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LEXI

Krankenhaus von St Austell, September

Lexi hasste Krankenhäuser. Die klinische Atmosphäre, der medizinische Geruch und vor allem die oft so selbstherrliche Ärzteschaft. Aber sie leistete stumm Abbitte, während sie den in hellem Grün gestrichenen Flur entlangeilte. Schließlich waren es die Ärzte dieses Krankenhauses gewesen, die Bens Leben gerettet hatten. Allerdings war es knapp gewesen – ein paar Inches höher, und die von Rob abgefeuerte Kugel hätte die Aorta durchschlagen. Und das wäre es dann gewesen.

Als sie das Mehrbettzimmer betrat, in dem Ben gestern noch gelegen hatte, bekam sie für einen Moment einen Schreck: Bens Bett war leer, aber der Geräuschpegel hoch. »Pascoe, Benesek« stand auf der Patientenakte, die am Bettende in einem Halter hing. Ben war die Abkürzung für Benesek, einem alten kornischen Namen für Benedikt (und nicht für Benjamin, wie Lexi lange gedacht hatte).

»Suchen Sie Ihren Freund?«, fragte der Mann, der im Bett neben Bens lag. Lexi nickte, und der Mann bat seine beiden Besucher, die auf ihn einredeten, mit einer Handbewegung um Pause. »Der ist rausgegangen. Vermutlich in den Aufenthaltsraum.«

Lexi bedankte sich erleichtert und machte sich auf die Suche. Am Ende des Ganges fand sie den Raum und auch Ben. Er saß in einem der bequemen Sessel, und über dem Venenzugang auf seinem linken Handrücken klebte ein Pflaster. An dieser Stelle hatte bis vor Kurzem noch ein Schlauch gesteckt, der in eine Infusionsflasche mündete.

»Solltest du nicht im Zimmer sein?«, fragte sie nach einem langen, innigen Begrüßungskuss.

Ben stieß einen abwehrenden Ton aus – und verzog gleich darauf das Gesicht, weil ihm diese Lautäußerung offenbar Schmerzen bereitete. »Da war es mir zu laut. Seit heute ist das Zimmer nämlich voll belegt. Und zwei meiner Zimmernachbarn haben gerade Besuch.« In seinen Mundwinkeln formte sich ein Lächeln. »Wenn alles gut geht, kann ich morgen oder übermorgen schon wieder nach Hause. Na, wie findest du das?«

»Das wäre ja einfach nur wunderbar!« Lexi beugte sich ein wenig vor, um ihm noch näher zu sein. »Was ich dich die ganze Zeit fragen wollte: Ich habe dich nirgends gesehen, nachdem das Theaterstück zu Ende war. Wie hast du eigentlich mitbekommen, dass Rob aufgetaucht ist?«

»Hab ich nicht. Das war Cait.«

Die gute, aufmerksame Cait, ihre Freundin und Mitbewohnerin. Aber Cait wusste doch kaum mehr, als dass Lexi sich von ihrem früheren Freund getrennt hatte. Die ganze Geschichte samt Stalking, Robs brutalen Übergriffen und Morddrohungen kannten nur Lexis Eltern und Ben. Und es hatte lange gedauert, bis Lexi sich dazu entschlossen hatte, ihnen alles zu erzählen.

»Cait hat wohl mitbekommen, dass dich jemand verfolgt«, fuhr Ben fort. »Wie hat sie ihn beschrieben? Groß, dunkelhaarig und gut aussehend, aber irgendwie gefährlich. Sie hat mir dann Bescheid gegeben. Meinte ganz atemlos, sie sei sich ziemlich sicher, dass dein mieser Ex-Freund in Heligan aufgetaucht sei. Und so panisch, wie du beim Anblick dieses Kerls gewirkt hättest, machte sie sich ziemliche Sorgen um dich. Vor allem, weil er dir gefolgt ist, als du vor ihm weggelaufen bist. Na ja, und das setzte bei mir so eine Art Notfallprogramm in Gang, nach all den schlimmen Dingen, die du mir irgendwann mal erzählt hast. Ich habe Cait gesagt, sie soll die Polizei rufen – und es dringend machen, er würde dich sonst womöglich umbringen.«

»Offenbar haben sie ihr geglaubt«, sagte Lexi. »Sonst hätten sie wohl nicht auch gleich einen Hubschrauber geschickt.«

Einer mit einer Wärmebildkamera an Bord. Damit hatte die Polizei Rob zum Glück schnell aufstöbern und schließlich festnehmen können.

