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LEXI

Mevagissey, September

Am Abend war Lexi mit ihren Eltern zum Essen in einem Restaurant in Mevagissey verabredet.

»Ich habe tolle Neuigkeiten«, sagte sie, kaum dass sie bestellt hatten. Aber sie war so aufgeregt, dass sie es einfach so schnell wie möglich loswerden musste. »Meine Chefin Theo hat mir vorhin eine Festanstellung angeboten!«

»Das ist ja wundervoll«, freute sich Lexis Mutter. »Und als was genau?«

»Mehr oder weniger dasselbe, was ich die ganze Zeit schon gemacht habe. Oder noch etwas mehr.«

Lexi wurde etwas genauer: Sally – die Frau, die vorher Lexis Job gehabt hatte und die wegen einer Risikoschwangerschaft ausgefallen war – wollte definitiv nicht mehr auf ihre frühere Stelle zurückkehren. Sie hatte erklärt, voll in ihrer Mutterrolle aufzugehen und sich überhaupt nicht vorstellen zu können, wieder arbeiten zu gehen. Daher brauchte man in Heligan jetzt jemanden in Festanstellung für die Öffentlichkeitsarbeit.

»Und nachdem Theo so angetan von meinen drei Heligan-Ausstellungen war«, schloss Lexi, »soll ich das jetzt übernehmen – sofern ich will.«

Ihr Vater zwinkerte ihr zu. »Und, willst du?«

»Was für eine Frage: Natürlich will ich! Ich wäre dann ganz offiziell für die Public Relations verantwortlich und dafür, wie Heligan sich nach außen präsentiert.« Sie machte eine kurze Pause. »Es gibt nur noch ein kleines Problem. Na ja, ein winziges.«

»Welches wäre?«

»Eigentlich ist es nicht mal ein Problem, eher eine Kuriosität. Immerhin würde dieser neue Vertrag auf meinen richtigen Namen ausgestellt werden. Der Projektvertrag lief auf Lexi Davies. Die Festanstellung wäre dann auf Emilia Andrews. Aber ich habe Theo alles erklärt, und sie meinte, wenn sich alle Probleme so leicht lösen ließen, wäre die Welt ein besserer Ort.«

»Sehr gut gesagt«, meinte ihr Vater. »Ich denke, darauf sollten wir trinken. Und natürlich auf deinen neuen Job.«

»Und auch auf deine neue Berühmtheit sollten wir trinken«, warf Constance ein.

Lexi verzog das Gesicht. Das war eine Sache, die ihr weniger recht war. Die spektakuläre Aktion auf der Hängebrücke hatte sie und Ben kurzzeitig in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt, und sie beide hatten einige Interviews geben müssen. Ben wurde in der Klatschpresse sogar als Held von Heligan bezeichnet, was ihm ziemlich unangenehm war.

»Ich habe überlegt«, sagte Lexi, als sie das Glas absetzte, »ob ich meine momentane Prominenz nicht sinnvoll nutzen sollte. Mich zum Beispiel in der Prävention gegen Stalking und toxische Beziehungen zu engagieren. Da gibt es einige wirklich gute Organisationen, die sich um Betroffene kümmern.«

»Das ist eine sehr gute Idee!«, pflichtete ihre Mutter bei.

Dann kam auch schon der Kellner mit der großen gemischten Fischplatte, die sie sich gemeinsam bestellt hatten.

Nach dem Essen warfen sich ihre Eltern einen vielsagenden Blick zu, und ihr Vater sagte: »Wir haben noch eine Überraschung für dich.«

Lexi legte die Serviette beiseite und wartete.

»Du weißt ja«, begann Constance, »dass wir einige Tage in London waren, bevor wir hergekommen sind.«

Lexi nickte. »Um ein paar Dinge zu erledigen und Freunde zu besuchen.«

»Richtig. Und um aus unseren eingelagerten Sachen ein paar Unterlagen zu holen, die wir brauchen. Dabei sind wir, mehr oder weniger zufällig, auf Mums alte Familienbibel gestoßen.«

»Granny besaß eine Familienbibel?« Lexi sah erstaunt auf. »Ich hatte keine Ahnung, dass so was in unserer Familie existiert.«

Familienbibeln waren Bibeln, die zusätzliche Seiten enthielten, die für Eintragungen von Vermählungen, Geburten und Todesfällen vorgesehen waren. Die Familienchronik sozusagen, die oft über Generationen weitervererbt wurde.

