»Gut geschlafen, Sabine?«
»Mittelmäßig. Das dritte Bier war zwar gut, aber eines zu viel.«
»Auf jeden Fall war es ein schöner Abend. Während wir Bier trinken waren, haben unsere Kollegen vom Bundesheer die Ärmel hochgekrempelt. Der Übungsangriff auf die Krankenkassa ist in vollem Gang. Rainer scheint es zu genießen. Da, nimm mein Handy und lies seine SMS.«
Bin beeindruckt! Kämpfen mit Herzblut und Steinschleudern. Um 7:50 setze ich sie schachmatt. Muss Schlaf nachholen. Die eigentliche Arbeit beginnt ja erst. Hasta la vista, R.
»Schlauer Bursche, er spielt die halbe Nacht mit ihnen und macht den Sack zu, kurz bevor die Chefetage eintrifft.«
»Ja, Sabine. Weniger erfreulich sieht es beim Bericht der Gerichtsmedizin aus.«
»Professionelle Entnahme ohne verwertbare Hinweise?«
»Genau, auch der vorläufige Bericht der Spurensicherung ist im Grunde ergebnislos. Den Faden aufnehmen können wir nur bei den Daten. Wenn uns das nicht gelingt, machen die Mörder weiter, und wir stauben alte Akten ab.«
Die Diskussion wurde durch das Signal einer eingehenden SMS unterbrochen.
Die Köder wurden angeknabbert. Finger weg vom Computer.
»Sabine, lies!«
Nach einem Blick auf die SMS erwiderte Sabine Preiss: »Es wird spannend. Bis die Kavallerie eintrifft, lass uns über etwas anderes reden. Weißt du, was Algorithmen und Big Data bedeuten?«
»Algorithmen sind mathematische Regelanweisungen, das ist mir klar, aber bei Big Data kann ich nur raten. Die Unmenge an Daten, die wir tagtäglich produzieren und die allerorts gespeichert werden. Vom täglichen Einkauf über das Handy bis zum Navi im Auto, richtig?«
»So ungefähr, ja. Aber Big Data bedeutet auch eine ganz neue Form von Datenvernetzung und Microtargeting. Die Werbung macht sich das zunehmend zunutze und die Politik ebenfalls.«
»Wir brauchen also eine Form von Microtargeting?«
»Was die Methoden und die Denkweise anbelangt, ja. Aber das ist schon fast eine eigene Wissenschaft. Meine Mathematikkenntnisse reichen dafür nicht aus.«
»Aber du hast bereits jemanden im Auge?«
»Ja, der Name tauchte beim Einschlafen auf und beim ersten Morgenkaffee am Westbahnhof habe ich diese nächtliche Eingebung überprüft.«
»Du gehst am Westbahnhof Kaffee trinken?«
»Sicher, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Mitarbeiter sind freundlich, die Qualität ist okay, und die Begleitumstände empfinde ich als Auftrag.«
»Du wartest also nur darauf, dass dich jemand schief anschaut?«
»Nein, schauen dürfen alle, wie sie wollen.«
»Das war’s aber auch schon?«
»Genau! Ich habe es als Teil meiner persönlichen Freiheit empfunden, dass ich oben ohne in jedem Freibad liegen konnte, ohne blöde Kommentare, von direkten Angriffen ganz zu schweigen. Die Gender-Religion und all die anderen Multikulti-Gesellschaftsutopien können mir gestohlen bleiben.«
»Auf den Bahnhof gehst du absichtlich, wie auf die Pirsch?«
»Ich sehe es als eine Art Erziehungsmaßnahme, aber mein Ruf scheint mir vorauszueilen. Inzwischen werde ich gemieden.«
»Heldensagen?«
»Wenn schon Heldinnen. Ach was, vergiss den Blödsinn. Ja, ich habe ein paar Typen eine Lektion erteilt, nichts Gravierendes. Nase, Kiefer, Solarplexus. Also ein wenig Blut, Schmerzen beim Kauen und vorübergehende Atemnot.«
»In dir steckt eine unglaubliche Wut.«
»Nicht nur in mir. Frag dich, was die Kollegen auf Streife jeden Tag mitmachen.«
Lächelnd sah Michael Lenhart seine Kollegin an.
