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HAILEE

Heligan House, August 1919

Das Genesungsheim war geschlossen worden, auch die letzten verwundeten Offiziere waren abgereist. Heligan House gehörte wieder voll und ganz den Tremaynes.

Hailee half dabei, ein paar Betttücher und Verbandmaterial in den großen Schrank im Raucherzimmer wegzuräumen, als sie Mr Tremayne in der Türöffnung stehen sah.

»Hailee.« Er sah sehr nachdenklich aus. »Könnten Sie bitte einmal mitkommen? Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«

Sie folgte ihm in den Salon.

»Setzen Sie sich.« Er wies auf einen der Polsterstühle und kehrte ihr dann für einen Augenblick den Rücken zu, um zwei Gläser Brandy einzuschenken. Eines davon reichte er ihr.

Für Hailee wirkte das alles wie eine irritierende Wiederholung eines gar nicht so lange zurückliegenden Vorfalls. Als Tommas nicht zu seiner Hochzeit erschienen war und Mr Tremayne ihr nahegelegt hatte, dass Tommas womöglich desertiert sein könnte. Wie damals saß sie erneut dem Squire gegenüber, wenn auch diesmal im Salon und nicht in der Bibliothek. Und wenn Mr Tremayne ihr, einem Dienstmädchen, Brandy einschenkte, musste etwas Schlimmes passiert sein.

»Ist … etwas mit Miss Susannah?«, brachte sie in plötzlicher Angst hervor.

Er sah sie kurzzeitig verwirrt an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, nein, Sukey geht es gut. Aber es gibt Nachrichten. Über Mr Quinn. Tommas.«

Über Tommas. Er sagte nicht: von Tommas. Hailee schluckte. So lange hatte sie auf einen solchen Moment gewartet, ihn gefürchtet und doch manchmal auch herbeigesehnt, um endlich Gewissheit zu haben. Und nun war er gekommen.

»Was für Nachrichten?«, fragte sie mit belegter Stimme und stellte ihr unangerührtes Glas auf den kleinen Tisch vor sich.

Mr Tremayne griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Brief hervor, den er nun auffaltete und Hailee reichte. »Lesen Sie. Er ist an mich adressiert, aber er betrifft auch Sie.«

Hailee nahm das Schreiben und warf rasch einen Blick auf den Absender. Ein gewisser Mr Armstrong. Niemand, den sie kannte. Sie begann zu lesen.

Hochverehrter Mr Tremayne,

ich bin der Nachfolger von Mr Bernard, des bisherigen Vorstehers des Trefusis House. Mr Bernard teilte mir mit, dass Sie bereits vor drei Jahren auf der Suche nach Ihrem ehemaligen Mitarbeiter Mr Tommas Quinn gewesen seien. Mr Quinn habe sich als Kriegsverletzter eine Weile im Trefusis House aufgehalten, bevor er am Tag seiner geplanten Hochzeit fortgegangen und seitdem spurlos verschwunden sei.

Es ist nun meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass wir vermutlich Informationen über Mr Quinns Verbleib haben.

In einem Waldstück unweit von Trefusis House haben spielende Kinder einige skelettierte menschliche Überreste entdeckt. Die Identität des oder der Toten konnte aufgrund des fortgeschrittenen Verwesungszustands anfangs nicht mehr festgestellt werden.

Hailee ließ den Brief sinken. Ging es hier um Tommas? Nein, das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Sie las weiter.

Allerdings fand die hinzugerufene Polizei in den Resten der Kleidung zwei Eheringe, die ich mir erlaubt habe, diesem Brief beizufügen. Anhand der dort eingeprägten Namen und des Datums schloss man auf den vor Jahren verschollenen Mr Tommas Quinn.

Wir bitten freundlichst um Bestätigung, ob es sich hierbei womöglich um den Besitz des vermissten Mr Tommas Quinn aus Mevagissey handeln könnte – und, daraus schließend, bei dem Verstorbenen um Mr Quinn selbst. (Andernfalls bitten wir um Rücksendung der beiliegenden Ringe.) Sobald Sie bestätigen, dass es sich Ihrer Meinung nach um den Vermissten handelt, werden wir unverzüglich die Überführung der sterblichen Überreste veranlassen.

Hochachtungsvoll

Hugh Armstrong, Trefusis House

Hailee schluckte schwer.

»Ringe?«, murmelte sie wie betäubt.

