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VINCENT

Hafen von Southampton, April 1912

Der riesige schwarze Schiffsrumpf schien direkt vor ihm aus dem Wasser zu wachsen. Vincent musste den Kopf in den Nacken legen, um bis zum obersten Deck schauen zu können, wo sich die vier leicht schrägen Schornsteine erhoben. Die RMS Titanic war ein wahres Ungetüm aus Stahl und ein Beispiel hervorragender Ingenieurskunst.

Am Kai herrschte bereits jetzt, zwei Stunden vor der geplanten Abfahrt, ein ziemliches Durcheinander. Viele ärmlich gekleidete Menschen, darunter etliche Kinder, drängten sich vor einer Zugangsbrücke, wo ihnen ein livrierter Mann Anweisungen erteilte. Rufe und Lachen hallten über den Platz. In Vincents Nähe fuhr ein Automobil vor, dem ein vornehmes Paar entstieg, während sein Personal sich um das Gepäck kümmerte. Was die beiden wohl nach Amerika führte?

Ein freundschaftlicher Stoß in die Seite holte ihn aus seinen Gedanken.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass es gigantisch ist?«, fragte Nicholas. »Das größte Schiff, das je gebaut wurde. Natürlich zusammen mit ihren beiden Schwesterschiffen.«

»Ich weiß«, gab Vincent zurück. »Es ist ja nicht so, als hättest du mir das alles nicht schon hundertmal erzählt.«

»Natürlich. Aber es ist doch etwas anderes, dieses Wunder der Technik in natura zu sehen. Die Titanic ist unsinkbar. Sie kann bis zu vierundzwanzig Knoten schnell fahren, und sie hat Platz für mehr als zweitausend Menschen.«

Diese Zahlen waren zwar erstaunlich, interessierten Vincent allerdings nicht so sehr wie Nicholas, der für jede technische Neuerung zu haben war. Für Vincent dagegen zählte vor allem, dass sie mit diesem riesigen Schiff nach Amerika reisen würden.

»Ja«, sagte er. »Und wir werden zwei davon sein. Sofern dieser Joe Brown mit unseren Fahrkarten rechtzeitig auftaucht.«

Nicholas – genau wie Vincent zwanzig Jahre alt, ein paar Inches größer als sein Freund, dunkelhaarig und gut aussehend – schulterte seinen einfachen Rucksack aus Segeltuch.

»Natürlich wird er das. Na los, lass uns diesen Pub suchen.« Er warf einen Blick auf den Zettel mit der kurzen Wegbeschreibung, die man ihnen gegeben hatte, und deutete auf eine nahe gelegene Kreuzung. »Dort entlang.«

Vincent folgte seinem Freund, der sich nun von der Menge fortbewegte und zielstrebig durch die Straßen lief.

»Da ist es«, sagte Nicholas nach wenigen Minuten und deutete auf ein dreistöckiges gelbes Backsteingebäude, über dessen Eingang in großen goldenen Lettern The Grapes prangte. Der Pub, in dem sie sich mit ihrem Mittelsmann treffen sollten, existierte also wirklich. Vincent hatte bis zuletzt leise Zweifel daran gehabt. Jetzt erfüllte ihn eine Mischung aus Erleichterung, Anspannung und Vorfreude. Wenn alles glatt liefe, wären sie demnächst an Bord der Titanic.

Als sie den Pub betraten, war kein freier Platz mehr zu finden, obwohl es noch nicht einmal elf Uhr war.

Vincents Blick glitt suchend durch den Raum. Der Pub war voll mit Menschen jeglichen Alters und unterschiedlicher Nationalität. An einem Tisch am Fenster saßen vier Männer, die sich in einem Gemisch aus Englisch und einer anderen Sprache unterhielten und Karten spielten. Nur Mr Brown war nicht da. Dabei wäre der etwas übergewichtige, rotgesichtige Mann nicht so leicht zu übersehen gewesen.