»Er hätte es fast geschafft.« Lexi schauderte noch immer jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie Rob sie um ein Haar die Seilbrücke im Dschungel hinuntergeworfen hätte. »Wie konntest du ihn überhaupt überrumpeln?«

Ben hob lässig eine Schulter. »Aikido. Manchmal macht sich so ein Kampfsport-Training doch bezahlt. Auch wenn er ziemlich gut darin war, mich abzuwehren. Er hat eine Armeeausbildung, hast du mal gesagt, nicht wahr?«

Lexi nickte leicht benommen. Sie wollte gar nicht daran denken, wie anders das alles hätte ausgehen können.

»Aber natürlich hätte ich nicht damit gerechnet, dass er einen Revolver hat.« Ben zog die dunklen Brauen zusammen. »Was geschieht nun mit diesem durchgeknallten Psychopathen?«

»Du meinst Rob?« Es fiel ihr immer noch schwer, den Namen des Mannes auszusprechen, vor dem sie so lange geflüchtet war. Und der Ben fast umgebracht hätte.

Ben nickte. »Sag ich doch. Dieser Psychopath.«

»Ich hoffe, den sehen wir nie wieder. Mich hat heute noch mal die Polizei befragt, und ich habe ihnen alles erzählt. Die Polizistin sagte, bei den vielen strafbaren Handlungen, die da zusammenkommen, wandert er sicher für mehrere Jahre in den Knast. Vielleicht sogar lebenslänglich.« Lexi konnte nicht mehr genau wiedergeben, was ihm alles vorgeworfen wurde, aber es waren etliche Vergehen. Angefangen bei Stalking und unerlaubtem Waffenbesitz bis hin zu mehrfachem Mordversuch und schwerer Körperverletzung.

Lexi blickte auf, als sie schwere Schritte den Gang entlangkommen hörte. Gleich darauf sah sie Richard, Bens Großvater, vor der Glastür auftauchen.

»Ah, hier seid ihr beiden.« Er schob seinen massigen Körper in den Aufenthaltsraum.

»Hi, Gramps«, sagte Ben. »Wie geht’s Agatha?«

»Bestens. Sie lässt dich grüßen und freut sich schon, dich wiederzusehen.« Richard ließ sich mit einem leisen Seufzen in den letzten der bequemen Sessel fallen und strich sich eine weiße Strähne, die sich aus seinem kurzen Pferdeschwanz gestohlen hatte, hinters Ohr.

»Ich bin nicht sicher, ob eine Schildkröte sich freuen kann«, gab Ben trocken zurück. »Aber danke für die Grüße.«

Bens Mutter hatte zu ihrer Arbeit in Camborne zurückkehren müssen, aber Richard hatte sich bereit erklärt, noch ein paar Tage zu bleiben. Während dieser Zeit wohnte er in Bens kleiner Wohnung in St Austell und kümmerte sich dabei auch um Bens Schildkröte Agatha.

Ben deutete auf die Tasche, die Richard dabeihatte. »Was hast du denn vor? Willst du hier einziehen?«

»Nein, ich habe etwas für euch.« Richard schob die Tasche näher zu sich und zog den Reißverschluss auf. »Vor allem für Sie, Lexi. Eigentlich wollte ich Ihnen das schon vor Tagen zeigen, aber dann ist ja leider etwas dazwischengekommen.«

»Stimmt«, sagte Ben gespielt gleichgültig. »So unbedeutende Dinge wie ein Mordversuch zum Beispiel.«

»Was ist es denn?«, fragte Lexi neugierig.

»Ich habe da noch was gefunden.« Richard griff in die Tasche. »Mir war eingefallen, dass auf unserem Dachboden noch ein paar alte Unterlagen existieren. Also bin ich irgendwann raufgestiegen und habe ein bisschen herumgekramt.«

»Und so geheimnisvoll, wie du tust, hast du auch was gefunden«, mutmaßte Ben.

Richard nickte. »So ist es. Ein paar alte Fotoalben unserer Familie und ähnliches Zeug. Und das wollte ich euch nicht vorenthalten.«

Er zog ein fast quadratisches Fotoalbum aus der Tasche und reichte es Lexi. »Ganz am Anfang sind ein paar Aufnahmen, die für Sie vielleicht von Interesse sind.«

Lexi nahm das Album vorsichtig entgegen und schlug es auf, während Ben und Richard zusahen. Die Seiten bestanden aus dunklem Karton. Auf der ersten Seite klebte eine Schwarz-Weiß-Aufnahme eines Hochzeitspaares.

»Sehen Sie«, sagte Richard. »Das ist mein Großvater Vincent mit seiner Frau.«

Sie erkannte Vincent Payne wieder, der jetzt etwas älter und noch ernster wirkte. An seiner Seite stand eine hübsche dunkelhaarige junge Frau in einem langen, schmal geschnittenen Kleid, die einen Brautstrauß in der Hand hielt. Beide sahen mit feierlichem Blick in die Kamera, wie Lexi es von so vielen anderen Porträts aus dieser Zeit kannte.

