Heligan Gardens, Ende September
Am letzten Wochenende im September zeigte sich das Wetter von seiner besten Seite. Zum Abschluss der Jubiläumsfeierlichkeiten würden an diesen Tagen ein paar letzte Aktionen stattfinden.
Ben war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er war zwar noch nicht hundertprozentig wiederhergestellt, aber er wollte unbedingt bei den Feierlichkeiten anwesend sein.
Cait hatte endlich Gelegenheit, das Ergebnis ihrer an vielen Abenden erprobten Backversuche zu präsentieren. Jetzt reihten sich in der Auslage der Cafeteria des Steward’s House etliche appetitlich aussehende Teigtaschen mit würziger Fleischfüllung nebeneinander.
»Wussten Sie, dass das älteste bekannte Rezept für Cornish Pastys aus Heligan stammt?« stand auf einem handgeschriebenen Zettel zu lesen. »Hier können Sie die leckeren Teigtaschen probieren – nach dem Rezept aus dem Jahr 1746.«
Lexi hatte dieses Rezept vor längerer Zeit im Internet gefunden – angeblich wurde es vor mehr als zweihundertfünfzig Jahren dem Vater von Henry Hawkins Tremayne in einem Brief geschickt. Da war die Jubiläumsfeier die passende Gelegenheit, um die Pastys nach dem alten Rezept anzubieten.
Das Gebäck fand regen Zuspruch, und es dauerte nicht lange, bis Cait alles verkauft hatte. Der Erlös würde für einen guten Zweck gespendet werden.
Auch Lexis Kollegin Eliza war gekommen, wie meistens in einem stylishen Fünfziger-Jahre-Outfit. Sie würde demnächst mit dem Aushilfsjob in Heligan aufhören, um sich ganz ihrem Studienabschluss in Modedesign zu widmen. Dafür müsse sie, erzählte sie, eine ganze eigene Kollektion entwerfen und diese später mit Models in Szene setzen. Eines dieser Models würde ihr Freund Orlando sein, mit dem sie demnächst zusammenziehen würde.
Irgendwann tauchte auch Sally auf – die Heligan-Mitarbeiterin, deren Job Lexi übernommen hatte, da Sally wegen einer Risikoschwangerschaft von heute auf morgen ausgefallen war. Und Sally kam nicht allein. Sie brachte, sehr zur Freude der Heligan-Belegschaft, ihre inzwischen einjährigen Zwillinge mit, deretwegen sie monatelanges Liegen auf sich genommen hatte.
Lexis Eltern waren gestern endlich in Heligan eingetroffen. Vierzehn lange Stunden hatte ihr Flug – mit Zwischenstopp in Frankfurt – nach London gedauert. Dort waren sie dann für ein paar Tage geblieben, um ein paar Dinge zu erledigen, und waren anschließend mit einem Mietwagen nach Cornwall gekommen.
Lexi konnte es noch immer kaum glauben: Endlich sah sie ihre Eltern wieder. Seit mehr als zwei Jahren hatte sie mit den beiden nur über Skype oder Handy telefonieren können. Und seit Lexi London Hals über Kopf verlassen hatte, hatten ihre Eltern nicht einmal gewusst, wo ihre Tochter sich befand – aus Angst, dass Rob sie aufspüren könnte, hatte Lexi ihren Aufenthaltsort verschwiegen. Aber endlich gab es keine Notwendigkeit zur Geheimnistuerei mehr.
Constance und Steve Andrews sahen gut aus. Sie hatten sich kaum verändert, seit Lexi sie das letzte Mal gesehen hatte. Nun ja, vielleicht hatten sie ein paar Fältchen mehr bekommen, aber das war sicher der maledivischen Sonne geschuldet. Constance Andrews schien von innen her zu strahlen, ihre hellbraunen Haare waren etwas länger geworden und wiesen ein paar sonnenhelle Strähnen auf. Und auch Lexis Vater, Steve Andrews, wirkte entspannt und erholt, er war braun gebrannt, in seinem kurzen Bart zeigten sich ein paar erste graue Härchen.
Die verspätete Anreise hatte zumindest einen Vorteil: Auf diese Weise hatte Lexi ihren Eltern eines der wunderschönen Pensionszimmer in der Woods Lodge verschaffen können, die zu einem früheren Zeitpunkt schon ausgebucht gewesen war.