Mr Tremayne reichte ihr ein kleines Beutelchen. »Hier. Das lag dem Brief bei.«

Hailee nahm es mit zitternden Händen in Empfang. Ein roter Samtbeutel, mit einer ebenso roten Schnur geschlossen. Sie zog die Schnur auf und schüttete sich den Inhalt auf die Handfläche: zwei silberne Ringe, einer kleiner, einer größer. Sie nahm den größeren in die Hand und las die in gut erkennbaren Lettern eingeprägte Inschrift: Hailee, 29. Juli 1916. In dem kleineren Ring standen Tommas’ Vorname und dasselbe Datum.

»Tommas ist tot«, murmelte sie.

»Ja, ich fürchte, das ist er. Es tut mir sehr, sehr leid, Hailee.« Mr Tremayne nahm ihr Glas Brandy vom Tisch und drückte es ihr in die Hand. »Trinken Sie.«

Sie trank, mit tauben Lippen, schmeckte die herbe Würze des Alkohols und schluckte.

»Wie fühlen Sie sich?«

Hailee horchte in sich hinein. Sie hatte noch den Geschmack des Brandys auf der Zunge, der jetzt leicht in ihrem Magen brannte.

»Seltsam«, murmelte sie. »Traurig, sehr traurig. Aber auch erleichtert. Jetzt weiß ich endlich Bescheid.« Sie fühlte sich noch immer eigenartig unwirklich. »Tommas hat Eheringe gekauft. Und unsere Namen eingravieren lassen.«

»Wissen Sie, was das bedeutet?«

Sie nickte und musste lächeln. »Dass er … dass er mich wirklich heiraten wollte.«

»Das wollte er mit Sicherheit. Aber es bedeutet auch«, Mr Tremayne machte eine kurze Pause, wie um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, »dass Mr Quinn keinesfalls desertiert ist.«

Der Fall schlug für einige Tage hohe Wellen, sogar mehrere Zeitungen berichteten darüber. Kurz darauf strich die britische Armee Tommas’ Namen aus der Liste der Deserteure, was bedeutete, dass er rehabilitiert wurde und sein guter Ruf wiederhergestellt war.

Mr Tremayne veranlasste die Überführung seines Leichnams, und wenig später wurden Tommas’ sterbliche Überreste an einem kühlen, regnerischen Tag auf dem Friedhof von St Ewe beigesetzt. Als Todesdatum wurde der 29. Juli 1916 angegeben, der Tag seines Verschwindens – und der seiner geplanten Hochzeit.

Die Todesursache blieb weiterhin ein Rätsel. In den Zeitungen wurde gemutmaßt, dass wahrscheinlich einer der Granatsplitter, die sich noch immer in Tommas’ Körper befanden, weitergewandert sein könnte und sein Herz erreicht hatte. Tragischerweise genau in dem Moment, als er sich zu seiner Hochzeit aufmachen wollte.

*

Es regnete immer noch, als Hailee am nächsten Tag noch einmal Tommas’ Grab besuchte. Der Blumenschmuck war durchgeweicht und bot einen traurigen Anblick. Sie weinte ein bisschen. Um diesen jungen, meist gut gelaunten Gärtner, der ihr ein guter Freund war und vermutlich auch ein guter Ehemann gewesen wäre.

Als sie den Friedhof verließ, kam ihr von der Kirche her ein Mann mit einem dunklen Regenschirm entgegen. Obwohl er keine Uniform trug, hätte sie ihn unter Tausenden erkannt.

Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Angus! Er sah gesund und erholt aus. Nur noch ein leichtes Nachziehen des Beins verriet seine ehemals schwere Kriegsverletzung.

»Hailee.«

Sie ging auf ihn zu, blieb aber zwei Schritte vor ihm stehen. Regen rann von ihrem Schirm hinab und tröpfelte auf den Boden vor ihr. Sie zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie ihn anreden sollte, und entschied sich dann für Förmlichkeit.

»Captain Hayford, welche Freude, Sie zu sehen. Was machen Sie hier?«

»Ich habe von Ihrem …« Angus unterbrach sich und warf einen raschen Blick hinter sich. Als er sicher war, dass sie allein waren und niemand sie hörte, fuhr er in vertrauterem Ton fort. »Ich habe von deinem Verlust erfahren. Es tut mir ausgesprochen leid, Hailee.«

Also waren sie weiterhin beim Du.

