angespannt neben der Tür stand.

»Nein«, gab Ada kalt zurück. »Sie haben schon genug angerichtet.«

»Was?« Demi sah verwirrt aus, aber bevor sie noch mehr sagen konnte, mischte sich Hailee ein.

»Darf ich unter vier Augen mit Ihnen reden, Mrs Tremayne?«

In der Öffentlichkeit sagte sie nie Ada zu ihr.

Sie gingen in den Salon, in dessen Kamin ein kleines Feuer brannte.

»Was ist los, Hailee? Wollen Sie Demi etwa decken? Sie wissen ja nicht, was sie getan hat.«

»Ich fürchte, Sie verdächtigen Demi einer Sache, die sie nicht begangen hat.«

»Tatsächlich?« Adas Stimme war hart wie Stahl.

Hailee zitterte vor Anspannung, aber sie würde jetzt alles aufdecken. »Es geht um das Bild, nicht wahr? Das Bild von Master Ralph, das jemand aus Ihrem Zimmer genommen hat, um damit … damit die Geisterfotografien zu manipulieren.«

»Sie wissen davon?«

Hailee nickte mit gesenktem Kopf. »Ich bin … ich war es. Ich habe das Bild genommen.«

Jetzt war es heraus. Ihr Herz klopfte laut.

Ada lachte auf. »Sie, Hailee? Nein, das glaube ich nicht. Warum sollten Sie das getan haben?«

»Weil … Mr Jones – Colin – ist mein Bruder.«

Und dann beichtete Hailee ihr alles.

Früh am nächsten Morgen kamen zwei Polizisten mit Helmen und hölzernen Knüppeln zu ihnen. Hailee hörte ihr Automobil vor dem Haus vorfahren und sah sie aussteigen.

Sie hatte eine schlaflose Nacht verbracht.

Nicht nur aus Sorge um Colin – er würde wieder gesund werden, hatte der Arzt gesagt –, sondern auch um sich selbst. Jetzt, da die Tremaynes um Hailees Rolle bei dem Betrug mit der Geisterfotografie wussten, würde sie vermutlich ins Gefängnis kommen. Wie lange man sie wohl einsperren würde? Und selbst wenn sie nicht ins Gefängnis kommen sollte, würde sie auf jeden Fall ihre Stellung verlieren. Was bedeutete, dass sie ihre kleine Tochter nie wieder oder zumindest für eine lange Zeit nicht mehr sehen würde.

Das alles war so ungerecht!

Oh Colin, warum musstest du hierherkommen?

*

Vor der Gerichtsverhandlung, die ein paar Wochen später stattfand, hatte Hailee mehr Angst als jemals zuvor in ihrem Leben.

Es war nicht zu leugnen, dass sie ihre Arbeitgeber hintergangen hatte, indem sie Ralphs Porträt kurzfristig entwendet hatte, damit ihr Bruder damit seinen Betrug ausführen konnte. Zu ihrer Erleichterung hatten die Tremaynes ihr allerdings versichert, dass weder Ada noch der Squire sie beschuldigen würde – die beiden rechneten es ihr hoch an, den Betrug ohne Rücksicht auf ihre eigene Person aufgedeckt zu haben, und außerdem schätzten sie ihre Arbeit als Hilfskrankenschwester im Genesungsheim sowie ihren Einsatz für den Garten. Zudem, gab Ada zu, habe sie noch immer ein schlechtes Gewissen, dass Hailee vor einigen Jahren durch Adas Schuld zwei Tage und Nächte im Gefängnis hatte verbringen müssen – damals, als die beiden Frauen auf der Suffragettenversammlung gewesen waren und die Polizei Hailee verhaftet hatte.

Aber spätestens Colin würde sie mit hineinziehen. Und dann würde sie aussagen müssen. Sie würde festgenommen werden. Sie würde angeklagt und verurteilt werden. Sie würde wieder ins Gefängnis kommen. Und diesmal nicht nur für zwei Tage, sondern für viel länger.

Am liebsten wäre sie gar nicht zur Verhandlung gegangen, aber das traute sie sich am Ende doch nicht. Es würde Verdacht erregen, wenn sie sich drückte. Und Colin war schließlich ihr Bruder, auch wenn das bis auf wenige Leute immer noch niemand wusste.

Aber dann kam alles ganz anders.

Hailee konnte es kaum glauben: Niemand beschuldigte sie. Niemand warf ihr vor, gemeinsame Sache mit ihrem Bruder gemacht und ihm bei seinem Betrug geholfen zu haben. Mehr noch: Niemand brachte sie überhaupt in Verbindung mit dem Betrüger Colin Jones. Da kam ihr zugute, dass Colin ihren gemeinsamen Nachnamen O’Connor schon vor langer Zeit abgelegt hatte. Jones klinge viel internationaler, hatte er behauptet.

Colin, der inzwischen wieder vollständig genesen war, erwies sich also doch noch als Ehrenmann – oder zumindest als verantwortungsvoller Bruder. Mit keinem Wort erwähnte er die Mithilfe, zu der er Hailee genötigt hatte. Er verschwieg sogar ihren Namen und überhaupt die Tatsache, dass er eine Schwester hatte. Stattdessen behauptete er, ganz allein für den Betrug verantwortlich gewesen zu sein. Er habe sich von seinen Auftraggebern die Porträts der Verstorbenen besorgt – wie, wollte er nicht verraten – und mit diesen Bildern und neuen Aufnahmen angebliche Geisterfotografien hergestellt.

Bei der Durchsuchung seines gemieteten Studios in Mevagissey hatte die Polizei mehrere Dutzend bereits präparierter Bilder gefunden. Als Colin jetzt sein Vorgehen detailliert erläuterte, war es im Gerichtssaal so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

Nicht nur Jack und Ada Tremayne waren anwesend, sondern auch weitere von Colins Kunden. Und obwohl die Beweise für die Fälschungen auf der Hand lagen und Colin ja frank und frei seinen Betrug erklärt hatte, wollten immer noch einige an die Echtheit der Geisterfotografie glauben. Vor allem eine Dame aus St Austell, die unbedingt in den Zeugenstand wollte, bestand darauf, dass Mr Jones ein ehrlicher Mensch und vermutlich bestochen worden sei, um ein falsches Geständnis abzugeben.

Dieser Auffassung folgte der Richter nicht. Aufgrund des umfassenden Geständnisses fiel die Strafe jedoch relativ mild aus: Wegen Betrugs wurde Colin zu einer Geldstrafe und einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Als man ihn nach der Verhandlung in Handschellen an Hailee vorbeiführte, um ihn zurück ins Gefängnis zu bringen, warf er Hailee einen Blick zu und zwinkerte. Sie schenkte ihm ein kurzes, dankbares Lächeln.

In diesem Moment vergab sie ihrem Bruder all seine Fehler. Dass er sie schützte und nicht mit ins Verderben zog, würde sie ihm nie vergessen.

Sie würde nicht ins Gefängnis gehen müssen. Sie würde ihre Stellung nicht verlieren. Sie würde Sukey weiterhin sehen können. Das Leben meinte es doch gut mit ihr.