»Er kommt sicher gleich«, sagte Nicholas. »Er hat doch gesagt, er würde sich möglicherweise etwas verspäten. Und wenn er selbst nicht kommen kann, dann schickt er einen Vertreter.«

»Und wenn nicht?«

»Jetzt sei doch kein solcher Schwarzseher. Es wird schon alles gut werden.« Dennoch sah Vincent seinem Freund einen kleinen Zweifel an.

Sie warteten einige Minuten, aber kein neuer Gast trat ein. Als zwei Plätze am Tresen frei wurden, nutzten sie die Gelegenheit und fragten den Wirt des Pubs, ob ein Mr Joe Brown hier etwas für sie abgegeben habe oder sogar selbst anwesend sei. Aber der Wirt schüttelte nur den Kopf und fuhr fort, Bier auszuschenken und zwischendurch die Theke abzuwischen.

Ein junger Mann mit Schiebermütze trat neben sie an den Tresen, um sein leeres Glas zurückzugeben.

Nicholas, der stets der Erste war, wenn es darum ging, auf Leute zuzugehen, wandte sich an ihn. »Kennen Sie zufällig einen Joe Brown?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Ich bin nicht von hier«, sagte er mit dem Hauch eines Akzents, den Vincent allerdings nicht einordnen konnte. Er deutete auf ihr Gepäck. »Ihr wollt also auch nach Amerika?«

»Allerdings«, gab Nicholas zurück. »Mit der Titanic

»Dann werden wir wohl zusammen reisen«, sagte ihr neuer Bekannter und hielt Nicholas die Hand hin. »Colin. Colin Jones. Weltreisender und Fotograf.«

»Nicholas Barnett«, sagte Nicholas und schüttelte ihm die Hand. »Und das ist mein Freund Vincent Payne.«

Auch Vincent ergriff die dargebotene Hand.

»Sie sind … Du bist Fotograf?« Wenn der andere so vertraut mit ihnen sprach, konnten sie sich auch duzen.

»Unter anderem. Ich werde Mr und Mrs Straus auf dieser Reise ablichten«, sagte Colin mit kaum verhohlenem Stolz. »Ihr wisst, wer Isidor und Ida Straus sind? Eines der reichsten Paare Amerikas. Ihnen gehört ein Kaufhaus.«

»Natürlich.« Nicholas nickte, als ob er darüber Bescheid wüsste, dabei war Vincent sicher, dass sein Freund genau wie er selbst noch nie von den beiden gehört hatte. »Wir sind Gärtner.«

»Gärtner«, wiederholte Colin. »Und was macht man als Gärtner in Amerika?«

»Gibt es in Amerika keine Gärten?«

Colin lachte. »Nun, ich gehe doch mal davon aus.« Er musterte sie kurz. »Ich nehme an, ihr reist dritter Klasse?«

Vincent nickte. »Sofern wir überhaupt noch an unsere Tickets kommen.«

Colins Augen wurden groß. »Ihr habt noch keine Tickets?«

»Nein. Das heißt, doch. Fast. Wir warten hier auf den Mann, der uns unsere Fahrkarten bringen soll.«

»Diesen Joe Brown, nach dem ihr mich gefragt habt?«, fragte Colin. »Wie seid ihr denn an den geraten?«

Und so erzählten sie es ihm. Bislang hatten sie beide in einer Handelsgärtnerei in East Hampshire gearbeitet. Vor wenigen Wochen waren sie nach Feierabend in einen Pub gegangen, um etwas zu trinken, und kamen irgendwann auf ihre Pläne zu sprechen, nach Amerika auswandern zu wollen. Zu ihrer Freude hatten sie an diesem Tag dort einen Mann getroffen, der auf der Durchreise war und der ihnen zusicherte, an günstige Tickets für die Titanic kommen zu können. Für eine entsprechende Anzahlung würde er sich um alles kümmern. Die Restsumme könnten sie später ratenweise in Amerika abbezahlen, sobald sie dort Arbeit gefunden hätten. Das klang für sie nach einem fairen Handel.

