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HAILEE

Heligan House, August 1920

Als Angus und Hailee, nun Mr und Mrs Hayford, aus dem Automobil stiegen – Angus fuhr selbst, einen gelben Standard –, kam es Hailee vor, als träume sie noch immer.

Sie und ihr frischgebackener Ehemann wohnten jetzt etwas außerhalb von Truro, wo sie ein Häuschen gemietet hatten, weniger als eine Stunde Fahrt mit dem Automobil von Heligan entfernt. Ihr Garten voller bunter Blumen war natürlich viel kleiner als der in Heligan, aber Hailee liebte ihn. Demnächst wollte sie dort auch ein Gemüsebeet anlegen. Und vielleicht auch ein kleines Gewächshaus für exotische Pflanzen.

Während sie jetzt zu der von mehreren Säulen flankierten Eingangstür von Heligan House gingen, sah Hailee zu ihrem großen, gut aussehenden Ehemann auf, und ein warmes Gefühl überkam sie.

Sie hatte ein wenig Angst gehabt, als sie nach der Trauung mit Angus zum ersten Mal intim werden sollte – als wahrer Gentleman hatte er darauf bestanden, damit bis nach der Hochzeit zu warten. Es war schließlich über fünf Jahre her, dass sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte, und was sie von damals in Erinnerung hatte, war eher schmerzhaft als angenehm gewesen.

Aber Angus war sanft und liebevoll gewesen, und sie war mit einem Lächeln eingeschlafen. Und als er am frühen Morgen erneut zu ihr kam und begann, zärtlich an ihrem Ohr zu knabbern, überschwemmte Hailee plötzlich ein solch heftiges Glücksgefühl, dass sie, sehr zu ihrer eigenen Überraschung, einen leisen Jubelschrei ausstieß.

Und jetzt waren sie wieder in Heligan, wo alles begonnen hatte.

Nachdem Hailee geheiratet hatte, war sie mit Ada und Jack Tremayne übereingekommen, einmal im Monat Heligan besuchen zu dürfen, um die kleine Sukey zu sehen. Aber diesmal war es Ada gewesen, die um ihren Besuch gebeten hatte, und das zwei Wochen vor der Zeit.

Ada Tremayne, gekleidet in eine Seidenbluse und eine lange, gerade geschnittene Hose, begrüßte sie herzlich und bat sie dann in den Salon, wo bereits Tee und Gebäck auf sie warteten. Im Kamin brannte ein Feuer, und Ada setzte sich trotz der warmen Witterung dicht daran. Offenbar machte ihr das Rheuma wieder zu schaffen.

Auf der Anrichte lag der dunkle Kasten einer Fotokamera. Wenn Hailee sich nicht sehr irrte, war dies dasselbe Modell, mit dem Colin arbeitete. Gearbeitet hatte, korrigierte sie sich.

Sie hatte inzwischen gelernt, sich zurückzunehmen, obwohl sie am liebsten mit der Frage herausgeplatzt wäre, warum sie hier waren. Ging es nur um eine gesellige Teestunde, oder bezweckte Ada irgendetwas?

Ada nahm sich ein weiteres Stückchen Kuchen. »Wie geht es Ihnen, Captain Hayford?«

Angus neigte den Kopf. »Jeden Tag besser, Mrs Tremayne. Leider ist noch immer nicht klar, ab wann ich wieder ein Flugzeug fliegen darf. Die Beweglichkeit meines Arms ist nach wie vor etwas eingeschränkt, und solange sich das nicht erheblich verbessert hat, darf ich nicht in den aktiven Dienst zurückkehren.«

»Aber wir sind zuversichtlich, dass sich das bald ändert«, ergänzte Hailee, und er nickte ihr lächelnd zu.

Dann deutete er auf den schwarzen Kasten, der auf der Anrichte lag. »Sie fotografieren?«

Ada lächelte. »Ja, ein wenig. Das ist meine neueste Spielerei, mit der ich mich beschäftige.« Sie wandte sich an Hailee. »Ich habe ihn mir nur ausgeliehen. Es ist der Apparat Ihres Bruders. Und er bekommt ihn zurück, sobald er«, sie räusperte sich, »sobald er seinen momentanen Aufenthaltsort gewechselt hat.«

Was ein sehr netter Ausdruck war für: sobald er aus dem Gefängnis entlassen wurde.

»Oh, aber er wurde bereits entlassen. Vor zwei Wochen.« Hailee schlug die Augen nieder. Einen Bruder zu haben, der eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, zählte nicht eben zu den besten Referenzen. Dann blickte sie wieder auf. »Soweit ich weiß, ist er bereits wieder auf dem Weg nach Amerika. Er sagte, dort sehe er größere Chancen für sich als hier in England. Daher denke ich, dass Sie den Apparat gern behalten können.«

»Das ist sehr nett von Ihnen.« Ada stellte ihren Teller auf dem Tisch ab. »Es gibt Neuigkeiten, die ich mit Ihnen beiden besprechen möchte.« Sie sah einen Augenblick in das flackernde Feuer, dann wandte sie sich wieder an Hailee und Angus. »Mein Bruder und ich werden im kommenden Frühjahr nach Italien ziehen, an die Riviera. Jack ist gerade wieder dort, um über den Kauf einer Villa zu verhandeln.«

Angus nickte anerkennend. »Die Riviera? Ich bin einmal dort gewesen. Ein schönes Fleckchen Erde.«

»Oh, das ist es.« Ada griff neben sich, holte eine Landkarte hervor und faltete sie auf. Die charakteristischen Umrisse des italienischen Stiefels kamen zum Vorschein. Sie deutete auf den nördlichen Teil. »Sehen Sie. Es ist nah an der Grenze zu Frankreich.«

Auch Hailee beugte sich über die Karte und folgte Adas Fingerzeig, wo an der Küste eine Stadt mit Namen Ventimiglia eingetragen war.

