Heligan Gardens, Cornwall, Ende Dezember
Heligan hatte ganzjährig geöffnet, nur am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag war für Besucher geschlossen. Was allerdings nicht bedeutete, dass auch die Belegschaft freihatte, denn in einer großen Anlage wie Heligan gab es immer etwas zu tun. An Weihnachten und Silvester musste Ben arbeiten – er hatte im vergangenen Jahr Urlaub gehabt, und nach dem Wechselprinzip war er dafür in diesem Jahr dran.
Auch Lexi nutzte die Zeit, um einige liegen gebliebene Sachen zu erledigen, und am fünfundzwanzigsten Dezember feierten sie Weihnachten zu dritt – Lexi, ihre Mitbewohnerin Cait und Ben, ganz altmodisch mit Braten, Plumpudding und einigen mit Süßigkeiten gefüllten roten Socken, die sie in Ermangelung eines Kamins an die Fensterbank hängten.
Cait leckte sich die Finger ab, nachdem sie eine ihrer geschenkten Schokopralinen verputzt hatte. »Wenn ich daran denke, dass ich letztes Jahr Weihnachten mit meinem bekloppten Ex zusammen verbracht habe …« Sie schüttelte sich.
Lexi nickte. »Ich auch mit meinem«, sagte sie leise.
Inzwischen erschien ihr ihr früheres Leben in London, wo sie als PR-Managerin gearbeitet hatte, wie eine ferne, sehr schlechte Erinnerung, dabei war es nicht einmal ein Jahr her, dass sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte. Noch immer wusste kaum jemand davon, dass Lexi Davies nicht ihr richtiger Name war, sondern Emilia Andrews, und dass sie vor ihrem brutalen Freund Rob geflohen war, der mehrmals gedroht hatte, sie umzubringen. Und nicht nur gedroht – einmal hatte er sie so stark gewürgt, dass sie tatsächlich geglaubt hatte zu sterben. Erst vor wenigen Wochen hatte sie es gewagt, sich Ben anzuvertrauen und ihm die ganze vertrackte Geschichte zu erzählen. Cait wusste bislang nur, dass Rob noch immer nicht aufgegeben hatte, nach ihr zu suchen.
Bens Hand schloss sich um Lexis und drückte sie leicht, und sogleich fühlte sie sich wieder stärker. Sie war nicht mehr allein.
*
Schon kurz nach dem Jahreswechsel tauchten die ersten Frühblüher in Heligan auf. Fast täglich konnte man beobachten, wie neue lilafarbene Krokusse und weiße Schneeglöckchen auf den Rasenflächen erschienen, und im Nördlichen Garten brachten gelbe Narzissen Farbe und eine erste Ahnung von Frühling.
Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen des Landes hielt der Frost in Cornwall nie lange an, was bedeutete, dass die Blüte früh einsetzte. Jetzt begann auch die Zeit der Kamelienblüte – Pflanzen, die schon seit hundertfünfzig Jahren in Heligan wuchsen. Viele davon waren bereits von Jack Tremayne, dem letzten Squire, hier angepflanzt worden. Nahe beim Western Ride konnte man die ersten tiefrosa blühenden Kamelienbüsche sehen.
Und Mitte Februar öffneten sich dann die ersten Magnolienknospen. Obergärtner Derek übermittelte jeden Tag die genaue Anzahl der geöffneten Blüten an das Spring Story Bloomometer, denn Heligan war einer der Gärten, die dazu beitragen durften.
Als Lexi im vorigen Jahr an einem regnerischen Tag Ende Februar in St Austell angekommen war, hatte sie zum ersten Mal von dieser noch nicht allzu alten Tradition gehört. Für das Bloomometer dokumentierten die sechs großen Gärten von Cornwall jedes Frühjahr, wie viele Blüten an einem vorher bestimmten Magnolienbaum geöffnet waren. Sobald jede dieser sechs Magnolien fünfzig geöffnete Blüten trug, wurde der Frühlingsanfang in Cornwall verkündet. In diesem Jahr war es am 22. Februar endlich so weit: Alle sechs Gärten meldeten fünfzig geöffnete Magnolienblüten. Der Frühling war in Cornwall angekommen.
Zum Jubiläum von Heligans Wiedereröffnung vor dreißig Jahren sollte es nicht nur Lexis drei Ausstellungen geben, sondern auch eine Outdoor-Theater-Aufführung, für die eine örtliche Theatergruppe engagiert worden war. Die ersten Proben dafür hatten schon kurz nach dem Jahreswechsel begonnen. Das Stück war ohne Lexis Mitwirkung entstanden, aber es passte gut, denn es würde ebenso wie Lexis dritte Ausstellung die Zeit des Ersten Weltkriegs behandeln.
