Dienstag, 9.10 Uhr, Hotel Kempinski, Istrien

»André, wir haben einen Treffer für das Herz. Weiblich, 43 Jahre alt, sportlich, Nichtraucherin, geringes Extraktionsrisiko. Die Zielperson lebt alleine und hat keine nahen Verwandten in der Stadt. Ich habe mir auch ihre privaten Profile angesehen und den Outlook-Terminplan gehackt: kein Urlaub, keine Geschäftsreise.«

»Sehr schön, Eva. Wie sieht der Extraktionsplan aus?«

»Wir nehmen die Headhunter-Masche. Die Zielperson steckt karrieretechnisch fest und wird sich gerne mit uns treffen.«

»Gut. Bitte sende mir die Daten zu dem Herz per Mail. Ich spreche sofort mit der Empfängerin, aber ich bin sicher, sie wird mit allem einverstanden sein. Du kannst mit den Vorbereitungen beginnen. Wäre doch zu schade, wenn wir Zeit verlieren und uns die Empfängerin jetzt noch verstirbt.«

Dr. med. André Keller, ein distinguierter Herr Anfang fünfzig, beendete das Gespräch, und ein paar Minuten später zeigte ein dezentes Signal den Eingang der Mail. Alles war wie erwartet. Das Herz der Zielperson passte optimal zur Empfängerin. Zeit, diese über ihr Glück zu informieren.

Nach dem dritten Läuten meldete sich eine leise, aber feste Stimme.

»Herr Dr. Keller, ich nehme an, diesmal haben Sie gute Nachrichten für mich.«

»Ja, Frau Duval, wir sind fündig geworden. Wie ich Ihnen bei unseren vorhergehenden Gesprächen bereits erklärt habe, verwenden wir ausschließlich Organe, die mit jenen der Empfänger nahezu identisch sind. Wir nennen dieses Qualitätskriterium Faktor-95-plus. Dadurch ist die Gefahr einer Abstoßung minimiert und die Immunsuppression kann wesentlich moderater ausfallen. Die Überlebensrate nach fünf Jahren liegt mit einem Faktor-95-plus Herz bei über 90 Prozent, bei einem gewöhnlichen Spenderherz bei 70, höchstens 80 Prozent.«

»Nehmen wir an, ich bin einverstanden, Herr Dr. Keller. Wie sehen die weiteren Schritte aus?«

»Nachdem der finanzielle Teil geregelt ist, kommen Sie zu mir in die Klinik. Hier machen wir die letzten Untersuchungen und bereiten Sie für die Operation vor. Parallel dazu bringen wir Ihr neues Organ in die Schweiz. Wenn Sie sich für ein Ja entscheiden, haben Sie in einer Woche ein neues Herz und in einem Monat sind Sie wieder zu Hause.«

»Zwei Millionen Euro für ein neues Herz ohne weitere Fragen?«

»Exakt, Frau Duval. Wie Sie wissen, leiden Sie an einer Herzinsuffizienz der Stufe IV. Ihre Wartezeit auf ein reguläres, oder wie ich es vorziehe zu sagen, gewöhnliches Spenderherz beträgt derzeit rund drei Jahre. Aber so lange hält Ihr altes Herz nicht mehr durch. Bei mir bekommen Sie ein neues Herz und, wenn Sie so wollen, ein neues Leben.«

»Herr Dr. Keller, reden wir nicht um den heißen Brei herum. Da draußen gibt es ein passendes Herz, aber eben nur eines. Entweder es schlägt zukünftig in meiner Brust und ich überlebe, oder es schlägt weiter in der Brust der derzeitigen Besitzerin und ich sterbe.«

»So könnte man es ausdrücken, Frau Duval, ja. Ein Mensch stirbt, damit ein anderer lebt. Die Entscheidung liegt bei Ihnen, alles andere nehme ich Ihnen ab.«

Nach einer kurzen Pause kam die Antwort.