Lexis Mutter konnte gar nicht mehr aufhören, von ihrem Zimmer mit dem Himmelbett und dem herrlichen Garten unter ihrem Fenster zu schwärmen, in dem jetzt, im September, prächtige Hortensien und Dahlien blühten. Als Lexi im März vor eineinhalb Jahren selbst dort gewohnt hatte, war davon leider noch nichts zu sehen gewesen.
»Der Garten der Woods ist ja schon eindrucksvoll«, sagte Constance. »Aber das ist ja nichts im Vergleich zu Heligan. Schon komisch, dass ich noch nie hier gewesen bin. Auch früher nicht, als du noch ein kleines Kind warst und wir Mum und Tante Filly besucht haben.«
»Dafür bin ich dann mit den beiden hier gewesen«, sagte Lexi. »Aber keine Sorge: Ich werde euch noch die schönsten Ecken Heligans zeigen. Ihr seid ja noch ein paar Tage da.«
Lexis Eltern würden erst in einer guten Woche wieder zurück auf die Malediven fliegen.
»So ist es«, sagte Constance und bedachte ihre Tochter mit einem liebevollen Blick. »Ist für mich immer noch ungewohnt, dich mit dieser Haarfarbe zu sehen.«
»Die ändert sich demnächst. Versprochen.«
Lexi strich sich durch die Haare, bei denen der dunkle Ansatz schon seit einiger Zeit wieder zu sehen war. Sie hätte längst wieder nachfärben müssen, aber bei dem Stress der vergangenen Wochen war sie einfach nicht dazu gekommen.
Als sie vor anderthalb Jahren aus London geflohen war, hatte sie ihre Haare im modischen Pastellgrau gefärbt, um nicht zu leicht wiedererkannt zu werden. Jetzt war diese schlimme Zeit endlich vorbei. Und sie hatte entschieden, zu ihrem natürlichen Braun zurückzukehren. Nicht nur, weil Rob gesagt hatte, ihre neue Haarfarbe gefiele ihm.
Im Melonenhof drängten sich die Besucher. Vor wenigen Tagen war die britische Königin hochbetagt gestorben, und aus diesem Anlass hatte man an einem der Gebäude innerhalb des Melonenhofs eine kleine Gedenktafel angebracht. Zudem hatte das Gartenteam dort, ebenfalls Königin Elizabeth II. zu Ehren, einen schön gestalteten Kranz aus Eiben, Dahlien und Hortensien aus den Heligan-Gärten aufgehängt.
Auch Lexi war mit ihren Eltern hier. Sie zeigte ihnen die Ausstellung, die sie über die Zeit des Ersten Weltkriegs konzipiert hatte, und führte sie auch zu der von einem Plexiglasschild geschützten Rückwand des Donnerbalken-Raums, wo die Unterschriften der Heligan-Gärtner von 1914 zu sehen waren.
Constance und Steve Andrews waren beeindruckt.
»Wenn man sich das vorstellt«, sagte Lexis Vater, während er die Inschriften studierte. »Ein dreiundzwanzigköpfiges Team kümmerte sich um die Gärten des Heligan-Anwesens. Und dann kam dieser verdammte Krieg, und fast alle jungen Männer, die hier arbeiteten, sind fortgegangen, um für ihr Land zu kämpfen. Und kaum einer von ihnen ist zurückgekehrt.«
»Das ist sehr traurig«, sagte Lexis Mutter. »Warum ist Heligan eigentlich nach dem Ersten Weltkrieg verfallen?«
Auch darüber hatte Lexi sich natürlich informiert. »Ich glaube«, sagte sie, »dass Jack Tremayne ein sensibler Mensch war, dem seine Angestellten sehr am Herzen lagen. Ich habe Aussagen von ihm gefunden, in denen er sagte, er liebe Heligan sehr, aber er könne nicht länger mit den Schatten der vielen Gefallenen leben. Das hat seinen Seelenfrieden offenbar sehr belastet.«
Jack Tremayne, erzählte Lexi, wurde nicht mehr glücklich in Heligan. Dazu kam noch, dass die Tremaynes das zum Unterhalt Heligans nötige Personal kaum mehr bezahlen konnten. Und so kaufte Jack Tremayne schließlich eine Villa an der französisch-italienischen Grenze und siedelte mit seiner Schwester Ada und ein paar Bediensteten dauerhaft an die italienische Riviera um.
Heligan House wurde zusammen mit den Gärten vermietet, aber die Pächter waren nicht in der Lage, das Anwesen instand zu halten, und die Gärten verwilderten allmählich. Im Laufe der Jahre verschwanden all die botanischen Schätze, die durch das eindringende Unterholz erstickt wurden.