Constance schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Aber als ich dann das gute Stück in Händen hielt, fiel mir ganz dunkel wieder ein, dass Mum immer mal was von alten Aufzeichnungen und Stammbäumen und solchen Dingen erzählt hat, die sie irgendwo nachtragen wollte und es dann doch nicht getan hat.«

»Ihr habt diese Bibel nicht zufällig mitgebracht?«, fragte Lexi, in der erneut das Jagdfieber ausgebrochen war.

Ihre Mutter strahlte über das ganze Gesicht. »Natürlich haben wir das. Auch wenn du uns lange Zeit kaum etwas über deine Arbeit erzählen wolltest …«

»Ich konnte nicht«, unterbrach Lexi sie. »Sonst hätte Rob mich womöglich aufgespürt.«

»Ja, ja«, wiegelte Constance ab. »Ich weiß. Also, auch wenn du uns nichts über deine Arbeit erzählt hast, haben wir schon mitbekommen, wie sehr du dich seit einiger Zeit für Familiengeschichte und solche Sachen interessierst.«

Sie öffnete ihre voluminöse Handtasche, griff hinein und reichte Lexi eine alte, in schwarzes Leder gebundene Bibel mit einem eingeprägten goldenen Kreuz darauf.

»Außerdem dachten wir, dass es nun an dir ist, deine Daten dort hineinzuschreiben. Du bist schließlich die nächste Generation.«

Lexi schlug die Bibel vorsichtig auf. Familienchronik stand auf einer der ersten Seiten, mit der gezeichneten Abbildung eines Engels, der vor einer Art Tempel stand und ein geöffnetes Buch in den Händen hielt. Hinter der Seite mit dem Engel befanden sich weitere vorgedruckte Seiten, die zum Teil handschriftlich ausgefüllt worden waren.

Diese Bibel hatte zuletzt Lexis verstorbener Großmutter Violet Davies gehört, der Mutter von Lexis Mutter und Schwester von Großtante Filly. Aber schon vorher war sie im Besitz ihrer Familie gewesen. Zuerst hatte sie offenbar einer Alice O’Connor gehört, denn dieser Name stand auf der Mitte der ersten Seite, auf der man Eintragungen vornehmen konnte. Womöglich war sie Alice zur Hochzeit geschenkt worden, wie es früher oft Brauch gewesen war.

Tatsächlich, auf der nächsten Seite war ein reich verziertes Blatt über eine Eheschließung zu sehen. Das Datum war 1887, aber die Namen der Ehepartner waren so verschnörkelt geschrieben, dass Lexi sie kaum entziffern konnte. Den Vornamen der Frau las sie mit Mühe und Not als »Alice«, den des Mannes konnte sie beim besten Willen nicht entschlüsseln.

Sie rückte mit dem Stuhl näher an den Tisch, von einer ganz seltsamen Aufregung erfasst.

Auf einer weiteren Seite fand sich der handgeschriebene Versuch eines Stammbaums. Nicht ordentlich verzweigt, sondern zeilenweise untereinander.

Lexi wusste, wie man Stammbäume las: am besten von unten nach oben.

An unterster Stelle, also als jüngste Eintragungen, standen da Phyllis und Violet Butterworth – Tante Filly und Lexis Großmutter Violet, die später einen Charles Davies geheiratet und mit ihm Lexis Mutter Constance bekommen hatte.

In der Zeile darüber die Mutter von Phyllis und Violet: Susannah Butterworth, geborene Hayford, ehemalige Tremayne, geboren 1915.

Da war sie! Da war Susannah, genannt Sukey, von der Großtante Filly behauptet hatte, sie sei in den ersten fünf Jahren ihres Lebens eine Tremayne gewesen.

Lexi spürte, wie ihr Herz vor Aufregung immer schneller schlug.

Neben Susannahs Nachname Tremayne war ein winziger Fleck zu sehen. Lexi wischte vorsichtig mit dem Daumen darüber, aber der Fleck blieb.

