Kapitel 6
Amari
Als wir den Kuppelsaal betreten, bin ich schlichtweg überwältigt. Mir fehlen die Worte. Vor so vielen Menschen habe ich noch nie gesprochen.
Ein Kunstwerk schmückt die Wand des Saals. Es zeigt in Tanz und Gesang verschlungene Körper. Durch eine große Öffnung an der Seite schaut man aufs Meer. Das Wasser küsst den Sand zu unseren Füßen.
»Wow!«, murmelt Tzain, der neben mir geht. Durch das große runde Kuppelauge in der Decke fällt Sonnenlicht hinein. Es taucht die Menschenmenge in seine warmen Strahlen und beleuchtet ein von Roëns Männern in der Mitte des Kuppelsaals errichtetes hölzernes Podest.
Als ich darauf zuschreite, teilt sich die Menge. So wie früher vor Vater.
Stoß zu, Amari! , höre ich seine Stimme.
Dann steige ich die Stufen zum Podest hinauf. In den Augen meines Vaters war dies nicht meine Bestimmung, und doch kommt es mir fast vor, als hätte er mich auf diesen Tag vorbereitet. Er war derjenige, der mir eingebläut hat, dass ich jeden Gegner aus dem Weg räumen muss, der sich mir entgegenstellt, selbst wenn es jemand ist, den ich liebe.
Kämpfe, Amari!
Ich hole tief Luft und drücke die Schultern durch. Als ich das Schwert in die Brust meines Vaters stieß, gab ich mir ein Versprechen. Jetzt ist der Moment gekommen, da ich es halten muss: Entweder erobere oder verliere ich den Thron.
»Ich bin Amari Olúborí.« Die runden Wände des Versammlungssaals werfen den Satz zurück. »Die Tochter eures gefallenen Königs und die Schwester des verstorbenen Kronprinzen.«
In der Menge macht jemand einen Schritt auf mich zu. Mein Puls schießt hoch; ich wappne mich für einen Angriff. Doch der junge Kosidán will sich nur hinknien. Erstaunt öffne ich den Mund.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass er sich vor mir verneigt.
»Euer Majestät!« Er verbeugt sich so tief, dass seine Stirn den Sand berührt. Das löst eine regelrechte Welle von Kniefällen aus; immer mehr Menschen bezeugen mir ihren Respekt. Ein warmer Schauer läuft über mich hinweg, als ich sehe, dass auch die Landsleute draußen am Strand sich verneigen.
Ihre Respektsbekundung hat etwas Ehrfürchtiges. Ich wünsche mir so sehr, ihrer würdig zu sein.
Als ich aus dem Palast floh, war ich eine eingeschüchterte kleine Prinzessin. Jetzt trennt mich nur noch eine Rede von der Ersteigung des Throns.
»Als ich vor zwei Monden bei einem Essen im Palast saß, brachte mein Vater meine beste Freundin um. Sie hieß Binta, und sie war eine Divîné, deren einziges Verbrechen darin bestand, Magie im Blut zu haben.« Ich räuspere mich, zwinge mich, weiterzusprechen, auch wenn der Schmerz jenes Tages mit jedem Wort wieder stärker wird. »Mein Vater zwang Binta gegen ihren Willen, ihre Gabe wachzurufen. Als sich ihre Kräfte offenbarten, erstach er sie an Ort und Stelle.«
Ungläubiges Murren macht sich breit. Einige haben Tränen in den Augen, andere schütteln den Kopf. Weiter hinten drängelt sich eine Gruppe Maji in den Saal. Auf der anderen Seite tauschen zwei kräftige Soldaten einen Blick.
Der Frieden ist so zerbrechlich wie Glas, doch ich kann nicht länger die Augen vor der Wahrheit verschließen. Die Maji sind viel zu lange zum Schweigen gebracht worden. Wenn nicht ich für sie spreche, wer dann?
»Bis eben mögt ihr Bintas Namen nicht gekannt haben, aber ich weiß, dass es viele Geschichten wie ihre gibt. Zahllose Orïshaner haben Ähnliches erlebt; seit Jahrzehnten werden die Divînés und Maji verfolgt. Seit Generationen ist die Geschichte von Orïsha eine Geschichte der Spaltung. Eine Geschichte von Gewalt und Verfolgung, die ein Ende nehmen muss. Heute.«
Mich überrascht der Klang meiner Stimme; fast kann ich sehen, wie sie durch den Kuppelsaal hallt. Jemand ruft etwas Zustimmendes, andere fallen ein. Jubel erklingt. Ich muss blinzeln.
Ermutigt durch das kleine Zeichen von Gefolgschaft nutze ich die gesamte Länge des Podests aus. Das Orïsha, von dem ich träume, ist zum Greifen nahe.
Dann sehe ich ein Mitglied der Iyika.
Mitten im Raum steht eine Aufständische. Eine dicke Narbe zieht sich über ihr linkes Auge. Anders als die übrigen Maji im Kuppelsaal versteckt sie ihren Wust weißer Locken nicht. Sie fallen ihr auf die hellbraunen Schultern. An ihren Händen klebt rote Farbe, dieselbe Farbe wie auf der Außenmauer des Kuppelsaals. Die junge Frau steht reglos da, doch ihr verächtlich verzogenes Gesicht sagt mir alles, was ich wissen muss.