»Danke«, murmelte sie. »Es war ein großer Schock, aber gleichzeitig auch eine Erleichterung, endlich zu wissen, was mit ihm passiert ist.«

Er rieb sich mit der freien Hand über das Gesicht. »Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Warum hast du mir überhaupt nichts von dieser ganzen Sache gesagt?«

»Weil …« Sie suchte nach Worten und fand keine. »Ich konnte nicht. Woher weißt du davon?«

»Von Mr Tremayne. Bevor ich Heligan House verließ, hatte ich ein langes Gespräch mit ihm. Auch über dich. Er erzählte mir, dass du verlobt warst. Mit einem jungen Gärtner, der in Heligan arbeitete.«

Hailee nickte wortlos.

»Aber dann kam der Krieg, und er meldete sich bei den Soldaten und ging an die Front.«

»Ja«, sagte Hailee. »So war es. Tommas wurde verwundet und kam zurück nach England. Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wollten wir heiraten, bevor er wieder an die Front musste. Aber …« Sie stockte kurz. »Er kam nicht.«

»Von diesem rätselhaften Verschwinden hat Mr Tremayne mir auch erzählt. Dass niemand wusste, was passiert war, weil er auch nicht bei seiner Einheit erschien. Und dass die Armee ihn schließlich zum Deserteur erklärt hatte.« Angus schüttelte den Kopf. »In dem Moment ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Aber ich habe endlich verstanden, warum du meinen Antrag zurückgewiesen hast.«

»›Desertation ist ein schwerwiegender Verstoß‹«, zitierte Hailee die Aussage, die sie jetzt schon so oft gehört hatte. »›Ein Verbrechen gegen Gott und Vaterland.‹ Ich hätte dich damit in eine äußerst schwierige Lage gebracht.«

»Als ich das erfahren habe, war ich zuerst wie vor den Kopf geschlagen«, fuhr Angus fort. »Aber dann habe ich nachgedacht. Und mir ist klar geworden, dass das eine Sache ist, für die du nicht verantwortlich bist. Selbst wenn dein Verlobter desertiert wäre.«

Sie wollte widersprechen, aber er hob die Hand. »Ich weiß inzwischen, dass er das nicht ist.«

Hailee nickte nachdenklich. »Ja. Zum Glück haben spielende Kinder seine Leiche gefunden. Wenn das nicht passiert wäre, wüsste ich noch immer nicht, was ihm zugestoßen ist.«

Angus setzte ein rätselhaftes Lächeln auf. »Nun, genau genommen waren es keine spielenden Kinder.«

»Aber in dem Brief aus dem Trefusis House stand …«

»Ich weiß. Ich hatte Mr Armstrong gebeten, meine Beteiligung in dieser Sache nicht zu erwähnen und stattdessen eine andere Erklärung zu geben.«

»Deine Beteiligung?« Hailee verstand zuerst gar nichts. Dann ging ihr ein Licht auf. »Meinst du damit – du hast irgendetwas damit zu tun?«

Er nickte. »Diese ganze Sache mit deinem angeblich desertierten Verlobten hat mir lange keine Ruhe gelassen. Also habe ich versucht, Näheres über seinen Verbleib herauszubekommen. Ich habe ein wenig nachgeforscht und einen Suchtrupp organisiert. Der schließlich fündig wurde.«

Hailee hob den Kopf und sah in seine blauen Augen.

»Du?«, fragte sie ungläubig. »Du warst für all das verantwortlich?«

Er zuckte nonchalant mit einer Schulter. »Sieht ganz so aus. Außerdem wollte ich sichergehen, dass er nicht doch irgendwann auftaucht und womöglich seine Rechte einfordert.«

Hailee schwirrte der Kopf. Es war kein Zufall gewesen. Angus hatte sich um alles gekümmert. Angus war dafür verantwortlich, dass man Tommas’ Leiche gefunden hatte. Dass das alles endlich ein Ende hatte.

»Danke«, murmelte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Aber … warum hast du das getan?«

»Weil ich es nicht ertragen konnte, dich unglücklich und zu Unrecht verurteilt zu sehen.« Er drehte den Schirmgriff in seiner Hand, als wäre er ein wenig nervös, und ließ damit auch den aufgespannten Schirm über sich rotieren. Ein paar Regentröpfchen sprühten rundherum. »Vor allem aber aus ganz eigennützigen Gründen. Aber dafür ist es zu diesem Zeitpunkt noch zu früh. Du hast gerade deinen Verlobten beerdigt.«

»Was denn für eigennützige Gründe?«

Er lächelte, und trotz des Regens war es Hailee, als ginge die Sonne auf. »Weil ich dich immer noch heiraten möchte.«

Hailees Herzschlag stoppte für einen Moment.