Sie sah noch mal genauer hin. Das da neben dem Tremayne war kein Fleck, sondern ein kleines Sternchen.

Ganz unten auf der Seite fand Lexi eine winzige Notiz, die zu dem Sternchen gehörte. Sie beugte sich näher über die Bibel, um die mit sehr spitzer Feder und in winziger Schrift geschriebene Zeile, die schon ziemlich verblasst war, lesen zu können:

Susannah lebte in ihren ersten fünf Jahren bei Ada Tremayne, bevor sie zu ihrer wahren Mutter, Hailee Hayford, zurückkehrte.

»Ich fass es ja nicht«, murmelte Lexi.

»Was denn, Liebes?«

»Tante Filly hatte die ganze Zeit recht gehabt. Sie hat behauptet, Susannah sei die ersten fünf Jahre ihres Lebens eine Tremayne gewesen. Und ich habe gedacht, sie bilde sich da was ein, aber es stimmte. Hier steht es!«

Sie zeigte ihren Eltern den winzigen Eintrag, den, der Schrift nach zu urteilen, vermutlich Violet verfasst hatte. Dann zog sie die Familienbibel wieder zu sich.

Beim Eintrag für die Generation davor änderte sich die Schrift, also war es jemand anderes gewesen, der diese Aufzeichnungen vorgenommen hatte.

Hailee Hayford, geborene O’Connor. Die Hailee, die in der winzigen Notiz als Susannahs wahre Mutter angegeben war. Dieser Name war Lexi doch schon einmal begegnet. Sie musste nur kurz nachdenken – die ungewöhnliche Schreibweise mit dem doppelten e statt ey am Ende machte es ihr leicht, sich zu erinnern:

Hailee war der Name gewesen, der in den Arbeitsbüchern des Obergärtners in den Kriegsjahren aufgetaucht war. Die junge Frau, die in den Heligan-Gärten gearbeitet hatte, als ein Großteil der männlichen Gärtner in den Krieg gezogen war.

Dann war diese rätselhafte Hailee, deren Namen Lexi in den alten Büchern gefunden hatte, ihre Vorfahrin? Wie aufregend!

Neben Hailee standen der Name und der militärische Rang ihres Ehemannes: Captain Angus Hayford, Royal Flying Corps.

Angus. Natürlich! Tante Filly hatte immer von Grandpa Gus gesprochen. Lexi hatte nie darüber nachgedacht, aber Gus war eine gängige Abkürzung für Angus.

Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich an das alte Foto, das Großtante Filly ihr bei ihrem Besuch im Altenheim gezeigt hatte. Das Bild, das einen groß gewachsenen Mann, eine Frau und ein kleines Mädchen in einem Matrosenkleid mit einer Schleife im Haar zeigte, das ein Äffchen an der Hand hielt. Mum, Grandpa, Granny und Mr Pepper hatte darunter gestanden. Das Foto war im Italienischen Garten aufgenommen worden – Lexi hatte das rechteckige Wasserbecken und die mediterranen Pflanzen erkannt, die auch jetzt noch fast genauso aussahen.

Sie blätterte weiter und stellte zu ihrer Freude fest, dass es auch hier Eintragungen gab. Nicht alle vollständig, aber alle in derselben Handschrift. Offenbar hatte sich jemand – vermutlich Alice oder Hailee – bemüht, alle ihr bekannten Informationen über ihre Vorfahren hier zusammenzutragen.

Hailee hatte anscheinend noch einen Bruder mit Namen Colin gehabt. Als Vater der beiden war Eoin O’Connor angegeben. Okay, der unleserliche Vorname von Alice’ Gemahl auf der Hochzeitsurkunde lautete also Eoin. Eoin O’Connor, das war ein sehr irischer Name. Dann hatte es früher also auch eine irische Seite in der Familie gegeben. Als Eoins Ehefrau war Alice O’Connor, geborene Harrington, eingetragen. Jene Alice, die mit den Eintragungen in die Familienbibel begonnen hatte.

Lexi starrte wie hypnotisiert auf den Geburtsnamen.

Harrington? Lexis Vorfahrin Alice O’Connor, die Mutter von Hailee, war eine geborene Harrington?