»Sie haben wenige Jahre nach dem Krieg geheiratet«, sagte Richard. »Hier, ich habe sogar ihre Hochzeitsurkunde gefunden.«

Lexi nahm das in eine Klarsichtfolie gehüllte Blatt entgegen, das Richard ihr reichte, und studierte das alte Dokument sorgfältig in einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht. Die Heiratsurkunde war in St Ewe im Mai 1921 ausgestellt worden.

Name des Bräutigams: Vincent David Payne; Alter: 29

Beruf des Bräutigams: Gärtner

wohnhaft: Heligan Gardens, Gemeinde St Ewe

Name der Braut: Emma Isobel Barnett, verwitwete Arlington, Alter: 26

»Barnett?«, fragte Lexi ungläubig. »Vincents Frau war eine geborene Barnett?«

»Ja. Sie war in zweiter Ehe mit meinem Großvater verheiratet. Ihr erster Mann ist kurz nach dem Krieg gestorben.« Richard kratzte sich am Kinn. »Auf den nächsten Seiten müsste es irgendwo auch ein Foto von meinem Vater als kleines Kind geben. Er kam 1923 zur Welt.«

Lexi blätterte weiter. Aufnahmen aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Feiernde Menschen vor einem kleinen Gartenhäuschen. Blumen, Bäume, Wiese. Und dann: die Familie Payne mit ihren beiden Kindern, der Bildunterschrift nach im Jahr 1924 aufgenommen.

Richard deutete auf das ungefähr sechsjährige dunkelhaarige Mädchen neben Vincent. »Das hier ist Maddie, die Stiefschwester meines Vaters, aus der ersten Ehe seiner Mutter. Und das daneben«, er zeigte auf das Kleinkind, das auf dem Schoß seiner Mutter saß, »ist mein Vater als Dreikäsehoch. Nicholas Payne.«

»Nicholas?«, wiederholte Lexi. »Ihr Vater hieß wirklich Nicholas?«

»Ja, auch wenn er meist nur Cole gerufen wurde. Ich glaube, er wurde nach einem Onkel benannt, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist.«

»Nach Vincents Freund Nicholas Barnett«, murmelte Lexi.

»Allerhand«, mischte Ben sich ein. »Ist doch immer wieder interessant, was man so alles erfährt.«

»Das wusstest du nicht?«, fragte Lexi.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich wusste nicht, dass mein Urgroßvater auch Nicholas hieß. Ich habe immer nur von Cole gehört.«

»So war das also!«, sagte Lexi, die sich vorkam, als wäre mit einem Mal ein Schleier von ihren Augen entfernt worden. »Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, wieso Ben eine so große Ähnlichkeit mit Nicholas – ich meine Nicholas Barnett – aufweist. Aber jetzt weiß ich es: weil Vincent nach dem Krieg Nicholas’ Schwester geheiratet hatte. Und später mit ihr ein Kind bekommen hat – nämlich Ihren Vater, Richard.«

Richard runzelte die Stirn. »Ich fürchte, ich verstehe gerade nicht wirklich, worauf Sie hinauswollen. Wem sieht Ben jetzt ähnlich?«

»Nicholas«, erklärte Lexi. »Nicholas Barnett, dem gefallenen Freund Ihres Großvaters Vincent. Hier, sehen Sie.« Sie holte ihr Handy hervor und scrollte sich durch die Bildergalerie, bis sie auf das alte Foto der versammelten Gärtner kam, das vor der Tür aufgenommen worden war, die in den Blumengarten führte. Das Foto, auf dem Vincent und Nicholas nebeneinanderstanden. Sie vergrößerte das Bild der beiden jungen Männer. »Ich glaube, Sie kennen es. Hier, das ist Nicholas Barnett. Ist Ihnen nie die Ähnlichkeit zwischen Ben und ihm aufgefallen?«

Richard sah sie für einen Moment erstaunt an, dann ging sein Blick von seinem Enkel zu dem Foto.

»Das ist in der Tat … erstaunlich«, sagte er schließlich. »Ich habe nie so wirklich auf die anderen Gärtner geachtet, weil ich immer nur meinen Großvater Vincent gesehen habe. Aber ja, jetzt, wenn man es weiß, erkennt man klar, wie ähnlich sich die beiden sehen.«

Lexi nickte gedankenverloren. Die Vorstellung, dass Vincent nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, in dem auch sein Freund ums Leben gekommen war, Nicholas’ Schwester geheiratet hatte, rührte sie. Womöglich hatten sie beide nach ihren Verlusten ein wenig Trost in dieser Ehe finden können.