»Ich … ich habe deine Zuneigung nicht verdient«, flüsterte sie. Am liebsten hätte sie sich an ihn geschmiegt, sich von ihm festhalten lassen. Aber das durfte sie sich nicht erlauben. »Da gibt es nämlich noch etwas.« Sie verstummte.

»Was es auch ist, Hailee – sag es mir. Schlimmer als ein angeblich desertierter Verlobter wird es kaum sein.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte sie so leise, dass sie sich selbst kaum hörte. Und dann, mit zu Boden gesenktem Blick: »Ich … habe einen Bruder.«

»Das habe ich auch. Sogar zwei. Alle beide sind ebenfalls Offiziere.« Er musterte sie aufmerksam. »Ist dein Bruder auch in der Armee?«

»Nein, er ist nicht in der Armee. Er war lange in Amerika, bevor er nach England zurückkehrte. Er ist Fotograf. Und …« Sie schluckte, dann riss sie sich zusammen. »Und ein Betrüger. Er sitzt im Gefängnis.«

»Was hat er denn verbrochen?«

»Er macht Aufnahmen von Leuten, die jemanden verloren haben. Und dann behauptet er, auf dem Bild seien die Geister der Verstorbenen zu sehen. Aber das stimmt nicht. Die Bilder sind Fälschungen.«

»Dieser Geisterfotograf? Davon habe ich in der Zeitung gelesen. Aber ich wusste nicht, dass das dein Bruder ist.«

»Niemand weiß es. Fast niemand.« Jetzt kam der schwerste Teil. »Ich … habe ihm geholfen.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich habe ihm am Anfang Bilder besorgt, die er dann für seine Betrügereien genutzt hat.« Sie wartete nicht auf seine Reaktion, sondern sprach einfach weiter. Jetzt war ohnehin alles egal. »Und bevor du fragst: Es gibt noch eine weitere Sache, die du wissen musst.«

Angus sagte nichts, schaute sie nur an und nickte.

»Du erinnerst dich an die kleine Miss Susannah, die im Heligan House bei Mrs Ada Tremayne lebt?«

»Ja, natürlich. Ein entzückendes kleines Mädchen. Ich habe sie manchmal gesehen, wenn sie durch den Garten lief.«

»Sie ist keine echte Tremayne. Sie ist meine Tochter.«

Und dann erzählte sie ihm alles. Angefangen von ihrer Liebschaft mit Tommas, mit seinem Einsatz an der Front, mit der überraschenden Geburt der kleinen Susannah und von Adas Angebot, das Kind bei sich aufzunehmen und als ihres auszugeben.

Als sie geendet hatte, strömten Tränen aus ihren Augen. Sie war sich sicher, dass sie Angus mit diesem Geständnis endgültig verloren hatte.

»Du hast also einen Bruder«, wiederholte er, »der im Gefängnis sitzt, und eine uneheliche Tochter, die bei den Tremaynes aufwächst. Ich gestehe, mit solchen Eröffnungen hätte ich nicht gerechnet. Und ich fürchte, ich brauche ein bisschen Zeit, um mich mit diesen Gedanken anzufreunden.« Er trat ein paar Schritte zur Seite und sah hinaus in den Regen, der noch immer mit dicken Tropfen auf ihre Schirme trommelte.

Sie nickte niedergeschlagen. Das war vermutlich die freundlichste Art, sie darauf vorzubereiten, dass diesmal er es war, der sie zurückweisen würde.

»In Ordnung. Das war Zeit genug.« Angus kam die wenigen Schritte zurück zu ihr. »Dann versuche ich es jetzt noch einmal.«

Hailee sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. »Das … das meinst du nicht ernst«, flüsterte sie.

»Doch, das meine ich vollkommen ernst. Und deswegen frage ich dich jetzt erneut: Würdest du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?«

»Ja«, gab sie zwischen Lachen und Weinen zurück, während der Regen auf ihre beiden Schirme prasselte. »Ja, Angus, das würde ich wirklich sehr gern.«