Gut, der Name war jetzt nicht so furchtbar ungewöhnlich, aber in Verbindung mit Heligan und der zeitlichen Übereinstimmung war ein Zufall eigentlich so gut wie ausgeschlossen.

Und in der nächsten Zeile stand es dann auch: Der Name von Alice’ Vater, Hailees Großvater, lautete Naveen Julian Harrington.

Lexi schnappte leise nach Luft.

Es gab noch weitere Zeilen. Die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits von Eoin und genauso die von Alice. Nicht alle waren vollständig, von manchen gab es nur die Vornamen. Aber dort stand es: Als Eltern von Naveen waren als Mutter eine unbekannte Frau namens Ishani eingetragen und als Vater: Avery Harrington. Geboren 1786 in Heligan, gestorben 1838 in Assam.

Avery! Ihr Avery! Der, über den sie so lange geforscht hatte. Der Sohn von Julian und Damaris Harrington, der als Pflanzenjäger nach Indien und Nepal gegangen war.

Sie lehnte sich zurück, ihr Herz klopfte laut. »Oh Gott«, sagte sie. »Oh mein Gott.«

»Was ist denn, Liebes?«, fragte Constance besorgt. »Hast du etwas Schlimmes entdeckt?«

Lexi schüttelte den Kopf, überwältigt von ihren Gefühlen.

»Nein, alles bestens, Mum. Ich habe nur gerade herausgefunden, wie alles zusammenhängt.« Sie rieb sich mit beiden Händen über die Schläfen.

Sie hatte mit ihren Eltern in den vergangenen Tagen natürlich alle drei Ausstellungen besucht, ihnen von ihrer Recherche dazu berichtet und ihnen auch einige weitere Details über das erzählt, was sie über Damaris und Julian Harrington, ihren gemeinsamen Sohn Avery und die verschiedenen Mitglieder der Familie Tremayne aufgedeckt hatte. Aber das hier – das war neu.

»Bislang dachte ich«, sagte Lexi, »selbst wenn Tante Filly recht hat und ihre Mutter in den ersten fünf Jahren eine Tremayne war, dann war das ja keine echte Verwandtschaft. Aber jetzt weiß ich, dass es noch viel mehr ist als das. Das ist alles ziemlich verwirrend. Und überwältigend.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht so wirklich, was du meinst, Liebes. Kannst du es noch mal erklären für uns alte Leute?«

»Na klar. Ich muss das nur erst mal selbst für mich sortieren.« Lexi schloss die Augen, atmete tief ein und öffnete sie dann wieder. »Also: Bislang bestand unsere Verbindung zu den Tremaynes ja nur indirekt, über Susannah, die in ihren ersten Lebensjahren offenbar bei den Tremaynes aufgewachsen war, die aber in Wirklichkeit eine andere Mutter hatte, nämlich Hailee. So weit, so gut.«

Constance nickte.

»Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass Susannahs Mutter Hailee eine Nachfahrin der Harringtons war. Und wir sind es auch. Wir sind Nachkommen der Harringtons.«

Vielleicht war es das? Vielleicht hatte es sie deshalb vor mehr als anderthalb Jahren nach Heligan gezogen. Es war nicht nur das Werbeplakat für die Lost Gardens gewesen, das sie in einer Fußgängerzone in London gesehen hatte, oder die Erinnerung an die frühen Besuche während ihrer Kindheit mit Granny Violet und Auntie Filly in Heligan. Es war mehr als das. Es war auch so etwas wie eine unbewusste Verbindung über Generationen hinweg.

Dann grinste sie. »Und wenn wir mit den Harringtons verwandt sind, dann sind wir es auch – auf sehr entfernte und verwinkelte Weise – mit den Tremaynes von Heligan.«

*

Der leichte Wind, der vom Meer her wehte, brachte den Geruch von Salz mit sich. Der Himmel war kobaltblau mit einigen weißen Federwolken, ein paar Möwen zogen ihre Kreise.

Lexi und Ben hatten kurz entschlossen das gute Wetter genutzt und waren mit Bens Motorrad in die Nähe einer Landzunge nicht weit von Heligan gefahren. Auf einem kleinen Parkplatz landeinwärts hatten sie das Fahrzeug stehen gelassen und waren den Rest bis zur Küste gelaufen.

