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LEXI

Heligan Gardens, Cornwall, Anfang Dezember

Es war recht früh am Morgen. Um diese Uhrzeit waren Heligans Pforten noch für Besucher geschlossen, lediglich die Cafeteria verkaufte schon Frühstück und kleine Snacks.

Lexi nutzte die Zeit vor der offiziellen Öffnung um zehn Uhr für eine kleine Joggingrunde durch einen Teil der Gärten. In leichtem Trab lief sie oberhalb von Flora’s Green, der großen, von alten Rhododendren umgebenen Rasenfläche, entlang. Die wässrige Wintersonne, die sich an diesem Morgen über den Horizont erhoben hatte, konnte die Nebelschleier nicht durchdringen, noch immer war es feucht und diesig. Aber wie hieß es? Es gab kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung.

Heligan lag in einer malerischen Ecke Cornwalls, an der Spitze eines Tals in der Nähe des kleinen Fischerortes Mevagissey. Seit dem achtzehnten Jahrhundert hatte die Familie Tremayne über mehrere Generationen hinweg die Gärten erschaffen und immer mehr erweitert, bis diese nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben worden waren und verwahrlosten. Heligan war fast völlig in Vergessenheit geraten, als in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Nachfahre der Familie Tremayne zusammen mit einem Freund das Gelände besuchte und die beiden entschieden, dieses verlorene Kleinod wieder zum Leben zu erwecken. Gemeinsam mit einer Gruppe von freiwilligen Helfern begannen sie, den jahrzehntealten Verfall in mühsamer Kleinarbeit rückgängig zu machen.

Als Lexi in den weitläufigen Gemüsegarten einbog, schälte sich allmählich der Umriss von Diggory, der gut gekleideten Vogelscheuche, die inmitten der Felder thronte, aus dem Nebel. Auf der fast schwarzen Erde erblickte Lexi das dunkle Grün verschiedener Wurzelgemüse und Wintersalate. Im Mittelweg waren Apfelbäume zu einem Bogengang geformt worden – im Frühling würde es hier mit den rosa-weißen Blüten herrlich aussehen, aber jetzt, im Winter, war alles kahl.

Auf einem hölzernen Stecken saß eines der vielen Rotkehlchen, die in Heligan zu Hause waren, und flötete mit Inbrunst. Lexi blieb ein paar Yards entfernt stehen und sah ihm zu. Sie hatte gehört, dass die männlichen Rotkehlchen im Winter besonders laut sangen, um damit ein Weibchen anzulocken.

»Ich fürchte«, sagte sie leise, um den Vogel nicht zu verschrecken, »du musst noch weiter singen. Ich bin schon vergeben.«

An den kahlen Zweigen des Apfelbogens hingen dicke Wassertropfen, im Nebel wirkten die Gärten wie aus der Zeit gefallen. Heligan war am schönsten im Regen. Das hatte Ben einmal zu ihr gesagt, als sie noch ganz neu hier gewesen war.

In Heligan hatte sie nicht nur Zuflucht und Arbeit gefunden, sondern auch eine neue Liebe: Ben Pascoe, der in Heligan als Gärtner und Landschaftspfleger arbeitete und mit dem sie nun schon seit einigen Wochen zusammen war.

Sie ließ den Gemüsegarten hinter sich und verlangsamte ihre Schritte, bis sie die gemauerte, leicht gebogene Wand des Melonenhofs erreicht hatte und durch eine geöffnete grün gestrichene Tür eintrat.

In dem ummauerten Hof mit seinen Treibhäusern und Schuppen war zu dieser frühen Stunde noch kein Mensch zu sehen. Lexi blieb stehen, um eines der alten Treibhäuser zu betrachten, an dessen Scheiben Wassertropfen herunterrannen. An ihrem unteren Rand hatte sich eine feine grüne Moosschicht gebildet. Am Ende des Winters würde die gesamte Heligan-Belegschaft hier wieder putzen müssen. Das war auch eine von Lexis ersten Aufgaben gewesen, als sie vor gut neun Monaten nach Heligan gekommen war.

Durch die leicht beschlagenen Glasscheiben einer abgedeckten, gemauerten Grube konnte sie verschwommen die Umrisse einiger Ananas erkennen, die hier wie in früheren Zeiten mithilfe von frischem Pferdemist gezogen wurden. Dies war die einzige funktionierende, mit Dung beheizte georgianische Ananasgrube der Welt, wie jeder der Heligan-Guides nie müde wurde zu betonen.

Lexi lenkte ihre Schritte zum alten Steward’s House aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Früher hatte hier der Gutsverwalter mit seiner Familie gewohnt. Jetzt gab es im Erdgeschoss ein Besuchercafé, und im ersten Stock lagen einige Büros für Mitarbeiter. Darunter auch Lexis, das sie sich mit der Aushilfe Eliza teilte.

Zeit, mit der Arbeit anzufangen.