Colins Miene war ernst. »Lasst mich raten: Ihr habt die Anzahlung geleistet?«

Nicholas nickte. »Ja, haben wir. Das waren fast unsere gesamten Ersparnisse, aber das war es uns wert.« Er warf einen Blick zur Tür. »Ich hoffe, er kommt bald. Sonst wird es langsam eng.«

Colin seufzte. »Tut mir leid, Jungs, euch das sagen zu müssen, aber das hört sich ganz so an, als wärt ihr einem Betrüger aufgesessen.«

Vincent wurde es plötzlich ganz kalt.

»Was?« Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Mr Brown hat uns sogar seine Visitenkarte gegeben. Hier.« Er kramte in seiner Westentasche und zeigte Colin die Karte mit der feinen Prägung, von der sie damals ziemlich beeindruckt gewesen waren.

Colin war es nicht. »Jeder mit ein bisschen Geld kann sich so eine Visitenkarte drucken lassen. Das ist kein großes Hexenwerk und beweist gar nichts.« Er drehte die Karte in der Hand. »Und was ist das überhaupt für ein Name: Joe Brown? Findet ihr nicht, dass sich das irgendwie falsch anhört?«

Ein lautes Schiffshorn ertönte dreimal kurz hintereinander, und auf dieses Zeichen hin leerte sich der Pub schlagartig. Auch Colin griff nach seiner Reisetasche.

»Tut mir wirklich leid für euch, Jungs. Ich hätte gern noch länger mit euch geplaudert, aber ich muss los, sonst verpasse auch ich das Schiff, und dann kann ich meine Anstellung vergessen. Ich drücke euch die Daumen, dass ich unrecht habe und dieser Mr Brown doch noch in den nächsten Minuten auftaucht.«

Er verabschiedete sich von ihnen und ging.

Mr Brown kam nicht und auch nicht ein Ersatzmann. Nicht in den nächsten Minuten und auch nicht in der nächsten Stunde. Colins Vermutung hatte sich bewahrheitet: Man hatte sie betrogen.

Und so standen sie beide um kurz nach zwölf in der jubelnden Menge am Kai und sahen stumm zu, wie die Titanic ablegte und in See stach, der Neuen Welt entgegen. Nur leider ohne sie.

»Danke«, murmelte Nicholas, während sich die Zuschauer allmählich zerstreuten.

»Wofür?«

»Dass du nichts sagst wie ›Ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache‹ oder so was.«

Vincent seufzte. Was würde es bringen, seinem Freund jetzt Vorwürfe zu machen? »Ich bin genauso auf diesen Betrüger hereingefallen wie du.«

Von einer Bude am Hafen wehte der Geruch von Fish and Chips zu ihnen herüber. Trotz der Enttäuschung fing Vincents Magen an zu knurren.

»Lass uns was zu essen kaufen«, schlug er vor.

Das taten sie, und kurz darauf saßen sie auf der Kaimauer und teilten sich eine Portion frittierten Fisch mit Kartoffelstäbchen. Manche der Kartoffelstücke wiesen schwärzliche Flecken von der Druckertinte der Zeitung auf, in die sie eingepackt waren, aber das störte sie nicht.

»Vielleicht sollte das so sein.« Nicholas lachte, wenn auch ohne wirkliche Freude. »Wer weiß, vielleicht geht das Schiff ja unter. Dann ist es nur gut, dass wir nicht drauf sind.«

Vincent warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Hast du mir nicht vorhin erst zum wiederholten Mal erzählt, die Titanic sei unsinkbar?«

»Natürlich ist sie das. Ich hab das nur gesagt, damit du dich besser fühlst.« Nicholas wischte sich die fettigen Hände an seinem Leinenrucksack ab, den er neben sich auf die Kaimauer gestellt hatte. »Wir finden ein anderes Schiff.«

»Wir haben kaum noch Geld«, erinnerte Vincent ihn.