»Einverstanden. Es ist mein Leben, das lasse ich mir nicht nehmen. Die Überweisung tätige ich sofort und morgen komme ich zu Ihnen.«

Damit war das Gespräch grußlos beendet. Dr. Keller legte die Duval-Unterlagen beiseite und richtete gedankenverloren seine Krawatte. »Jekyll-and-Hyde-Effekt«, so nannte er diesen Selbstrechtfertigungsprozess der Patienten. Vor die Entscheidung gestellt, war die Angst vor dem eigenen Tod immer größer als eventuelle moralische Skrupel gegenüber unbekannten Dritten. Ab einem gewissen Punkt betrachtete jeder von ihnen das fremde Herz als sein eigenes und den Tod eines anderen als einen Akt der Notwehr oder als zwar traurigen, aber leider erforderlichen Kollateralschaden.

Interessant waren für ihn die begleitenden Fragen. Die Politiker, mit denen er es bisher zu tun hatte, fragten immer nach der Vertraulichkeit und wollten alles über die Geheimhaltung wissen, während sich die Geschäftsleute primär um die praktischen Aspekte kümmerten, abgesehen vom Risiko und den Erfolgsaussichten. Ein Milliardär wollte alles über die Methode sowie die wissenschaftlichen Grundlagen wissen und in die Firma einsteigen, natürlich mit mehr als 50 Prozent, starb aber kurz vor der Transplantation. Ähnliche Erfahrungen hatte er mit einem Kunden aus China gemacht. Herr Xiahou wollte zwar nicht selbst ins Transplantationsgeschäft einsteigen, verfügte aber über beste Kontakte zur Kommunistischen Partei Chinas und dachte mehr an eine Art Joint Venture. Herr Xiahou bekam zwar seine neue First-Class-Niere, aber nachdem seine Geschäftspartner in Peking überraschend verhaftet wurden, zog er es vor, nicht mehr nach China zurückzukehren.

Dr. Keller richtete lächelnd seine Brille und rief Dr. Eva Vekete zurück.

»Eva, wir haben grünes Licht. Die Empfängerin wird morgen in der Klinik eintreffen und dürfte binnen 48 Stunden transplantationsbereit sein.«

»Zwei Tage, gut. Das Zürich-Team ist auf dem Weg nach München und die telefonische Kontaktaufnahme mit der Zielperson ist positiv verlaufen. Beginn der Extraktion übermorgen um 18.00 Uhr, 19.00 bis 19.30 Uhr Stabilisierung und Verladung, Zielankunft Lausanne 1.00 Uhr. Du kannst also gleich in der Nacht operieren.«

Diese kalte Effizienz seiner Mitarbeiterin und Partnerin erstaunte ihn immer wieder. Eva hatte bei ihm seinerzeit als ungarische Gaststudentin Medizin studiert und war für ihn damals nur eine von vielen gewesen. Bis zu ihrem ersten Praktikum in der Klinik. Erst dort fiel ihm auf, dass diese zierliche junge Frau mit der strengen Kurzhaarfrisur den meisten anderen Studenten fachlich weit überlegen war und bereits nach nur zwei Semestern ihr Französisch perfektioniert und zudem Schweizerdeutsch gelernt hatte. Ab diesem Zeitpunkt hatten sich zuerst ihre beruflichen und später auch ihre privaten Wege nicht mehr getrennt. Heute war Eva die zentrale Schnittstelle bei der Auffindung und Extraktion der Zielpersonen. Zwischendurch arbeitete sie zwar an der Weiterentwicklung des Faktor-95-Systems, aber im Grunde war Eva seine organisatorische sowie ausführende rechte Hand. Ohne sie wäre er heute noch ein zwar angesehener, aber, zumindest nach jetzigen Maßstäben, vergleichsweise ärmlicher Professor für Transplantationschirurgie. Wie sich die Welt ändert, wenn zwei einander ergänzende Seelen zueinander finden. Dieser Gedanke faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Er hatte für ihn nahezu etwas Mystisches.