»Trotzdem, ich habe dich gestern zum Abschied umarmt und auf die Wange geküsst. Habe ich nur Glück gehabt?«
»Nur Glück sicher nicht, obwohl, wenn ich es recht bedenke: Eine Umarmung und einen, wohlgemerkt freundschaftlichen, Kuss von mir kann man sicherlich als Glück werten. Das war’s, Themenwechsel.«
»Sabine, ich halte dich für eine in jeder Hinsicht tolle Frau und bin froh, dich als Partnerin zu haben, aber eines ist sicher: Du fällst komplett aus der Reihe.«
»Danke für das Kompliment, gleichfalls. Ich pfeife einfach auf den verordneten, also verlogenen Konsens und folge meiner Überzeugung.«
»Kennst du Aristoteles?«
»Dem Namen nach, aber verschone mich mit einer deiner Philosophie-Vorlesungen. Zurück an die Arbeit, Sherlock.«
»Sehr wohl, Artemis, zurück zu den Daten. Du willst einen freischaffenden Mathematiker und Datenspezialisten ins Boot holen?«
»Ja, aber ich befürchte, der Fritsch wird nicht begeistert sein.«
»Warum, ist er bei der falschen Partei oder, Gott behüte, Raucher?«
»Keine Ahnung. Sie verrechnet einen Tagessatz von 5000 Euro plus Spesen und ist erst 23 oder 24 Jahre alt.«
»Nicht schlecht, und sie ist verfügbar?«
»Ja, im Moment ist sie zu Hause in Lech am Arlberg Ski fahren, aber sie könnte morgen in Wien sein, vorausgesetzt, wir buchen sie für mindestens drei Tage.«
Die Türklingel unterbrach ihr Gespräch.
»Wir werden es bald herausfinden. Da steht entweder das Bundesheer oder der Fritsch vor der Tür.«
»Guten Morgen, Herr Hauptmann, so schnell sieht man sich wieder.«
»Ja, schneller als gedacht. Guten Morgen, Oberst Hoyos, servus, Rainer! Gratulation zum Angriff auf die Krankenkassa.«
»Danke, wie versprochen habe ich ihnen nur einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Als wir abbrachen, wollten die dortigen Administratoren mutig unsere Spuren verfolgen. Engagierter Versuch, aber sinnlos. Wir haben sie in zwei Sackgassen geführt: Eine Serveranlage in Monrovia, Liberia, und einen Mailanbieter in der Türkei. Aber das ist nicht der Grund unseres Besuches.«
»Ich weiß, du solltest eigentlich ein wenig Schlaf nachholen.«
»Das werde ich auch, aber jemand hat sich an eure Computer herangepirscht, das soll euch Oberst Hoyos erklären.«
»Gerne. Wir haben im Zuge unserer Aufklärungs- und Säuberungsmaßnahmen auch ein paar elektronische Köder und Fallen ausgelegt, um zu sehen, ob sich jemand für den D-Trakt interessiert, und das ist seit heute, 7.28 Uhr, der Fall. Wir können nicht sagen, woher der Lauschangriff kommt, aber wir wissen, dass jemand versucht, alles, was elektronisch raus- oder hereinkommt, zu kopieren.«
»Verstehe ich das richtig? Kein Angriff, sondern ein heimlicher Lauscher?«
»Exakt, Herr Hauptmann. Professionell gemacht und ohne erkennbare Handschrift. Wir können beim besten Willen nicht sagen, mit wem wir es hier zu tun haben.«
»Können Sie abschätzen, ob dieser stille Lauscher von Ihren Abwehrmaßnahmen weiß?«
»Extrem unwahrscheinlich.«
»Heißt das, dass derjenige alles mitbekommt? Jeden Tastenanschlag, jede aufgerufene Seite?«
»Im Moment nicht. Es ist keine totale Überwachung, sondern mehr eine Art Beobachtung, Wie gesagt: alles, was rein- und rausgeht. Aber wir werden sicherheitshalber die Kameras und die Mikrofone der Laptops mechanisch deaktivieren.«
»Interessant, dann sollten wir diesen Umstand nutzen und eine falsche Fährte legen.«
»Du willst ihnen den ahnungslosen Polizisten vorspielen, der alte Fälle bearbeitet, Michael?«
»Richtig. Aber dazu brauchen wir Verstärkung, Fritsch?«
»Ja, Fritsch! Ich nehme an, der Herr Brigadier wird uns bald beehren.«
Oberst Hoyos war mit seinen Ausführungen noch nicht fertig.
»Herr Hauptmann, Sabine, ihr braucht noch mehr und hier können wir euch gerne aushelfen. Wir statten euch mit abhörsicheren Mobiltelefonen und ebenso abgeschirmten Laptops aus. Ich komme am Vormittag nochmals persönlich vorbei und bringe die Ausrüstung. Bis dahin dürfen wir uns empfehlen.«
»Danke, Herr Oberst und du, Rainer, schlaf gut und schnell! Jetzt geht’s erst richtig los.«
»Ich weiß, der einzige leichte Tag war gestern, oder so ähnlich.«
Nachdem die beiden Bundesheeroffiziere die Computer manipuliert und sich verabschiedet hatten, ging Lenhart in sein Büro und kam mit einem Stapel Papier zurück.