Während des Zweiten Weltkriegs übernahm dann die US-Armee das Haus, die es als Stützpunkt nutzte und hier für die Landung in der Normandie übte.
Als Jack Tremayne 1949 kinderlos starb, ging das Heligan-Anwesen in den Besitz entfernter Verwandter über. Das Haus wurde in Wohnungen umgewandelt und Anfang der 1970er-Jahre ohne die dazugehörigen Gärten verkauft, die Eigentum der Familie blieben.
Und die Gärten verfielen weiter.
Einer der Erben Heligans war später dafür verantwortlich, dass Tim Smit, ein Archäologe und Musikproduzent, 1990 die Gärten kennenlernte. Angeblich verliebte Mr Smit sich sofort in Heligan. Mit der Unterstützung einiger Freunde und Enthusiasten arbeitete er unermüdlich daran, die Anlagen zu restaurieren und ihnen wieder zu ihrem früheren Glanz zu verhelfen. 1992 konnten sie Eröffnung feiern.
»Und hier«, schloss Lexi ihren kleinen Vortrag, »stehen wir nun, dreißig Jahre später.«
Der nächste Tag war ein Sonntag. Am Morgen hatte es geregnet, aber jetzt, am frühen Nachmittag, zeigte sich die Sonne wieder. Der Himmel war strahlend blau mit nur wenigen harmlosen Wölkchen. Über die leicht abschüssigen Felder konnte man weit hinaus auf Küste und Meer sehen.
Auf dem Westrasen unterhalb von Heligan House, wo kürzlich die Schlussszenen des Outdoor-Theaterstücks aufgeführt worden waren, hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt. An diesem Nachmittag würde hier eine letzte kleine Zeremonie stattfinden. Auf diesem »Feld der Erinnerung«, wie dieser Teil Heligans seit Kurzem genannt wurde, sollten fünfzehn junge Eichen gepflanzt werden. Fünfzehn Bäumchen, von denen jedes für einen der Gärtner stand, die in den Ersten Weltkrieg gezogen waren. Zehn, die gefallen waren, und fünf, die zurückkehrten.
Die jungen Bäume, die Lexi gerade einmal bis zur Hüfte reichten, standen aufgereiht wie in einem Spalier. Jeder von ihnen hatte ein rotes Band um den schlanken Stamm gebunden, an dem ein Zettel mit einem Namen hing.
Im Grasboden vor dem Waldrand hatte Heligans Obergärtner Derek zwei in Schrittlänge nebeneinanderliegende schmale, tiefe Löcher ausgehoben. Rund um den Westrasen waren noch weitere solcher Löcher vorbereitet worden.
Jetzt nickte der Obergärtner Richard zu, dem die besondere Ehre zuteilgeworden war, den ersten der jungen Bäume zu pflanzen.
Richard trat vor, nahm die junge Eiche, die Derek ihm reichte, und setzte sie ein wenig umständlich mit dem Wurzelballen voran ins Loch. Dann gab er eine Handvoll Mulch dazu und häufte etwas von der ausgehobenen Erde darum.
Als das Bäumchen stand, wurde geklatscht und fotografiert. Sogar eine Dame von der Presse war gekommen.
Als Nächstes war Ben an der Reihe. Er sollte sich nach seiner Schussverletzung zwar noch schonen, aber er wollte es sich nicht nehmen lassen, aktiv zu dieser Zeremonie beizutragen. Jetzt kniete er sich vor das zweite schmale Loch und setzte ebenfalls eine der jungen Eichen dort hinein.
Lexi sah zu, wie die beiden Männer – Enkel und Großvater, Nachfahren von Vincent Payne und, wie sie jetzt wusste, auch mit Nicholas Barnett verwandt – zufrieden zurücktraten und ihr Werk begutachteten.
Als die Menge weiterzog, um die nächsten Bäumchen zu pflanzen, blieb Lexi noch einen Augenblick zurück und las die beiden Namenszettel.
Vincent Payne, 1892–1964.
Nicholas Barnett, 1892–1917.
Der, wie sie seit Kurzem wussten, ein Großonkel von Richard war und damit ein Ururgroßonkel von Ben.
Und vermutlich war es nur Einbildung, aber Lexi hatte den Eindruck, dass sich die beiden jungen Eichen ganz leicht zueinander neigten.