Kapitel 2
Amari
Vater hat immer gesagt, Orïsha warte auf niemanden.
Auf keinen Mann.
Auf keinen König.
Mit diesen Worten rechtfertigte er alles, was er tat. Es war seine Ausrede, um sich alles herauszunehmen.
Während der Sarg im Wasser vor uns brennt, zieht das Schwert, das ich in die Brust meines Vaters stieß, meinen Gürtel nach unten. Sarans Körper wurde nicht aus dem Tempel geborgen.
Selbst wenn ich ihn beerdigen wollte, könnte ich es nicht.
»Wir gehen besser«, sagt Tzain. »Die Nachricht von deiner Mutter wird bald eintreffen.«
Wir verlassen das Ufer und gehen an Bord des Kriegsschiffs, das wir damals in unsere Gewalt brachten, um zum Tempel zu gelangen. Ich lasse mich einige Schritte hinter Tzain und Zélie zurückfallen. Das eiserne Schiff ist unser Zuhause, seitdem wir vor ein paar Wochen die Magie zurückgebracht haben, dennoch machen mich die Schneeleopardessen an seinem Rumpf bis heute nervös. Jedes Mal, wenn ich an Vaters altem Wappentier vorbeikomme, weiß ich nicht, ob ich weinen oder schreien soll. Ich weiß nicht, ob ich etwas empfinden darf.
»Alle an Bord!«, ruft ein Kapitän mit gellender Stimme.
Ich schaue mich um. Am Kai stehen Familien Schlange und
geben ihre Goldstücke ab, um auf ein kleines Handelsschiff steigen zu dürfen. Unter seinem verrosteten Deck drängen sich Menschen, die Orïshas Grenzen entfliehen und jenseits fremder Gewässer Frieden finden wollen. Bei jedem eingefallenen Gesicht, das ich sehe, quälen mich neue Schuldgefühle. Während ich meine Wunden pflege und gesund werde, leidet das gesamte Königreich unter den Grausamkeiten meines Vaters.
Ich kann mich nicht länger verstecken. Ich muss meinen Platz auf Orïshas Thron einnehmen. Ich bin die Einzige, die das Land in ein Zeitalter des Friedens führen kann. Ich kann die Königin sein, die alles wiedergutmacht, was mein Vater zerstört hat.
Diese Überzeugung wärmt mir das Herz ein wenig. Ich geselle mich zu den anderen in der eiskalten Kapitänskammer. Sie ist einer der wenigen Räume auf dem Schiff, der frei von Majazit ist, dem besonderen Metall, mit dessen Hilfe die Monarchie die Maji tötete und ihre Kräfte neutralisierte. Jegliche Annehmlichkeiten, die sich einmal in diesem Raum befanden, haben wir verkauft, um uns zu ernähren.
Tzain sitzt auf dem nackten Bett und kratzt die letzten Reiskörner aus einem Zinnbecher. Zélie liegt auf dem Metallboden, halb verdeckt vom goldenen Fell ihrer Löwenesse Nailah. Das riesige Tier ruht auf ihrem Schoß und hebt den Kopf, um die aus Zélies silbernen Augen rinnenden Tränen abzulecken. Ich sehe zur Seite und greife nach meiner eigenen mageren Ration Reis.
»Hier.« Ich reiche Tzain den Becher.
»Willst du wirklich nicht?«
»Ich bin zu nervös zum Essen«, antworte ich. »Wahrscheinlich würde ich alles sofort wieder erbrechen.«
Erst vor einem halben Mond habe ich eine Nachricht an
Mutter in Lagos geschickt, auch wenn es mir vorkommt, als wartete ich schon eine halbe Ewigkeit auf ihre Antwort. Mit ihrer Unterstützung könnte ich den Thron von Orïsha besteigen. Dann könnte ich die Gräueltaten meines Vaters endlich wiedergutmachen. Gemeinsam mit ihr könnte ich ein Land schaffen, in dem die Maji nicht mehr in Angst leben müssten. Wir könnten die Differenzen beseitigen, die Orïsha seit Jahrhunderten lähmen, und das Königreich einen.
»Keine Sorge.« Tzain drückt meine Schulter. »Egal, was sie sagt, wir machen das schon.«
Er reckt sich, um nach Zélie zu schauen. Meine Brust zieht sich zusammen. Ich hasse diesen Teil von mir, der den beiden das neidet, was sie verbindet. Erst drei Wochen sind vergangen, seit der Dolch meines Vaters sich in den Bauch meines Bruders bohrte, und doch vergesse ich schon allmählich den tiefen Klang von Inans Stimme. Jedes Mal, wenn mir das bewusst wird, beiße ich die Zähne aufeinander und behalte mein Leid für mich. Vielleicht kann das klaffende Loch in meinem Herzen heilen, wenn Mutter und ich uns wiedertreffen.