»Sabine, das dürfte der erste Teil unserer Ablenkungs- und Beschäftigungstherapie werden.«
»Das EXCEL-süchtige EU-Papier?«
»Exakt. Zeit, eine echte Bürokratenmail zu verfassen.«
»Kannst du so etwas, bei deiner Formalismen- und Berichtsallergie?«
»Lass dich überraschen, dauert nicht lange.«
Wenige Minuten später ging folgende Mail nach Brüssel:
Sehr geehrter Herr Lambert,
mein Vorgesetzter, Brigadier Fritsch (cc), hat mir Ihr Arbeitspapier zur Bearbeitung, Klassifizierung und Vernetzung ungeklärter Fälle zukommen lassen. Zusammen mit meiner Kollegin, Leutnant Sabine Preiss, bilden wir seit einigen Tagen die neu gegründete Abteilung für Sonderfälle. Im Moment sind wir noch mit organisatorischen Aufgaben, der Entwicklung interner Informations- und Arbeitsabläufe sowie der Koordination mit den jeweiligen Landespolizeidirektionen beschäftigt, doch wir sind zuversichtlich, Ihnen bis Ende des Monats einen vorläufigen Statusbericht liefern zu können. Soweit es die knappen Ressourcen zulassen, werden wir versuchen, Ihnen die ersten Fälle inklusive der in Ihrem Arbeitspapier angeführten Kennwerte möglichst zeitnah zukommen zu lassen. Mit kollegialen Grüßen nach Brüssel. Hauptmann Michael Lenhart.
PS: Da die räumliche Situierung noch nicht endgültig entschieden ist, sind wir im Moment nur per Mail erreichbar.
»Damit sollte Brüssel vorerst ruhiggestellt sein. Jetzt zum Fritsch. Wir müssen in die Gänge kommen.«
Zehn Minuten später kam Brigadier Fritsch in den D-Trakt.
»Lenhart, Preiss, guten Morgen! Die Geschichte mit der Krankenkassa scheint ein voller Erfolg zu sein. Sowohl der Generaldirektor als auch die Obfrau haben bei Ministerin Mannlicher angerufen. Sie meinen, einen Angriff erfolgreich abgewehrt zu haben, möchten aber trotzdem Unterstützung von der Cyber-Abwehr. In einer Stunde findet eine Dringlichkeitssitzung mit Generalmajor Kollnig, der Ministerin, den Spitzen der Krankenkassa und mir statt. Und bevor Sie mir wieder mit Aristoteles und Metaphern kommen, Lenhart: vom Lauschangriff auf den D-Trakt wurde ich bereits unterrichtet. Also, wie geht es nun weiter? Wie sieht Ihr Plan aus?«
»Leutnant Preiss und ich haben einen zumindest zweiteiligen Plan ausgearbeitet. Teil eins betrifft unsere stillen Lauscher und Gegner sowie den offiziellen EU-Auftrag, also die alten Fälle. Hier werden wir brav von 9.00 bis 16.30 Uhr alte Akten wälzen und die Daten nach Brüssel weiterreichen. Teil zwei: Wir bekommen vonseiten des Bundesheeres neue Mobiltelefone und Computer und werden die Organmafia jagen. Wenn alles klappt, haben wir in ein paar Stunden eine Kopie sämtlicher Gesundheitsdaten auf den Bundesheerservern in Neulengbach. Dr. Pauli hat uns seine Unterstützung bereits zugesichert. Aber was den technisch-mathematischen Bereich betrifft, sind wir auf Hilfe von außen angewiesen. Sabine, das ist dein Part.«
Brigadier Fritsch kam Sabine Preiss zuvor.
»Einverstanden, der Plan gefällt mir, und bekanntlich ist der Anfang die Hälfte des Ganzen. Aber Sie brauchen Verstärkung! Sie können nicht gleichzeitig diese Verbrecher jagen, falsche Fährten legen und den Bürohengst spielen. Aber damit habe ich gerechnet und schon jemanden im Kopf. Dieser Kollege ist ausgesprochen geschickt am Computer und ein Meister der Bürokratie.«
»Herr Brigadier, wir kennen den Kollegen noch nicht, aber danke. Sabine, bitte.«
»Es geht um die Datenanalyse. Um uns in das Denken der Täter zu versetzen, müssen wir deren Methoden kennen, müssen wissen, wie sie aus auf den ersten Blick unverfänglichen medizinischen Daten transplantationsrelevante machen, und dafür brauchen wir Martina Hairer.«
»Und wer in Gottes Namen ist das?«
»Wenn ich jetzt sage, die Tochter von Gerhard Hairer und die Enkelin von Wilhelm Hairer, wird Ihnen das nichts sagen, aber sie ist eine von den wahrscheinlich fünf oder allenfalls zehn Menschen, die derartige Berechnungen rasch durchführen können. Ich, mit meinem Master in Mathematik, kann es nicht.«
»Sie wollen also irgendein Mathegenie bei einer derart sensiblen Sache als Berater engagieren?«
»Nein, kein Wunderkind, sondern den besten Profi, den ich kriegen kann, und nicht als Beraterin, sondern als Mitarbeiterin.«
»Wer sagt mir, dass diese Frau Hairer tatsächlich so gut ist und nicht sofort auf Twitter plaudert?«
Leutnant Preiss nahm diese im Grunde billige Provokation von Brigadier Fritsch innerlich kochend, aber nach außen ruhig hin.
»Herr Brigadier, kennen Sie Michal Kosinski, Antworten Sie nicht, Ihre Mimik sagt Nein. Wissen Sie, was Microtargeting ist, ebenfalls Nein, Big Data, Nein, den Skandal um die Firma Cambridge Analytica, Nein. Sagen Sie weiterhin nichts: Frau Hairer hat im Rahmen ihrer Dissertation mit damals 21 Jahren ein mathematisches Modell entwickelt, das auf der Basis von nur 52 Facebook-Likes mit einer Genauigkeit von 99,3-Prozent Hautfarbe, Geschlecht, Parteipräferenz, Alkoholkonsum und Familiensituation sowie 37 andere Parameter voraussagt. Die Frau ist die beste ihres Faches, fährt im Moment am Arlberg Ski und ist für 5000 Euro pro Tag plus Spesen zu haben. Ohne sie geht es nicht.«
»Was auch immer sie fachlich sagen. Aber 5000 Euro pro Tag, unmöglich! Derartige externe Aufträge müssen wir ausschreiben. Da gibt es Richtlinien. Von der Geheimhaltung ganz zu schweigen.«
»Diese Verbrecher halten sich an keine Ausschreibungen. Herr Brigadier, ich bin eine glühende Verfechterin klarer Regeln und bestehe auf der Einhaltung von Verträgen. Aber hier geht es nicht um Ausschreibungsrichtlinien, sondern um Gefahr in Verzug. Das ist Ihre Verantwortung, Herr Brigadier.«
Nach einigen Sekunden des Nachdenkens erwiderte Brigadier Fritsch: »Es kann mich zwar den Kopf kosten, bekanntlich stolpert man ja oft über Kleinigkeiten, aber wenn zig Millionen tagtäglich für irgendeinen Schwachsinn verbrannt werden, weil ein Politiker meint, sich profilieren zu müssen, dann sollen mir ein paar Tausend für diese Verbrecher recht ein. Ich hoffe, ich kann mich auf Sie und Ihr Mathematikgenie verlassen.«
Sabine Preiss hielt Brigadier Fritsch einen Zettel hin und antwortete mit frostiger Stimme: »Wenn ich mich irre, quittiere ich den Dienst. Hier ist ihre Nummer. Rufen Sie von einem sicheren Anschluss aus an und erteilen sie ihr den Auftrag. Wir holen dann Frau Hairer vom Bahnhof oder Flughafen ab und fahren mit ihr nach Neulengbach, vorausgesetzt, Sie vermasseln das Gespräch mit der Krankenkassa nicht.«
»Diese Spitze Ihrerseits habe ich mir wohl verdient. Einverstanden. Lenhart, Preiss, wenn Sie sonst keine Wünsche mehr haben, kann ich mich nun wieder meiner eigentlichen Arbeit widmen. Sie hören von mir nach der Besprechung mit der Krankenkassa.«
Damit waren sie wieder alleine im D-Trakt. Michael Lenhart stellte seine Kaffeetasse ab und stand auf.
»Sabine, lass uns gehen.«
»Wohin?«
»Denken. Beim Gehen denkt es sich am besten. Außerdem müssen wir noch zu Dr. Pauli. Er weiß noch nicht, dass wir sein Angebot annehmen und er die nächsten Tage in einem Bunker verbringen wird.«