Jetzt saßen sie am Rand des schmalen, grasbewachsenen Vorsprungs, lauschten dem Meer und sahen zu, wie die Brandung sich an einer Gruppe dunkler Felsen ein paar Yards unter ihnen brach.

»Wann reisen deine Eltern ab?«, fragte Ben, nachdem sie eine ganze Weile gemeinsam geschwiegen hatten.

»In etwas weniger als einer Woche. Sie müssen ja erst wieder zurück nach London.«

Eine einzelne Möwe stieß hinunter aufs Wasser und landete elegant auf den leichten Wellen.

»Übrigens sind wir beide eingeladen, zu ihnen auf die Malediven zu kommen, wann immer wir wollen.«

»Malediven? Wow! Dann wissen wir ja schon, wo unser erster gemeinsamer Urlaub hingeht.«

Lexi lächelte. Die Vorstellung eines gemeinsamen Urlaubs mit Ben gefiel ihr ausgesprochen gut. »Aber bevor sie abreisen, wollen sie und ich noch mal Tante Filly besuchen.«

»Gute Idee. Das wird die alte Dame sicher freuen.« Er zwirbelte einen Grashalm zwischen seinen Fingern. »Willst du ihr auch von deinen neuesten Erkenntnissen in Sachen Tremayne erzählen?«

»Du meinst, dass ich auch mit ihnen verwandt bin?« Lexi hob die Schultern. »Kommt darauf an, wie klar Fillys Verstand ist, wenn wir bei ihr sind. Wenn sie es versteht, dann bestimmt.«

Sie war ein wenig müde und lehnte ihren Kopf an Bens Schulter. Sah zu, wie das Meer unter ihnen unermüdlich gegen die Felsen schlug. Weiter draußen, hinter dem Horizont, lag Frankreich.

»Ich kann noch gar nicht richtig begreifen«, sagte sie, »dass das mit Rob jetzt endlich vorbei sein soll. Ich habe so lange mit dieser Angst vor ihm gelebt, dass ich mich erst an meine neue Freiheit gewöhnen muss.«

Ben nickte. »Das wirst du schon. Und, ganz ehrlich, ein Gutes hatte die ganze blöde Sache mit deinem verrückten Ex.«

»Ach, ehrlich?«

»Wenn dieser Psycho nicht gewesen wäre, wärst du nie nach Heligan gekommen. Und wir hätten uns nie getroffen.«

Lexi nickte nachdenklich. In diesem Moment konnte sie sich alles vorstellen. Auch, in Cornwall zu bleiben und hier Wurzeln zu schlagen.

Sie sah Ben an. Sah in seine warmen grauen Augen und verspürte eine tiefe, allumfassende Zuneigung. Nein, nicht nur Zuneigung – das nannte man Liebe. Er war der Richtige. Der Mann, mit dem zusammen sie alt werden wollte.

Sie fasste nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Er erwiderte ihren Griff.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

Er grinste etwas verlegen. »Ich habe gerade überlegt, wie Agatha es wohl finden würde, nicht mehr nur mit mir zusammen zu leben.«

Lexi lachte leise. »Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, aber deiner Schildkröte wäre das vermutlich herzlich egal.«

Ben sah sie an. »Und dir? Könntest du dir vorstellen, dass wir uns, na ja, eine gemeinsame Wohnung suchen?«

Sie atmete tief ein, füllte ihre Lungen mit der frischen, salzigen Luft, spürte den leichten Wind auf der Haut und fühlte sich einfach nur großartig.

»Ja«, sagte sie glücklich. »Das könnte ich mir sehr gut vorstellen.«

Es war Nachmittag, und Lexi saß auf einem sonnigen Fleckchen Gras im Lost Valley.

Es war so wunderbar friedlich hier. Eine leichte Brise fuhr rauschend durch die Baumwipfel, ein paar Vögel zwitscherten. Lexi fühlte sich seltsam zeitlos, wie abgetrennt von der Gegenwart. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der Klang von Kutschenrädern oder Pferdehufen zu hören gewesen wäre.

Lexi erinnerte sich: Fast genau hier an diesem Platz, lange bevor sie ein Paar geworden waren, hatte Ben ihr einmal erzählt, dass es in Cornwall Geister gebe.