»Da kommt die Nachricht.« Zélie weist auf eine Gestalt, die durch die dunklen Gänge des Schiffs auf uns zukommt. Als der Bote durch die angelaufene Metalltür tritt, erstarre ich. Es ist Roën. Er schüttelt den Regen aus seinen schwarzen Haaren. Die seidigen Strähnen fallen in Wellen auf seinen markanten Kiefer. Mit einer Haut wie Wüstensand und Augen so grau wie Tränen wirkt der Söldner in einem Raum voller Orïshaner fehl am Platz.
»Nailah?«
Roën kniet sich hin und holt ein großes Päckchen aus seinem Rucksack. Die Löwenesse spitzt die Ohren und wirft Roën fast um, als er die Schnüre löst und schimmernde Fische zum
Vorschein kommen. Ich wundere mich zu sehen, dass ein leises Lächeln seinen Weg auf Zélies Lippen findet.
»Danke«, flüstert sie.
Roën nickt und hält ihren Blick länger als nötig wäre. Ich muss mich räuspern, damit er sich erhebt und an mich wendet.
»Heraus damit!«, sage ich seufzend. »Was hat sie gesagt?«
Roën drückt die Zunge von innen gegen die Wange und blickt zu Boden. »Der Palast wurde angegriffen. Kein Wort dringt in oder aus der Hauptstadt.«
Bei der Vorstellung, dass Mutter allein im Palast ist, zieht sich alles in meiner Brust zusammen. »Ein Angriff? Wie kann das sein?« Ich stehe auf. »Wann? Warum?«
»Es waren Maji, die sich Iyika
nennen«, erklärt Roën. »Das heißt ›Revolution‹. Sie haben Lagos gestürmt, kaum dass sie ihre Kräfte zurückhatten. Angeblich sind sie direkt zum Palast vorgestoßen.«
Ich lehne mich gegen die Wand und rutsche nach unten auf die Eisenplatten. Roën spricht weiter, aber ich bekomme nichts mehr mit. Meine Ohren sind taub.
»Die Königin«, bringe ich hervor. »Wurde sie … ist sie …«
»Niemand hat von ihr gehört.« Roën wendet den Blick ab. »Da du dich hier versteckt hältst, glauben die Leute, dass die königliche Linie ausgelöscht ist.«
Tzain steht auf, doch ich hebe die Hand, damit er nicht näher kommt. Wenn er sich nur zu mir stellt, breche ich zusammen. Dann verliere ich vollkommen die Fassung. Jeder Plan, den ich geschmiedet hatte, jede Hoffnung, die ich je hegte – alles innerhalb von Sekunden ausgelöscht. Wenn Mutter tot ist …
Ihr Himmel!
Ich bin wirklich völlig allein.
»Was wollen diese Iyika denn?«, fragt Tzain.
»Das ist schwer zu sagen«, erwidert Roën. »Es sind nicht viele, aber sie sind brandgefährlich. Sie haben in ganz Orïsha Adlige ermordet.«
»Das heißt, sie haben es auf königliches Blut abgesehen?« Zélie zieht die Augenbrauen zusammen. Unsere Blicke treffen sich. Seit das Ritual anders lief als beabsichtigt, haben wir kaum miteinander gesprochen. Ich freue mich, dass ich ihr nicht egal bin.
»Sieht so aus.« Roën zuckt mit den Schultern. »Wegen der Iyika jagt das Militär die Maji wie Hunde. Ganze Dörfer werden ausradiert. Der neue Admiral hat praktisch den Kriegszustand ausgerufen.«
Ich schließe die Augen und streiche über die Wellen in meinem Haar. Beim letzten Krieg in Orïsha haben Flammentänzer die königliche Blutlinie fast ausgelöscht. Jahre später schlug Vater mit der Blutnacht zurück. Wenn wieder Krieg ausbricht, wird niemand mehr sicher sein. Dann wird das Königreich sich selbst in Stücke reißen.
Orïsha wartet auf niemanden, Amari.
Vaters geisterhafte Stimme hallt durch meinen Kopf. Ich bohrte ihm das Schwert in die Brust, um Orïsha von seiner Tyrannei zu befreien, und jetzt versinkt das Königreich im Chaos. Es bleibt keine Zeit zum Trauern. Um meine Tränen zu trocknen. Ich habe geschworen, eine bessere Königin zu sein.
Wenn Mutter wirklich tot sein sollte, ist nun die Zeit gekommen, meinen Schwur zu erfüllen.
