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VINCENT

Heligan Gardens, Juni 1920

Es war früh am Morgen, und wie an fast jedem Tag um diese Zeit ging Vincent durch den Garten. Nebel schwebte tief über den Wiesen und Beeten, auf den Blättern lag Tau. Vincent sog den schwachen Geruch ein, der vom Ende der Nacht kündete, und nahm das Gefühl des leichten Windes auf der Haut wahr.

Die Morgendämmerung war stets Nicholas’ Lieblingszeit gewesen. Und auch jene kurze Zeitspanne davor, wenn nur ein erstes Ahnen vom Tagesbeginn aufkam. Wenn die Nachtgeschöpfe sich zurückzogen und die Vögel sich zum ersten Mal rührten.

Auch nach der Aufdeckung des Betrugs hatte Vincent die angebliche Geisterfotografie von Nicholas behalten. Er fühlte sich seitdem nicht mehr so allein. Nicholas war noch immer bei ihm.

Seine Seele war hier in Heligan, hier, wo er glücklich gewesen war. Er war im Rauschen der Blätter, in den Flügeln des Taschentuchbaums und in der Spiegelung der Sonne auf dem Wasser. Er war in dem winzigen Kraut, das sich im Italienischen Garten durch eine enge Ritze zwischen den Mauersteinen gezwängt hatte und nun stolz emporwuchs.

Er war in der Morgendämmerung.

Vincent beendete seinen Gang und setzte sich auf eine Bank, um zuzusehen, wie sich allmählich der Himmel erhellte und die Sonne sich über die Felder erhob.

Vincent jätete Unkraut neben der Zufahrt zu Heligan House. Sein Zittern hatte nachgelassen. Er zitterte jetzt nur noch, wenn ihn etwas sehr aufregte. Tätigkeiten wie Unkrautjäten beruhigten ihn. Sorgfältig zupfte er die feinen grünen Triebe aus der Erde und legte sie in einen Korb, als ein dunkles Automobil vor dem Haus vorfuhr und eine schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Dame ausstieg. Sie trug einen Hut mit Schleier, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Eine Witwe in Trauer. Vermutlich wollte sie zu Mr oder Mrs Tremayne.

Die Dame verschwand aus seinem Sichtfeld, und Vincent kümmerte sich wieder um das Unkraut neben dem Weg.

Kurz darauf sah er sie erneut. Sie sprach mit dem Obergärtner, der in Vincents Richtung deutete. Diesmal kam sie direkt auf ihn zu.

Sie wollte doch nicht etwa zu ihm?

»Mr Payne«, fragte sie leise, als sie ihn erreicht hatte. »Vincent Payne?«

Vincent hielt in seiner Arbeit inne und richtete sich auf. »Ja, Ma’am, das bin ich.«

Sie atmete erleichtert auf. »Endlich habe ich Sie gefunden.«

Sie hob beide Hände an ihren Hut, nestelte dort etwas herum und schob dann den schwarzen Schleier zurück über den Hut. Das blasse, hübsche Gesicht einer jungen Frau mit dunklen Haaren kam zum Vorschein.

»Emma Arlington«, sagte sie leise und mit gesenkten Lidern.

»Miss Arlington?« Der Name sagte ihm nichts.

»Nein, Mrs«, korrigierte sie. »Verwitwete Arlington. Geborene Barnett.«

Sie blickte auf, und Vincent stockte der Atem. Blaue Augen. Fast wie die von Nicholas, wenn auch nicht ganz so hell.

Geborene Barnett.

Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen.

»Emma? Natürlich! Sie … Sie sind Nicholas’ Schwester!«

Er hatte sie einmal vor vielen Jahren gesehen. Damals konnte sie höchstens dreizehn oder vierzehn gewesen sein.

»Das bin ich. Ich bin drei Jahre jünger als er.«

»Bitte, setzen Sie sich doch.«

Er wies auf eine Bank in der Nähe, und sie setzten sich.

»Was führt Sie zu mir, Mrs Arlington?«

»Emma. Sagen Sie bitte Emma zu mir.« Sie hielt den Kopf gesenkt und betrachtete die Blumen in den Beeten. »Es muss schön sein, als Gärtner zu arbeiten. Die Natur setzt sich immer durch. Kein Krieg oder sonstiger Schrecken kann ihr etwas anhaben. Das Leben beginnt immer wieder von Neuem.« Dann hob sie den Kopf. »Ich wollte Sie sprechen. Ich habe gehört, Sie wären ein guter Freund von Nicholas gewesen.«

»Das bin – das war ich.«

»Ich … ich bin erst seit Kurzem verwitwet. Mein Mann – er war ebenfalls Soldat«, sagte sie leise. »Aber im Gegensatz zu Nicholas hat er überlebt. Er kam nach Hause, und wir dachten, alles wäre wieder gut. Und dann schlug diese verheerende Grippe zu. Sie hat mir nicht nur meinen Mann genommen, sondern auch zwei unserer Kinder. Jetzt lebt nur noch Maddie, meine Jüngste.«

»Das tut mir aufrichtig leid, Mrs – Entschuldigung, Emma.«

Sie tupfte ein paar Tränen fort.