In diesem Jahr waren dreißig Jahre seit der Wiedereröffnung Heligans vergangen. Zu diesem Anlass sollte es neben diversen Feierlichkeiten und Veranstaltungen auch eine große dreiteilige Ausstellung geben, in der auf einige historische Hintergründe eingegangen würde. Diese auszugestalten lag in Lexis Verantwortung.

Nachdem sie sich in der ersten Etage, die den Mitarbeitern vorbehalten war, kurz frisch gemacht hatte, schaute sie in einem der Nebenräume vorbei. Hier sammelte sie die Unterlagen, die sie bereits für die Ausstellungen vorbereitet hatte. Dabei würden drei historische Epochen, die für Heligan wichtig waren, näher beleuchtet werden. Bei diesen Ausstellungen, so der Wunsch ihrer Chefin Theodora, sollte es vor allem um »Geschichten hinter der Geschichte« gehen. Zu diesem Zweck hatte Lexi in den vergangenen Monaten nicht nur in Heligan und seinem Archiv recherchiert und viele interessante Dinge zusammengetragen, sondern war mit Ben auch im großen Cornwall-Archiv von Kresen Kernow gewesen, wo sie weitere historische Dokumente hatte einsehen können.

Inzwischen waren die Materialien für zwei der Ausstellungen fertig.

Im ersten Teil würde es um das späte achtzehnte Jahrhundert gehen, als die Heligan-Gärten unter ihrem Gutsherrn Henry Hawkins Tremayne neu gestaltet worden waren. Lexi hatte nicht nur viel über englische Landschaftsgärten herausgefunden, sondern auch die Lebensgeschichte von Henrys junger Verwandten Damaris Tremayne ausgekramt. Damaris hatte Henry auf einer langen Reise, einer sogenannten Grand Tour, durch Englands Gärten begleitet, wo Henry Inspiration für sein eigenes Anwesen suchte. Einige Zeit nach ihrer Rückkehr hatte Damaris ihre heimliche Liebe Julian Harrington geheiratet, einen ehemaligen Schiffbrüchigen, der später Henry Tremaynes Gutsverwalter geworden war. Damaris und Julian hatten mit ihrer Familie im Steward’s House gelebt – dem Haus, in dem Lexi ihr Büro hatte.

Der zweite Teil der Ausstellung würde sich mit den Pflanzenjägern beschäftigen. So nannte man die reisenden Botaniker und Abenteurer, die im neunzehnten Jahrhundert fremde Länder auf der Suche nach exotischen Pflanzen besuchten und die unbekannten Gewächse nach Europa brachten. Mehr durch Zufall war Lexi bei ihren Recherchen auf den Namen Avery Harrington gestoßen, offenbar ein Sohn von Julian und Damaris. Auch über ihn hatte Lexi einiges herausbekommen. Er war nach einem verbotenen Duell nach Indien geflohen und hatte an einer Expedition nach Nepal teilgenommen.

Jetzt stand noch der dritte und letzte Teil aus, der den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts behandeln sollte, als Heligan florierte, bis der Erste Weltkrieg über Europa hereinbrach.

Zu Lexis Überraschung war einer von Bens Vorfahren damals ebenfalls Gärtner in Heligan gewesen. Dieser Vorfahr, Vincent Payne, war ebenso wie viele andere seiner Kollegen in den Krieg gezogen. Bens Opa Richard war Vincents Enkel – Lexi hatte den alten Herrn vor knapp zwei Wochen kennengelernt, als Ben sie zu seiner Familie mitgenommen hatte, die an der Nordküste Cornwalls lebte. Bei dieser Gelegenheit hatte sie mit Bens Großvater auch über Vincent reden können, woraufhin er ihr unter anderem dessen militärische Erkennungsmarke gezeigt und ihr erlaubt hatte, sie für ihre Ausstellung zu fotografieren.

Wieder zurück in Heligan hatte sie dann im Archiv eine alte sepiafarbene Fotografie im Postkartenformat gefunden, sie aber zwischenzeitlich wieder vergessen. Diese Karte nahm sie an diesem Morgen noch einmal vorsichtig in die Hand.

Es war keine Jahreszahl verzeichnet, aber der Kleidung der Menschen nach musste das Bild Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen worden sein. Sie drehte die Karte um. Mr Dalby Smith, Mevagissey, stand dort zu lesen. Aber keine weiteren Namen oder Informationen zu den Abgebildeten. Schade.

Sie betrachtete erneut die Vorderseite. Das Bild zeigte einige Gärtner und Arbeiter aus Heligan, die sich zu einem Gruppenfoto vor der großen Holztür zusammengefunden hatten, die in den Blumengarten führte. Insgesamt waren dort zwölf ernst blickende Männer abgebildet, alle in Sonntagsstaat mit Anzügen, Weste und manche mit Krawatte. Fast alle trugen eine Kopfbedeckung – Bowler oder Schiebermütze –, und die meisten von ihnen waren jung.