Ada erzählte noch ein wenig von ihren Verhandlungen zum Kauf der Villa. Bislang gehörte sie einer englischen Erbin, die den dazugehörigen weitläufigen Garten kostspielig nach ihrem Geschmack umgestaltet hatte. Dort wuchsen jetzt neben Oliven- und Zitronenbäumen alle möglichen weiteren exotischen Pflanzen, Dattelpalmen und etliche Eukalyptusbäume. Inzwischen war diese Engländerin jedoch hoch verschuldet und gezwungen, ihre Villa zu verkaufen.

Nach dieser Schilderung verfiel Ada in Schweigen. Lange. So lange, dass Hailee, die bislang kaum etwas gesagt hatte, es irgendwann nicht mehr aushielt.

»Und was wird aus Sukey?«, brach es aus ihr heraus.

»Nun«, sagte Ada, »darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« Ihre Stimme klang plötzlich ein wenig heiser, und sie räusperte sich. »Seit Tagen überlege ich hin und her, was das Beste für Sukey wäre. Natürlich könnte ich sie mitnehmen nach Italien. Aber dann müsste ich sie aus ihrer vertrauten Umgebung reißen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr in meinem Zustand auf Dauer eine gute Mutter wäre.«

»Was spricht dagegen, wenn wir die kleine Miss Susannah zu uns nehmen?«, fragte Angus. Er wechselte einen raschen Blick mit Hailee, bevor er weitersprach. »Sie ist immerhin die Tochter meiner Frau. Und ich würde sie mit Freuden als meine Tochter anerkennen.«

Hailee konnte ihr Glück kaum fassen. Womit hatte sie nur diesen Mann verdient?

»Ehrlich gesagt, hätte ich eine solche Antwort nicht erwartet. Sie sind ein erstaunlicher Mann, Captain Hayford.«

»Oh, sagen Sie das nicht, Mrs Tremayne. Ich habe die Kleine vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Und wer wäre ich, wenn ich eine Mutter von ihrem Kind trennen würde?«

»Es erleichtert mich, das zu hören. Vor allem aus Ihrem Munde, Captain Hayford.« Auch Ada wirkte plötzlich sehr viel gelöster. »Es wird mir das Herz brechen, Sukey hier zu lassen, wenn es so weit ist. Aber ich würde mir den Rest meiner Tage Vorwürfe machen, sie ihrem gewohnten Umfeld zu entreißen und ihr damit womöglich das bestmögliche Aufwachsen zu versagen.«

Sie zog an der Klingelschnur, die sich neben ihrem Sessel befand. »Und nun sollten wir unsere kleine Susannah am besten selbst holen. Sie brennt darauf, Sie beide wiederzusehen, hat sie mir heute Morgen erzählt.«

Es war inzwischen recht warm geworden, aber im üppigen Italienischen Garten mit seinen Olivenbäumen, Palmen und Terrakottatöpfen voller Lavendel bot die mediterran anmutende Laube mit dem Boden aus großen Schieferplatten erfrischende Kühle. Hier konnte man dem sanften Plätschern des Wassers lauschen, das sich aus dem steinernen Delfin in der Hand des Puttos ergoss, der in dem rechteckigen Becken stand.

Susannah – oder Sukey, wie sie noch immer am liebsten genannt wurde – war jetzt fünf Jahre alt und wuchs nach und nach zu einer kleinen Schönheit heran. An diesem Tag trug sie ein marineblaues Matrosenkleidchen und eine große Schleife in ihren dunklen Locken. Sie hüpfte über die unregelmäßigen Natursteinplatten, die um den Teich herum verlegt worden waren und in deren Ritzen Kräuter wuchsen. Immer an ihrer Seite war Mr Pepper, ihr zahmes Äffchen, das sie vor mehr als zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.

»So, und nun bitte alle mal in meine Richtung schauen«, bat Ada. Sie hatte die Kamera mitgenommen und stand nun hinter dem großen schwarzen Kasten.

Hailee richtete noch einmal schnell Susannahs Haarschleife, dann stellten sie sich zum Gruppenbild neben dem quadratischen Wasserbecken auf: Hailee, Angus und Susannah. Nein, noch jemand Viertes: Susannah bestand darauf, dass Mr Pepper ebenfalls fotografiert wurde. Und so geschah es dann auch.

Das Mädchen und der Affe gehörten eindeutig zusammen – unvorstellbar, die beiden zu trennen. In das Hayford’sche Zuhause bei Truro würde demnächst also nicht nur ein kleines Mädchen einziehen, sondern auch ein kleiner Affe.

Hailee lächelte. Sie konnte es kaum erwarten.