Neben einer Handvoll professioneller Schauspieler brauchte man dafür etliche freiwillige Statisten. Einige Heligan-Mitarbeiter hatten sich dazu bereit erklärt, aber weil vor allem männliche Statisten fehlten, hatte man auch Ben gefragt, ob er Lust hätte mitzuspielen. Nach kurzem Zögern – er wisse doch gar nicht, was er da tun solle – hatte er zugestimmt. Er durfte sich aussuchen, in welcher der Gruppen er sich beteiligen wollte, und hatte sich für einen der Soldaten entschieden.
Seit einigen Monaten teilte Lexi sich eine Wohnung mit ihrer Kollegin Cait im nahe gelegenen Mevagissey. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, sah die Küche aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lagen und standen Schüsseln, Küchenutensilien und Zutaten herum, alles war mit Mehl bestäubt.
»Heute nicht beim Liebsten?«, fragte Cait.
Lexi schüttelte den Kopf. »Ben ist beim Sport. Trainiert die Jugendgruppe.«
»Stimmt ja. Aikido, richtig?«
Lexi nickte. »Was machst du da?«
»Das frage ich mich auch gerade.« Cait schob sich eine rote Strähne hinters Ohr. »Ich probiere etwas Neues aus. Du hast doch mal so ein richtig altes Rezept mitgebracht, weißt du noch?«
Lexi stellte ihre Tasche ab und begutachtete das Chaos. »Du meinst das älteste bekannte Rezept für Cornish Pastys? Hatte das nicht irgendjemand an den Vater von Henry Hawkins Tremayne geschickt?«
Cornish Pastys waren die in ganz Cornwall berühmten gefüllten Teigtaschen.
»Ganz recht, genau das.« Cait nickte. »Es ist über zweihundertfünfzig Jahre alt.«
»Und das willst du nachbacken?«
»So ist es. Mein Chef Peter und ich haben beschlossen, diese Pastys auszuprobieren. Und wenn sie was werden, dann wollen wir sie zum Jubiläum in der Cafeteria servieren. Ich versuche, mich ganz genau an das Rezept zu halten, aber manche Dinge erschließen sich mir einfach nicht.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich rote Farbe reintun soll.«
»Rote Farbe?«, wiederholte Lexi skeptisch.
»Schau her.« Cait hielt ihr einen Computerausdruck unter die Nase. Ältestes Rezept für Cornish Pasty aus dem Jahr 1746, stand darüber. Ihr Finger deutete auf eine Zeile recht weit oben.
»Hier. Lies selbst.«
Das Fleisch einer Hammelkeule wird mit Cochenille eingerieben, dann mit Muskatblüte, Nelken und Piment gewürzt, jeweils in gleicher Menge, mit Salz und ein wenig Pfeffer.
»Cochenille?«, Lexi schaute sie fragend an.
»Das ist besagter roter Farbstoff«, erklärte Cait. »Ich hab mich informiert. Wurde früher aus Läusen gewonnen, und damit färbte man das, was man in die Pastete packte. Heute nutzt man künstlichen Farbstoff dafür.« Sie schüttelte den Kopf. »Wobei ich es nicht wirklich verstehe. Solches Zeug schmiere ich mir in die Haare, aber doch nicht ins Essen.«
Lexi hob die Schultern. »Keine Ahnung, warum. Vermutlich, damit es appetitlicher aussieht.«
Sie entschieden sich gegen die Rotfärbung der Fleischfüllung. Lexi half Cait beim Fertigstellen, und bald schon befand sich eine kleine Schar gefüllter Teig-Halbmonde im Ofen.
»Nachdem ich heute für das Essen gesorgt habe«, sagte Cait und kratzte sich mit einer mehlbestäubten Hand am Kinn, »bist du dran, dir einen Film auszusuchen.«
»Okay.« Lexi hatte sich schnell entschieden. »Titanic.«
Cait grinste so breit, dass man die beiden winzigen silbernen Piercings unter ihrer Oberlippe sehen konnte. »Super. Ich steh auf Leo DiCaprio, und du kannst zeitgenössische Recherchen für deine nächste Ausstellung betreiben.«
Und nach einem Imbiss mit den Cornish Pastys nach altem Rezept, die noch ein wenig verbesserungswürdig waren, machten sie es sich auf dem Sofa bequem, um in die Welt von 1912 einzutauchen und dem Zusammentreffen von Jack und Rose auf dem legendären Luxusdampfer entgegenzufiebern.