Hinten in der Mitte standen zwei junge Männer. Bens Opa hatte Lexi bei ihrem Besuch auch ein Porträtfoto seines Großvaters Vincent gezeigt, auf dem dieser in Uniform abgebildet war. Jetzt ärgerte sich Lexi ein wenig, dass sie dieses Bild nicht ebenfalls fotografiert hatte. Inzwischen war sie sich nämlich nicht mehr sicher, welcher der abgebildeten Männer wirklich Bens Vorfahren zeigte. Sie glaubte, sich zu erinnern, dass Vincent blond gewesen war. Allerdings war es der dunkelhaarige junge Mann neben dem Mann, den sie für Vincent hielt, weil er Ben viel ähnlicher sah.

*

»Sieh mal, das Original davon habe ich im Archiv gefunden.« Lexi öffnete das Bild der Arbeiter auf ihrem Laptop und drehte ihn so, dass Ben es sehen konnte. Sie saßen am Küchentisch in seiner kleinen Wohnung in St Austell. Lexi hatte die alte Postkarte fotografiert und auf ihrem Laptop gespeichert. »Kennst du es?«

Ben betrachtete das Bild und nickte langsam. »Das hab ich schon mal irgendwo gesehen.«

»Vermutlich in einem Buch. Dein Opa meinte ja auch, dass irgendwo so ein Bild existiert«, sagte Lexi. »Ich werde für die Ausstellung einen großen Abzug davon machen lassen. Und auch noch einen kleineren, den ich Richard zukommen lasse, das habe ich ihm schließlich versprochen.«

»Das ist sehr nett von dir. Darüber wird er sich sicher freuen.«

Sie drehte den Rechner wieder ein wenig weiter zu sich. »Und? Welcher von diesen Männern ist dein Ururgroßvater Vincent Payne?«

Ben überlegte nur kurz. »Der da«, sagte er dann und deutete auf denselben blonden jungen Mann, den auch Lexi bislang für Vincent gehalten hatte. »Glaube ich.«

»Aber du bist dir nicht ganz sicher?«

»Doch, ziemlich. Allerdings kenne ich ja auch nur ein Foto von ihm – dasselbe, das mein Opa dir neulich gezeigt hat. Also habe ich auch nicht mehr Informationen als du.«

»Okay. Und was ist mit dem Mann daneben? Der dunkelhaarige?«

Ben warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. »Was soll mit ihm sein?«

»Findest du nicht, dass er dir ziemlich ähnlich sieht?«

»Mir?« Er schaute noch einmal genauer hin und runzelte die Stirn. »Könnte sein. Vielleicht.« Er blickte Lexi an. »Und was soll mir das jetzt sagen? Dass nicht Vincent mein Vorfahr ist, sondern dieser andere hier?«

»Nein, natürlich nicht. Vermutlich ist es nur eine zufällige Ähnlichkeit.«

Er grinste. »Du meinst, ich habe so ein Dutzendgesicht, da kommt so was schon mal vor?«

»Du hast ganz sicher kein Dutzendgesicht, im Gegenteil!« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. Als sie sich ein paar Minuten später voneinander lösten, fiel Lexi etwas ein, und sie zog den Laptop wieder zu sich.

»Das hätte ich ja fast vergessen. Ich habe geschaut, ob irgendwo steht, wer die Leute auf dem Bild waren, aber ich habe nichts gefunden. Nur den Namen des Fotografen, und den habe ich natürlich gegoogelt.«

Dalby Smith, hatte sie herausgefunden, war ein Fotograf mit einem Studio in Mevagissey gewesen, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts viele Ansichtskarten gestaltet und Fotos von Menschen und der Umgebung gemacht hatte.

»Aber dann«, sagte sie in leisem Triumph, »habe ich es entdeckt. In einem Buch über Heligan. Und zwar einen Auszug aus dem Arbeitsbuch des Obergärtners von damals.«

Sie öffnete eine neue Datei und präsentierte Ben ihren Fund. Abgebildet waren dort zwei Seiten eines großen Notizbuchs, auf denen oben links in gut lesbarer Handschrift »April 1914« eingetragen war. Auf den abgebildeten Seiten standen die Namen etlicher Männer, dazu die Wochentage und die verschiedenen Bereiche, in denen sie gearbeitet hatten – im Garten und auf den übrigen Gutsflächen. Am Ende jeder Zeile waren die Anzahl der gearbeiteten Tage aufgelistet sowie der Wochenlohn.

»Sieh dir die Namen an«, sagte Lexi.

»A. Smaldon«, las Ben vor. »J. James, G. Holman, V. Payne – wow, das muss Vincent sein! Und gearbeitet hat er von Montag bis Samstag.« Er hob den Kopf. »Ich bin beeindruckt. Hast du noch mehr davon?«

Lexi schüttelte den Kopf. »Nein, leider waren in dem Buch nur diese beiden Seiten abgebildet. Aber so leicht gebe ich nicht auf.«

Demnächst würde sie noch einmal weiter im Heligan-Archiv auf die Suche gehen. Möglich, dass irgendwo dort auch das Original des Arbeitsbuchs existierte.