Sie will nicht, dass ich den Thron besteige.
Unter meinem Helm beginne ich zu schwitzen. Mein Blick schweift über die Menge, sucht weitere Aufständische. Ich taste nach meiner Haarsträhne, um mich zu vergewissern, dass sie nicht zu sehen ist, doch dann halte ich inne.
Diese Frau versteckt sich nicht vor mir. Sie verbirgt nicht, wer sie ist. Warum sollte ich es dann tun?
Stoß zu, Amari!
Mit steifen Fingern greife ich nach dem Helm. Ich bin auf alles gefasst, was ich auslösen mag. Öffentlich zu machen, dass ich eine Tîtánin geworden bin, könnte alles andere als klug sein. Doch wenn ich mich weiterhin bedeckt halte und verstecke, bin ich nicht besser als Inan.
Sei mutig, Amari!
Ich hole noch einmal tief Luft. Dann fällt der Helm zu Boden, die weiße Strähne springt hervor.
»Sie gehört zu ihnen!«
»Die Königin ist eine Tîtánin!«
Entsetzen macht sich breit. Eine Handvoll Maji drängt nach vorn. Als Soldaten ihnen den Weg versperren, kommt Unruhe auf.
Roëns Söldner bilden einen Kreis um die Bühne. Mir versagt die Stimme, dann fällt mein Blick auf das getrocknete Blut auf meinem Brustpanzer, und ich denke daran, wie viel Kraft ich nun besitze. Ich bin die Einzige, die Orïsha einen kann. Ich bin die Königin, die all diese Menschen schützen kann.
»Ich wollte die Wahrheit geheim halten«, rufe ich. »Ich hatte Angst vor dem, was ich geworden bin. Aber die Rückkehr der Magie und die Geburt der Tîtánen sind eindeutige Beweise dafür, dass wir nun endlich das Orïsha bekommen, was die Götter für uns vorgesehen haben! Wir sind so voller Hass und Angst, dass wir vergessen haben, was für ein Segen diese Fähigkeiten eigentlich sind. Jahrhundertelang waren unsere Kräfte der Grund für die Zwietracht unter uns, dabei haben die Götter uns die Magie geschenkt, damit das Volk von Orïsha blüht und gedeiht!«
Die Unruhe im Saal legt sich, meine Worte erreichen die Menschen. Der Friede mag zerbrechlich sein, doch solange alle zuhören, habe ich eine Chance.
»Stellt euch vor, wie die Erdsänger das Land bestellen könnten! Wie Wellenhüter den Fischern bei der Arbeit helfen könnten!«, rufe ich. »Erzbrecher könnten in wenigen Tagen neue Städte errichten. Heiler könnten dafür sorgen, dass unsere Lieben nicht mehr an Verletzungen und Krankheiten sterben!«
Ich wende mich an die aufständische Maji mit der Narbe über dem Auge. An den jungen Soldaten mit dem verächtlich verzogenen Mund. Jedem Zweifler male ich aus, was möglich wäre. Ich sehe die Bilder fast so klar wie das Deckengemälde über mir.
»Unter meiner Herrschaft werden wir in einem Land leben, wo auch die Ärmsten Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf haben. In einem Königreich, in dem alle geschützt und akzeptiert werden! Die Spaltung wird der Vergangenheit angehören!« Ich strecke die Hände aus und hebe die Stimme. »Ein neues Orïsha wartet am Horizont!«
Der Jubel ist ohrenbetäubend. Zufrieden vernehme ich die eindringlichen Rufe nach Einigkeit und genieße es, wie der Geräuschpegel im Kuppelsaal steigt.
»Kí èmí olá ó gùn Ayaba!« , ruft jemand, und die Menge wiederholt den Satz.
»Lang lebe die Königin!« , übersetzt Zélie.
Mein Körper fühlt sich so leicht an, dass ich überzeugt bin zu schweben. Der Chor der Menge hallt in mir wider, erweckt Teile von mir zum Leben, von denen ich bis zu diesem Tag nichts geahnt hatte. Ich muss an den magischen Moment in Chândomblé denken, an die Kunst, die Lekan zum Leben erweckte. Jetzt sehe ich auch hier Frieden und Wohlstand. Die Magie ist zum Greifen nah …
»Lügen!«
Eine einzelne Stimme übertönt die Massen. Sie ist so durchdringend, dass die Menge augenblicklich verstummt. Alle Köpfe wenden sich zum Eingang des Kuppelsaals. Metallene Stiefel knirschen durch den Sand. Ich greife zum Heft meines Schwerts.
Ich wechsele einen Blick mit Zélie, sie nickt, kampfbereit. Doch als sich die Menschenmenge teilt und ich sehe, wer mir entgegenkommt, fällt mir die Waffe aus der Hand.
Selbst mit hochgeschlagener Kapuze erkenne ich ihren verstohlenen Gang. Die Härte in ihrem Blut.
»Mutter?«
Ich schlage die Hand auf die Brust. Ein ungläubiges Lachen entflieht meinen Lippen.
Ich gehe auf sie zu, traue meinen Augen nicht. Doch als sie den Kopf hebt, lässt mich der Hass in ihrem bernsteinfarbenen Blick erstarren.