»In Cornwall«, hatte er damals gesagt, »gibt es für jede Hütte, für jeden Baum einen Geist. Und manchmal«, hatte er noch hinzugefügt, »kann man sogar die Geister der Vergangenheit spüren, die hier irgendwie noch anwesend sind.«

Mit halb geschlossenen Augen strich sie mit einer Hand gedankenversunken durch das weiche Gras neben sich. In der träumerischen Stimmung, in der sie sich gerade befand, tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Als würde die Vergangenheit die Gegenwart überlappen und sich die vor langer Zeit Verstorbenen einer nach dem anderen hier bei ihnen einfinden.

In ihrer Vorstellung sah sie Henry Hawkins Tremayne, den Gründer der Heligan-Gärten, mit Gehstock und leicht gebeugt, wie er den Weg entlangschritt, ein leises Lächeln auf dem freundlichen Gesicht. Und dahinter, etwas weniger klar, seine Familie – seine Frau Harriet, seine Schwester Grace, sein Schwager Charles.

Eine junge Frau mit Zeichenblock in der Hand. Damaris. Jene Damaris, die einst Henry auf seiner Rundreise durch Englands Gärten begleitet hatte.

Neben ihr, groß und ernst, ihr Mann Julian, der ehemalige Schiffbrüchige.

Und dort war Damaris’ Schwester Allie, klein, zart und doch so stark, in einem altertümlichen Stuhl auf Rollen sitzend.

Sie alle ließen sich nach und nach zu einem Picknick nieder. Es herrschte eine gelöste Stimmung. Jedermann lachte und war fröhlich.

In Lexis Vorstellung versammelten sich weitere Mitglieder der Familien Tremayne und Harrington. Henrys Sohn John Hearle, hoch aufgeschossen, der sich angeregt mit seiner Frau Caroline und den gemeinsamen Kindern unterhielt.

Sie sah Damaris’ Sohn Avery mit dunklen Locken in Begleitung eines kleinen, exotisch anmutenden Jungen – sein Sohn Naveen – sowie weitere Männer und Frauen in unterschiedlicher, zum Teil fremdländischer Kleidung.

Sie sah Jack Tremayne, den letzten Squire Heligans, mit Anzug und gepflegtem Schnauzbart, und seine Schwester Ada, groß und ein wenig hager, in einem damals modernen Hosenanzug.

Ein kleines Mädchen, das Sukey sein musste, lief von Ada hin zu einer jungen Frau mit dunklen Haaren, die sich niederbeugte und das Kind mit offenen Armen auffing. Hailee. Neben Hailee ein gut aussehender Mann in Uniform. Ihr Mann, Angus Hayford. Uropa Gus.

Aus dem Hintergrund näherte sich eine Schar von Männern in Arbeitskleidung. Sie lachten und scherzten miteinander. Die Gärtner Heligans, die das Anwesen so wunderbar gepflegt hatten und die fast alle im Ersten Weltkrieg an die Front gegangen waren.

Lexi erkannte die meisten von ihnen wieder: Dort war Leonard Warne, der sich hauptsächlich um die Gewächshäuser Heligans gekümmert hatte. Dort Charles Ball, groß und kräftig, von dem es hieß, dass er gerne sang. Dort Archibald Smaldon, Tischler in Heligan. Und der blonde junge Mann war natürlich Vincent Payne.

An seiner Seite ging ein junger dunkelhaariger Mann, der Ben erstaunlich ähnlich sah. Nicholas Barnett. Er warf Vincent einen zärtlichen Blick zu, und unbemerkt von den anderen schlossen sich ihre Hände kurz umeinander, bevor sie sich wieder voneinander lösten.

Bei dieser verstohlenen Berührung, deren Zeuge sie geworden war, durchströmte Lexi ein tiefes, inniges Glücksgefühl, fast so, als wäre sie selbst einer der beiden Männer.

Sie lächelte, während die Bilder der versammelten Menschen aus der Vergangenheit langsam davonwehten.

Ein Rotkehlchen setzte sich auf den Ast eines Strauchs. Es legte den Kopf ein wenig schief, als begutachte oder überlege es etwas, und zirpte ein paarmal. Dann flog es davon.