»Dann werden wir es uns erarbeiten. Gute Gärtner werden immer gebraucht.«

»Wenn du es sagst.«

»He, Kopf hoch, Vince. Wir finden schon was.«

»Natürlich. Fragt sich nur, wo.«

Nicholas zuckte mit den Schultern. »Wir könnten es zum Beispiel in London versuchen, in den Kew Gardens.«

»Einfach so, auf gut Glück?«

»Ja, warum nicht? Oder hast du eine bessere Idee?«

Vincent steckte sich das letzte frittierte Kartoffelstäbchen in den Mund und kaute gründlich und mit Bedacht. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas Anständiges zu essen bekommen würden? Er schluckte und leckte seine Finger ab, die ein wenig nach Druckerschwärze schmeckten. Dann nahm er die Zeitungsseite, in die ihr Mahl wie in einer Tüte eingewickelt gewesen war, und strich sie sorgfältig glatt. »Bell News« war auf der oberen Zeile zu lesen.

»Man könnte zum Beispiel hier anfangen. Sieh mal«, sagte er. »Hier sind sogar ein paar Stellenanzeigen.«

Gemeinsam beugten sie sich über die Seite und studierten die eng gedruckten Anzeigen, bei denen manche Buchstaben durch das Fett etwas verschwommen waren. Hauspersonal wie Zimmermädchen und Kammerdiener wurde gesucht, aber natürlich keine Gärtner.

Nicholas sprang von der Mauer. »Ich frage den Essensverkäufer, ob er uns noch ein paar Anzeigenseiten gibt.«

Vincent sah ihn mit dem Händler reden, dann kehrte er mit einigen weiteren, in große Dreiecke geschnittenen Zeitungsseiten zurück.

»Ich musste ihm versprechen, sie zurückzugeben, wenn wir sie durchgesehen haben.«

Er reichte Vincent zwei der Zeitungsdreiecke und vertiefte sich in die Lektüre.

»Sieh mal«, stieß Vincent kurz darauf aufgeregt hervor. »Hier wird tatsächlich ein Gärtner gesucht!«

»In Kew?«

»Nein, irgendwo in – warte, hier steht es – in Cornwall. In einem Garten namens Heligan.«

»Nie gehört.« Nicholas ließ seine Seiten sinken und beugte sich mit Vincent über die Anzeige.

Stelle zu besetzen, stand dort. Gärtner zum nächstmöglichen Zeitpunkt gesucht. Muss Erfahrung und Empfehlungen früherer Arbeitgeber haben. Für Einzelheiten und Lohn bewerben Sie sich bei B. Griffin, Heligan Gardens, Pentewan R.S.O., Cornwall.

Vincent hob den Kopf. »Das hört sich doch gut an, oder nicht?«

»Sie suchen nur einen Gärtner, nicht zwei«, gab Nicholas zu bedenken.

»Wenn sie einen nehmen, nehmen sie auch zwei. Und es ist ja nicht so, dass wir keine Referenzen hätten.«

»Aber das ist in Cornwall. Bestimmt irgendwo am Ende der Welt«, sagte Nicholas. »Ich bin immer noch für Kew. Das ist viel bekannter und renommierter.«

»Und ich für Heligan«, gab Vincent zurück. Seine verstorbene Mutter stammte aus Cornwall, und auch wenn er selbst noch nie dort gewesen war, fühlte er sich der Gegend verbunden.

»Also, was machen wir? Werfen wir eine Münze?«

Das hatten sie schon oft getan, wenn es um größere oder kleinere Entscheidungen ging.

»Einverstanden.«

Nicholas kramte aus seiner Westentasche einen silbernen Shilling heraus, wog ihn kurz in der Hand, warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf und legte ihn verdeckt auf seinem linken Handrücken ab.

»Kopf für Heligan, Krone für London?«, schlug er vor.

Vincent nickte.

Nicholas nahm die Hand von der Münze. Das Abbild des kahlen, bärtigen Kopfes von König George V. lag oben.

»Also wird es Heligan«, sagte Nicholas leicht enttäuscht.