»Bitte halten Sie mich nicht für unverschämt, Mr Payne, aber ich musste einfach zu Ihnen kommen und mit Ihnen reden.«

»Keinesfalls würde ich Sie für unverschämt halten. Und bitte, nennen Sie mich Vincent.«

»Sehr gern. Wissen Sie, ich habe Erkundigungen eingezogen. Daher weiß ich, dass Sie noch immer in Heligan arbeiten.« Sie rieb ihre Handflächen langsam aneinander, als wäre ihr kalt. »Nicholas … er hat mir Briefe geschrieben. Aus dem Schützengraben und vor allem aus dem Lager hinter der Front. Und immer wieder sprach er darin von Ihnen. Sie beide waren sehr eng befreundet.« Es war eine Feststellung, keine Frage, und Vincent nickte nur.

»Waren Sie bei ihm, als er starb?«

Vincent nickte abermals, mit einem großen Klumpen im Hals.

»Als mich die Nachricht von seinem Tod erreichte, war ich wie gelähmt. Ich konnte es einfach nicht fassen.« Sie blickte flüchtig zu ihm auf und senkte dann wieder den Kopf. »Haben Sie es gelesen? Das Schreiben mit seiner Todesnachricht?«

Vincent schüttelte den Kopf. »Nein. Zu diesem Zeitpunkt lag ich selbst verwundet im Lazarett.«

Sie öffnete die kleine Handtasche, die sie dabeihatte, und holte einen Brief heraus, der das Siegel des Kriegsministeriums trug.

»So etwas wird wohl meist an die Eltern oder die Ehefrau geschickt«, sagte sie traurig. »Aber da unsere Eltern nicht mehr leben und Nicki nicht verheiratet war, bin ich seine einzige Verwandte.«

Sie setzte sich noch ein wenig aufrechter hin, dann las sie es ihm mit leiser Stimme vor.

Sehr geehrte Mrs Arlington, mit großem Bedauern muss ich Ihnen den Tod Ihres Bruders, Corporal Nicholas Barnett, mitteilen. Er wurde am gestrigen Freitagmorgen gegen zehn Uhr auf dem Schlachtfeld bei dem Ort Passchendaele getötet und am folgenden Tag auf dem Ruisseau Farm Cemetary beigesetzt. Ich lasse gerade ein Kreuz für sein Grab anfertigen. Er war auf der Stelle tot und litt keinerlei Schmerzen.

Der Tod von Corporal Barnett war ein großer Schock für die ganze Kompanie und besonders für seine Kameraden und Freunde. Er war ein pflichtbewusster und tatkräftiger Unteroffizier, der nur schwer zu ersetzen sein wird.

Unterzeichnet: Captain Wakeman, Leichte Infanterie des Duke of Cornwall

Sie ließ den Brief sinken und sah Vincent an. »Ich weiß, dass diese Schreiben immer dasselbe behaupten – dass es schnell ging und dass er nicht gelitten hat. Aber kann ich das glauben? War es wirklich so?«

Vincent schluckte schwer. Er hatte noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen, aber jetzt musste er. Und wollte er.

»Nein«, sagte er dann langsam. »Ganz so schnell ging es nicht. Er hatte einen Bauchschuss, und er starb in meinen Armen.« Emma weinte, aber sie bedeutete ihm weiterzureden. »Aber er hatte keine Angst. Und am Ende auch keine Schmerzen. Es schien fast, als wäre er … ich weiß nicht – zufrieden? Glücklich? –, dass es für ihn nun endlich vorbei war.«

Tränen brannten in seinen Augen, und er ließ es zu, dass sie ihm über das Gesicht liefen.

»Ich danke Ihnen«, sagte Emma leise. »Das bedeutet mir sehr viel. Und es beruhigt mich zu wissen, dass Sie bei ihm waren. Dass er in seinen letzten Augenblicken nicht allein war.«

Vincent wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Er führte sie zum ummauerten Melonenhof, wo die Ananasgruben lagen. Vor dem Eingang zum schmalen Donnerbalken-Raum, der Gärtnertoilette, blieb er stehen.

»Bitte stören Sie sich nicht am Geruch«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Aber auf der Rückwand dieses Raums haben sich alle Gärtner, die in den Krieg zogen, mit ihrer Unterschrift verewigt.«

Mr Tremayne und Mr Griffin hatten beide zugesichert, diese Namen erhalten zu wollen, als Erinnerung an die gefallenen Gärtner Heligans.

Er trat mit ihr in den Raum und deutete auf die hintere, weiß gestrichene Wand. »Sehen Sie, hier, ganz unten, hat Nicholas unterschrieben. Und das Datum, August 1914, stammt auch von ihm.«

Er ging zurück ins Freie, um sie allein zu lassen. Und für einen Moment kam es ihm wieder einmal vor, als spüre er Nicholas’ Anwesenheit.

Als Emma nach einiger Zeit wieder herauskam, lächelte sie. Sah ihn an mit diesen hellblauen Augen, die denen von Nicholas so ähnlich waren. Ihr Gesicht war von Trauer und Schmerz gezeichnet, aber auch von Zärtlichkeit.

»Es hört sich sicher seltsam an«, sagte sie, »aber ich hatte gerade fast das Gefühl, als wäre er hier.«

»Ja«, gab er mit belegter Stimme zurück. »Ich auch.«

»Vielen Dank, Vincent.«

Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest.