Dienstag, 5.00 Uhr, Abwinkl, Tegernsee

»Guten Morgen, Michael. In der Thermoskanne ist Kaffee und in der Tasche etwas zum Essen. Ich hoffe, du bist kein Veganer, bei mir gibt’s Brote mit Herrenwurst, Weißlacker Bierkäse und gekochte Eier.«

»Keine Sorge, ich bin Allesesser. Danke fürs Frühstück. Vorerst reicht mir der Kaffee. Kann ich dir mit dem Boot helfen?«

»Nein, ich mache das fast jeden Tag. Ich bin es so gewohnt.«

Während Michael Lenhart seinen Kaffee trank, beobachtete er, wie Markus Friedl mit geübten Handgriffen die Angelausrüstung verstaute und das Motorboot startklar machte. Minuten später fuhren sie schweigend über den spiegelglatten Tegernsee in Richtung Gmund. Auf Höhe von Bad Wiessee stoppte Markus Friedl den Elektromotor, nahm eine der Angeln, ließ einen Kunststoffköder mit zwei Dreifachhaken hinter dem Boot ins Wasser gleiten und übergab Michael Lenhart die Angelrute. Anschließend fuhr er mit gleichmäßigem Tempo in Ufernähe weiter.

»Du musst nichts tun. Hier beginnen wir mit dem Schleppfischen.«

»Ich wusste nicht, dass man Fische mit Plastik fangen kann.«

»Das ist ein Wobbler, der imitiert die Schwingungen eines Fisches und sieht für einen Hecht recht verlockend aus. Es ist zwar erst März, aber es wäre nicht der erste, den ich mit so einem Plastikteil fange.«

»Also ist der Hecht ein Raubfisch. Ich kenne ihn nur als Filet.«

»Richtig kombiniert, der größte Raubfisch in diesem See. Schnell, dumm und gefräßig.«

»Mir schmeckt er, ob schnell oder langsam. Aber deine Charakterisierung gefällt mir.«

»Du weißt nicht, wie ein Hecht in natura aussieht?«

»Nein, ich kenne nur die Tellervariante.«

»Wie ein Torpedo mit Zähnen vorne und drei Flossen hinten.«

»Klingt nach warten, zuschlagen, fressen. Und wie groß werden Hechte?«

»Mein größter war einen Meter zwanzig, ein Weibchen. Die Männchen werden höchstens einen Meter lang und manchmal nach der Paarung von den Weibchen gefressen.«

»Interessant, wie bei der Schwarzen Witwe. Zuerst kämpft man um die Weitergabe der eigenen DNA und anschließend fördert man die Nachkommenschaft als Proteinquelle. Effizienz, aber nicht unbedingt romantisch.«

»Romantisch sind Märchen, vielleicht Augenblicke, nicht das Leben.«

»Höre ich da eine gewisse Verbitterung? Vielleicht jene eines zwangspensionierten Polizisten?«

»Nenne es ruhig Verbitterung. Ich nenne es Erfahrung.«

»Einverstanden, Erfahrung. Also, in medias res!«

»Das kennen wir auch in Bayern. Ich würde es mit ›koa Gschwofl‹ übersetzen.«

»Die Zusammenfassung: Wir haben durch Zufall eine Leiche gefunden, ohne Leber. Jetzt jagen wir eine international tätige Organmafia. Meine Kollegin sitzt im Augenblick unter zig Meter Fels und Beton in einem Bundesheerbunker und brütet mit einem Mathematikgenie über medizinischen Daten, während die Ministerin uns derzeit noch den Rücken frei hält und meine Strafabteilung nach allen Regeln der Kunst in eine Festung verwandelt wird.«

Lächelnd erwiderte Markus Friedl: »Hast du Hobbys? Wenn nicht, solltest du dir welche zulegen.«

»Kein Anglerlatein, so war es ausgemacht.«

»So war es auch nicht gemeint. Ich habe über ein Jahr lang die einschlägigen Fälle gesammelt, klassifiziert, Gutachten eingeholt und wirklich jede denkbare Variante geprüft und wieder gegengeprüft. Am Ende war der Bericht absolut hieb- und stichfest. Mein Vorgesetzter nahm ihn und wurde überraschend befördert, allerdings in eine andere Abteilung und ins Saarland. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich hingegen bekam eines Morgens Besuch vom BND. Es wäre nun so etwas wie eine Frage der nationalen Sicherheit und sie würden übernehmen. Freundlich ließ man mir die Wahl zwischen Zuckerbrot und Peitsche.«

»Du hast die Peitsche gewählt?«

»Ich habe einen Eid geschworen, primär mir selbst gegenüber, das wurde mir in diesem Augenblick bewusst, und ja, ich habe die Peitsche gewählt. Wenn der BND Mordermittlungen in Deutschland übernimmt, dann stinkt die Sache kilometerweit gegen den Wind.«

»Wie kommt es dann, dass wir hier friedlich am Tegernsee in deinem Boot beim Hechtfischen sitzen?«

»Als mir klar wurde, bis in welche Kreise diese Organmafia reicht, habe ich mir die eine oder andere Versicherungspolice ausgestellt und nebenbei weiter ermittelt. Bis man mich aufs Abstellgleis verbannte.«

»Soll ich das als eine Warnung verstehen?«

»Ja! Du und deine Kollegin, ihr habt es da mit Leuten zu tun, für die Menschen höchstens Schachfiguren sind. Politik eben, oder nein. Das sind vielmehr diejenigen, die mit der Politik spielen, die sich Abgeordnete und Minister als Lakaien halten.«

»Klingt pessimistisch, um nicht zu sagen fatalistisch, Markus.«

»Nein, realistisch. Ich stehe nach wie vor unter Beobachtung und bin mir sicher, auch mein Computer und mein Mobiltelefon werden überwacht, zumindest jene, von denen der BND weiß. Sie machen es zu auffällig. So, als wollten sie sagen: Wir behalten dich im Auge.«

»Daher auch der Ausflug zum Angeln?«

»Ja, ich habe mein Mobiltelefon nicht mit, und deines wird wahrscheinlich nicht abgehört, noch nicht.«

»Bei jedem anderen würde ich jetzt an Paranoia denken.«

»Verständlich, aber ich sitze hier, als mehrfach ausgezeichneter Kriminalist und Sieger nationaler und internationaler Polizeisportveranstaltungen. Trotzdem wurde ich wegen Herzinsuffizienz mit zweiundvierzig Jahren in Rente geschickt, wohlgemerkt ohne ärztliche Untersuchung. So demonstrieren die ihre Macht.«

»Abgesehen von dem Rat zur Vorsicht, hast du sonst noch etwas für mich?«

»Du meinst es ernst?«

»Ja! Mag sein, dass mich manche für verbohrt halten. Ich betrachte es als eine Frage der Selbstachtung und Konsequenz.«

Markus Friedl musterte seinen Kollegen eingehend, bevor er antwortete.

»Du ohrfeigst Vorgesetzte, bist nicht verheiratet und hast einen Doktor in Philosophie. Du siehst, ich habe mich am Abend noch ein wenig schlaugemacht. Ich würde dich als jemanden mit hoher Kompetenz und geringem kollateralen Risiko einstufen.«

»Eine kühle, aber zutreffende Einschätzung. Ich bin privat nicht erpressbar, und sollte mir etwas zustoßen, gibt es weder eine trauernde Witwe noch Waisen.«

»Also gut, nimm dir das unterste Brot und sei beim Kauen vorsichtig. Es steckt ein USB-Stick darin. Aus Gründen meiner eigenen Sicherheit kann ich dir nicht mehr geben, aber diese Daten sollten deine Ermittlungen ein wenig beschleunigen. Außerdem findest du ein paar Ideen zur Geografie.«

»Danke, Markus. Ich werde vorsichtig abbeißen und gründlich kauen. Zur Geografie: Auf der Fahrt zu dir hat sich in meinen grauen Zellen eine Idee festgesetzt und die lautet Schweiz. Die Operationsbasis liegt in der Schweiz. Lange Tradition im Bereich privater Medizin- und Finanzdienstleistungen, zentrale Lage, keine Grenzkontrollen, hoher Internationalisierungsgrad.«

Während Michael Lenhart seine Überlegungen weiter ausführte, griff Markus Friedl an seinen Gürtel und warf einen Blick auf ein kleines Plastikkästchen.

»Wie ich sehe, habe ich mich in dir nicht getäuscht, Gratulation! Ich habe dafür wesentlich länger gebraucht. Für dich endet jedoch unser Angelausflug beim nächsten Steg.«

»Ein Alarm in deinem Haus?«

»Ja, im Garten. Ich habe die Alarmanlage mit einem kleinen Sender ausgestattet. Diese Art von Funktechnik ist zwar veraltet, aber dafür kommt sie ohne Mobilfunksystem aus. Gut für mich, schlecht für Big Brother. Anscheinend geben die Schlapphüte ein Lebenszeichen von sich, und es ist besser, wenn sie dich nicht zu Gesicht bekommen.«

»Wie gründlich sind die Kollegen vom BND? Mein Wagen steht noch beim Landhaus Strobl.«

»So wichtig bin ich nicht. Bis jetzt kam immer nur ein Zweierteam. Andererseits könntest du recht haben. Gib mir dein Handy, ich habe eine Idee.«

Michael Lenhart gab ihm sein Telefon und hörte kurze Zeit später einen Dialog in tiefstem Bairisch. Es klang wie eine unbekannte Fremdsprache, doch »Weana Mischtwogn«, »Nummerndofe«, »vaschwindn«, »schnei« und »es pressiert« waren auch für ihn verständlich.

»Hier, dein Telefon. Die Nummerntafeln von deinem Wagen hat der Sepp, der Wirt vom Landhaus Strobl. Sollten die tatsächlich die fremden Autos im Visier haben, müssen sie jetzt mit den Sensoren an den Autobahnen vorliebnehmen.«

»Danke. Du hast recht, heutzutage kann man aufpassen, wie man will, man zieht immer einen Kometenschweif an Daten hinter sich her. Wir sind gleich am Steg. Wie komme ich zurück nach Abwinkl? Wir sind ja fast auf der anderen Seite und ich will nicht schwimmen.«

»Mit dem Taxi von der Brauer Agnes. Die Telefonnummer findest du im Internet. Tue so, als hättest du eine amouröse Nacht hinter dir. Die Agnes kann sich zwar keine Gesichter merken, aber dafür schmückt sie jede Geschichte derartig aus, dass selbst der selige Karl May noch rot würde.«

»Ich werde mein Möglichstes tun. Danke für alles.«

»Schau, dass du sie erwischt und nicht umgekehrt. Ois Guade!«

Am Steg blickte Michael Lenhart seinem Kollegen kurz nach, bevor er sich auf die Suche nach dem Taxi der Agnes Brauer machte.