»Ich werde mich an die Öffentlichkeit wenden«, beschließe ich. »Ich werde das Königreich übernehmen, ihm wieder Stabilität geben und diesen Krieg beenden.« Ich stehe auf und verdränge meinen Kummer, um mich der neuen Aufgabe zu stellen.
»Roën, ich weiß, dass ich bei dir in der Schuld stehe, aber wenn ich dich noch einmal um deine Hilfe bitten könnte …«
»Das soll wohl ein Witz sein.« Die Stimme des Söldners ist bar jeden Mitgefühls. »Selbst wenn ich deine Mutter nicht angetroffen habe, schuldest du mir mein eigenes Gewicht in Gold.«
»Du hast dieses Schiff von mir bekommen!«, rufe ich.
»Das Schiff, auf dem ihr herumhockt?« Roën zieht eine Augenbraue hoch. »Das Schiff, das meine Männer und ich überfallen haben? Zig Familien warten darauf, dass ich ihnen zur Flucht übers Meer verhelfe. Dieses Schiff ist keine Bezahlung. Es treibt den Preis in die Höhe, den du mir schuldest!«
»Wenn ich auf dem Thron bin, habe ich Zugang zu den königlichen Schatzkammern«, erkläre ich. »Hilf mir, eine große feierliche Verkündigung zu veranstalten, dann zahle ich dir das Doppelte von dem, was ich dir schulde. Nur noch ein paar Tage, und das Gold gehört dir!«
»Ich gebe euch noch eine Nacht.« Roën schlägt die Kapuze seines Umhangs über den Kopf. »Morgen setzt dieses Schiff die Segel. Wenn ihr dann noch nicht runter seid, schmeiß ich euch ins Wasser. Ihr könnt euch den Fahrpreis nicht leisten.«
Ich will ihm den Weg versperren, doch er stürmt an mir vorbei nach draußen. Seine Schritte werden vom Regen verschluckt. Die Trauer, die ich zu verdrängen suche, droht hervorzubrechen.
»Wir brauchen ihn nicht.« Tzain kommt zu mir. »Du kannst den Thron auch ohne seine Hilfe besteigen.«
»Ich besitze kein einziges Goldstück mehr. Wie soll ich irgendjemanden überzeugen, dass ich einen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron habe?«
Tzain überlegt und macht einen Schritt nach hinten, als sich Nailah zwischen uns drängt. Mit ihrer feuchten Schnauze
schnüffelt sie den Boden ab, sucht Reste von Fischfleisch. Ich denke an das Essen, das Roën ihr mitgebracht hat, und schaue zu Zélie hinüber. Sie schüttelt den Kopf.
»Er hat nein gesagt.«
»Ja, weil ich
ihn gefragt habe!« Ich knie mich vor sie. »Du hast ihn überzeugt, mit seiner Mannschaft zu einer Insel irgendwo im Meer zu fahren, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Du kannst ihn auch überreden, uns bei der Organisation einer Kundgebung zu helfen.«
»Wir sind ihm bereits eine Menge Gold schuldig«, entgegnet Zélie. »Wir können schon von Glück sagen, wenn wir Jimeta mit dem Kopf auf den Schultern verlassen dürfen.«
»Welche Chance haben wir denn ohne seine Hilfe?«, frage ich. »Wenn Lagos von den Iyika gestürmt wurde, dann ist Orïsha seit fast einem Mond ohne Herrscher. Wenn ich jetzt nicht die Herrschaft übernehme, werde ich den Thron niemals besteigen!«
Zélie reibt sich den Nacken, ihre Finger fahren über die neuen goldenen Zeichen auf ihrer Haut. Es sind alte, überlieferte Symbole, die nach dem Ritual bei ihr auftauchten. Jede geschwungene Linie und jeder Punkt glänzt wie mit einer winzig kleinen Nadel gestochen. Obwohl die Zeichen wunderschön sind, verdeckt Zélie sie. So wie ihre Narben. Sie schämt sich dafür.
Als ob ihr allein der Anblick Schmerzen bereite.
»Zélie, bitte!«, flehe ich sie an. »Wir müssen es versuchen. Das Militär jagt die Maji …«
»Ich kann nicht für alle Zeiten die Not meines Volks schultern.«
Ihre Gefühlskälte trifft mich unvorbereitet, doch ich gebe nicht auf. »Dann tu es für Baba. Tu es, weil er sein Leben für diese Sache geopfert hat.«
Zélie schließt die Augen und atmet tief durch. Als sie nickt, fällt eine Last von meinen Schultern.
»Ich kann nichts versprechen.«
»Versuch es einfach.« Ich lege meine Hand auf ihre. »Wir haben viel zu viel geopfert, um diesen Kampf so zu verlieren.«